Wer beneidet Abu Mazen ?
Uri Avnery, 15.1.05
Nun ist es
offiziell: „Die erste Demokratie in der arabischen Welt“ oder „die
zweite Demokratie im Nahen Osten“ wurde geboren.
Die
palästinensischen Wahlen haben die Welt beeindruckt. Wenn bis jetzt
– falls überhaupt - in einem arabischen Lande Wahlen durchgeführt
worden waren, gab es nur einen Kandidaten und der erhielt 99,62%
der Stimmen. Hier jedoch waren 7 Kandidaten. Es gab eine aufregende
Wahlkampagne und der Sieger erhielt nur 62%.
Die Wahrheit ist
natürlich, dass die palästinensische Demokratie auch schon vorher
existierte. Schon 1996 hielten die Palästinenser unter Kontrolle
internationaler Beobachter eine Wahl für die Präsidentschaft und das
Parlament. Yasser Arafat, der Führer des palästinensischen
Befreiungskampfes, war nicht der einzige aufgestellte Kandidat; ein
anderer Kandidat bzw. eine Kandidatin war Samiha Khalil, eine
hochgeachtete Frau, die fast 10% Prozent der Stimmen einsammelte.
Aber wegen der dominierenden Persönlichkeit Arafats, der
ungenügenden Trennung zwischen einzelnen Teilen der Regierung und
der schonungslosen israelischen Diffamierung von Arafat, erkannten
viele Leute rund um die Welt die palästinensische Demokratie nicht
an.
Nun hat sich die
Situation verändert. Keiner kann das Beinahe-Wunder, das geschehen
ist, leugnen: der glatte Übergang von der Arafat-Ära zur Ära
seines Nachfolgers und die fairen Wahlen, die unter strenger
internationaler Beobachtung stattfanden. Und am wichtigsten: die
Demokratie wurde nicht von außen, nach Lust und Laune eines
ausländischen Präsidenten übergestülpt – sie war von unten
gewachsen. Und nicht unter normalen Umständen, sondern unter einer
brutalen Okkupation.
Die ganze Welt
erkennt die palästinensische Demokratie an. Allein dies schafft eine
neue politische Situation.
Viel hängt nun von
der Persönlichkeit Abu Mazens ab. Er beginnt seinen Weg im Schatten
seines großen Vorgängers. Diejenigen, die einem Gründungsvater
folgen, haben anfangs immer ein Problem wie die Erben Bismarcks
oder Ben Gurions.
Denken wir nur an
den Mann, der Gamal Abd-al-Nasser, dem Gründer des modernen Ägypten
und dem Idol der ganzen arabischen Welt, folgte. Nachdem Nassar
gestorben war, fragte ich meinen Freund Henry Curiel, was für ein
Mensch dieser fast unbekannte Nachfolger wäre.
Curiel, der die
erste – vor allem jüdische – ägyptische kommunistische Partei
gründete, hatte einen messerscharfen Verstand. Er hatte in Paris
eine Art internationales Zentrum zur Hilfe für
Befreiungsorganisationen in aller Welt geschaffen, während er enge
Kontakte zu seiner Heimat aufrecht hielt. Seine Antwort war kurz und
scharf: „Sadat ist ein Einfaltspinsel.“
Er war mit dieser
Ansicht nicht allein. Die Ägypter erzählten gerne einen Witz über
den dunklen Fleck auf Sadats Stirne: „Bei jedem Treffen des Komitees
der Freien Offiziere (die damals das Land regierten), pflegte
Nasser seine Kollegen zu bitten, ihre Meinung zu äußern. Einer nach
dem anderen stand auf und sprach. Am Ende wollte auch Sadat
aufstehen und seine Meinung sagen. Nasser legte seinen Finger auf
seine Stirne und drückte ihn sanft wieder auf seinen Stuhl und
sagte: „Ach, Anwar, setz dich!“
Doch nachdem er die
Präsidentschaft angenommen hatte, versetzte Sadat die Welt in
Staunen. Er sandte seine Armee über den Suez Kanal und erlangte den
ersten bedeutenden Sieg über die israelische Armee. Sein Besuch in
Jerusalem war ein brillanter Akt - ohne Präzedenzfall in der
Geschichte. Niemals zuvor hatte das Oberhaupt eines Staates die
Hauptstadt seines Feindes besucht, während sich beide noch im
Kriegszustand befanden.
Abu Mazen hat sein
Leben lang im Schatten Arafats gestanden. Er war kein militärischer
Führer wie der hoch verehrte Abu-Jihad, der von Israel umgebracht
worden war . Er hatte nicht das Kommando über die Sicherheitskräfte
wie Abu-Iyad, der von Abu-Nidal umgebracht worden war. Seit 1974 war
er eng mit Arafats historischen Bemühungen verbunden, mit Israel
eine politische Regelung zu treffen. Er war verantwortlich für die
Kontakte mit israelischen Friedenskräften. 1983 traf ich ihn in
Tunis das erste Mal.
Ich werde nicht
überrascht sein, wenn Abu Mazen als Präsident des werdenden
palästinensischen Staates Talente und Eigenschaften entwickeln wird,
die während der Arafat-Ära nie ihren eigenen Ausdruck fanden. Er
könnte der palästinensische Sadat werden.
Natürlich ist Abu
Mazen völlig anders als Sadat. Der ägyptische Führer hatte eine
Begabung für Dramatik (wie Menachem Begin), er liebte große Gesten (
wie Arafat). Abu Mazens Stil ist genau das Gegenteil.
Es gibt noch einen
großen Unterschied. Sadat hatte die absolute Kontrolle über ein
großes Land. Er konnte es sich leisten, andere Ansichten zu
ignorieren. Abu Mazen kann sich eines solchen Luxus’ nicht
erfreuen.
Er bringt aber eine
wertvolle Mitgift in sein Amt mit: seine (guten) Beziehungen zum
Präsidenten der Vereinigten Staaten.
George Bush ist ein
simpler Bursche. Einige Leute liebt er, andere hasst er – und dies
entscheidet die Politik der größten Weltmacht. Er liebt Ariel
Sharon und ist ihm fast hörig. Da er niemals in einer Schlacht
gewesen ist, bewundert er den schlachtenreichen israelischen
General. Sharon personifiziert für ihn den amerikanischen Mythos –
die Ausrottung der Indianer und die Eroberung des Landes. Arafat
andrerseits erinnerte ihn an einen Indianerhäuptling, dessen Sprache
unverständlich und dessen Tricks für ihn teuflisch waren.
Als Bush Abu Mazen
in Aqaba sah, eine respektable Person im Anzug eines Geschäftsmannes
- ohne Bart und Keffiye - schätzte er ihn auf Anhieb. Deshalb
gratulierte er ihm in dieser Woche und lud ihn ins Weiße Haus ein.
Die Frage ist nun, ob Abu-Mazen seine Haltung schnell in politische
Erfolge ummünzen kann.
Für Sharon stellt
sich die Situation als schwieriges Dilemma dar. Seine natürliche
Neigung wäre die, Abu-Mazen gegenüber dasselbe zu tun, was er Arafat
gegenüber mit Erfolg tat: ihn zu dämonisieren und seine Verbindung
nach Amerika zu kappen. Schon murmelt er über Abu-Mazens
Unwilligkeit, die „Terrororganisationen“ zu zerstören.
Aber Sharon weiß,
dass er sich äußerst vorsichtig verhalten muss, um Bush ja nicht zu
verärgern. Solange wie Bush Abu-Mazen OK findet, sollte Sharon
nicht als derjenige angesehen werden, der ihn zugrunde richtet.
Dies gibt Abu-Mazen auch eine Chance.
Was kann er also
tun?
Seine erste Aufgabe
wäre es, mit den Organisationen, die Abkommen mit Israel ablehnen,
einig zu werden. Kein Führer kann nationale Politik treiben,
solange bewaffnete Fraktionen in entgegengesetzter Richtung
schießen. Ben Gurion war vor der Staatsgründung in ähnlicher
Situation, als er sich der Irgun und der Sterngruppe gegenüber sah,
die unabhängig handelten. Einmal versuchte er, sie in die vereinigte
„Hebräische Aufstandsbewegung“ einzubinden; ein anderes Mal übergab
er ihre Kämpfer der britischen Polizei.
Man sollte sich
aber auch daran erinnern, dass Ben Gurion die entscheidende
Auseinandersetzung erst nach der Gründung des Staates Israel
begann: er ließ das Irgunschiff Altalena versenken. Die beiden
Organisationen wurden dann in die neue israelische Armee
integriert.
Jeder, der sagt,
dass Abu-Mazen bereit oder in der Lage sei, einen Bürgerkrieg gegen
die Hamas zu beginnen, weiß nicht, wovon er spricht. Die
palästinensische Öffentlichkeit würde es nicht dulden. Die meisten
Palästinenser sind davon überzeugt, Sharon hätte ohne den
palästinensischen bewaffneten Kampf nicht vom Rückzug aus dem
Gazastreifen gesprochen. Sie sind zu einer Waffenruhe bereit, um
Abu-Mazen eine Chance zu geben. Aber sie wollen nicht die
Liquidierung der kämpfenden Organisationen, weil es notwendig sein
könnte, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen, wenn Abu Mazen die
Amerikaner und die Israelis nicht davon überzeugen kann, die
Palästinenser in die Lage zu versetzen, ihre nationalen Ziele zu
verwirklichen.
Bei den
Auseinandersetzungen mit Hamas bevorzugt Abu-Mazen – genau wie
Arafat – eine Kombination von Verhandlungen, politischem Druck und
der Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Er wird die bewaffneten
Fraktionen davon überzeugen müssen, die nationale Strategie zu
akzeptieren, die von der Führung angenommen wird. Dafür wird er die
Hamas in das politische System, der PLO und dem Parlament, einbinden
müssen.
Der Angriff auf die
Karni-Kreuzung in dieser Woche war eine Demonstration der Stärke
durch die bewaffneten Fraktionen. Es war eine klassische
Guerilla-Aktion, so wie vor kurzem die Zerstörung des Armeepostens
an der „Philadelphi-Achse“ . Die Organisationen wollen beweisen,
dass sie nicht besiegt worden sind, sondern mit der israelischen
Armee viel mehr ein Unentschieden erreicht haben. Wenn es zu einer
Waffenruhe kommt, dann wird es von ihrer Seite aus nicht als
Schwäche angesehen werden - so wie der Yom-Kippurkrieg dem
ägyptisch-israelischen Frieden und der Hisbollahkrieg dem Rückzug
aus dem Libanon vorausgegangen war.
Falls Abu Mazen
eine Waffenruhe erreicht, wird er sich seiner Hauptaufgabe widmen
können: Israel und die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen und
die Politik der Vereinigten Staaten zu ändern.
Sadat gelang
beides. Aber Sadat hatte es mit Menachem Begin zu tun, der bereit
war, das ägyptische Territorium aufzugeben, um den Kampf gegen die
Palästinenser fortzuführen und die Schaffung eines palästinensischen
Staates zu verhindern. Auch Sharon ist gegen die Schaffung eines
palästinensischen Staates auf der ganzen Westbank und im
Gazastreifen mit seiner Hauptstadt Ost-Jerusalem. Aber Abu-Mazen
kann und will – wie Arafat – nicht mit weniger als diesem jetzt
geheiligten Ziel zufrieden sein.
Da gibt es noch
einen anderen großen Unterschied zwischen Sadat und Abu-Mazen: Sadat
kam nach Jerusalem erst, nachdem ihm im Geheimen zugesichert
worden war, dass Begin bereit war, den ganzen Sinai zurückzugeben.
Sharon dagegen hat Abu-Mazen gar nichts versprochen.
Abu Mazen wurde
heute in sein Amt vereidigt. Viele hoffen, dass er Erfolg haben wird
– nur wenige beneiden ihn.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |