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Hochmut kommt
vor dem Fall
Uri Avnery, 18.9.10
IN DER Hauptdurchgangsstraße unter
meinem Fenster war absolute Stille. Nicht ein einziges Fahrzeug fuhr
dort.
Wir waren mit einem unserer Freunde in
ein Gespräch vertieft, als etwas Unglaubliches geschah.
Die Alarmsirenen fingen zu heulen an
Innerhalb von Minuten begannen Autos
wie wahnsinnig durch die Straße zu rasen, Männer in
Reserveuniformen und mit Rucksäcken verließen in Eile die Häuser
Das Radio, das an diesem Tag
gewöhnlich still ist, erwachte plötzlich zum Leben.
Ein Krieg war ausgebrochen. Die Ägypter
und die Syrer hatten angefangen, Israel anzugreifen.
Das geschah an Yom Kippur - dem bei
weitem höchsten Feiertag im Judentum – (nach dem hebräischen
Kalender) heute vor 37 Jahren..
SEIT DEM erinnern wir uns an Yom Kippur
an diesen schicksalhaften Tag . Es ist unmöglich, nicht daran zu
denken. Es war ein Wendepunkt in unserm Leben und in der Geschichte
Israels, ein prägendes Ereignis für den ganzen semitischen Raum.
Heute, wie seitdem an jedem Yom Kippur,
regt die Stille auf den Straßen an, daran zu denken. Als Zeuge habe
ich das Bedürfnis, darüber Zeugnis abzulegen,
Wie hat sich der Krieg auf uns
ausgewirkt ?
Das erste, was über ihn gesagt werden
muss, ist, dass es ein überflüssiger Krieg war.
Das ist natürlich nichts
Außergewöhnliches. Abgesehen von ein paar Ausnahmen, wie der 2.
Weltkrieg (und vielleicht unser Krieg 1948), war jeder Krieg
„überflüssig“. Der 1. Weltkrieg, diese Orgie von Tod und Zerstörung,
war vollkommen überflüssig. Bis heute versuchen Historiker, einen
logischen Grund für seinen Ausbruch zu finden. Die Motive aller
beteiligten Parteien erschienen durch die Folgen geringfügig.
Nun, vor dem Yom Kippur-Krieg war der
Präsident Ägyptens Anwar Sadat bereit, mit Israel Frieden zu
schließen. Vertrauenswürdige Vermittler versuchten, dies der
israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir klar zu machen. Sie
ignorierte die Information mit Geringschätzung.
Mein juristischer Berater Amnon
Sichroni, der mich begleitete, was so schockiert wie ich. Ich bin
sicher, dass ich nicht der einzige war, der solche Informationen
übermittelte.
Vor dem plötzlichen Tod von Gamal Abdel
Nasser, Sadats Vorgänger, erreichte Israel die glaubwürdige
Information, dass Ägypten bereit sei, Frieden zu schließen, wenn es
das ägyptische Gebiet, das 1967 erobert wurde, zurück bekommen
würde. Ich selbst brachte solch eine Botschaft zu Pinhas Sapir,
nachdem Abd-el-Nasser meinem Freund, dem französischen Journalisten
Eric Rouleau, seine Gedanken bei einem vertraulichen Gespräch
verraten hatte. Rouleau erlaubte mir, die Information der
israelischen Regierung geheim zu übermitteln. Sapir, zu jener Zeit
der wichtigste Minister und der wirkliche Chef der Laborpartei,
behandelte die Information mit Verachtung.
Einige Monate vor dem Krieg traf ich mich mit einigen Ägyptern, die
ihrer Regierung nahe standen. Nach diesen Gesprächen hielt ich in
der Knesset eine Rede und warnte: „Wenn wir nicht sofort eine
Friedensinitiative beginnen , die den Suezkanal und den Sinai an die
Ägypter zurückgibt, dann werden sie angreifen, auch wenn es keine
Chance gibt, den Krieg zu gewinnen“ . Die Knesset nahm dies nicht
ernst.
Nach dem Krieg klagte ich Golda Meir
öffentlich des Mordes an 2700 jungen Israelis und unzähligen jungen
Ägyptern und Syrern an. Golda Meir, eine Person mit einem
erschreckend engen Horizont, zuckte mit den Schultern und lebte bis
ans Ende ihrer Tage mit einem guten Gewissen.
IN DEN ersten Stunden des Krieges
setzten die Ägypter die Welt in Erstaunen, als es ihnen gelang, den
Suez-Kanal – ein außerordentliches Wasserhindernis - zu überqueren
und die Bar-Lev-Linie, der Stolz der israelischen Armee, zu
durchbrechen.
Es war einer der größten
Überraschungssiege in der Kriegsgeschichte. Trotz des
Größenunterschiedes vergleichen manche dies mit der Operation
Barbarossa (dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion) und der
Bombardierung von Pearl Harbour (dem japanischen Angriff auf die
USA).
Wie war solch eine Überraschung
möglich? Schließlich musste die ägyptische Armee ihre militärischen
Kräfte konzentrieren und bei den Ausgangspositionen ankommen, ohne
entdeckt zu werden. Das Gebiet zwischen Kairo und dem Kanal ist
vollkommen kahl.
Nach dem Krieg lud mich Dado zu sich
nach Hause ein, um einen Blick auf die Akten zu werfen. Dado –
Generalstabschef David Elazar – wurde seines Amtes in der Armee am
Morgen des Krieges enthoben auf Grund seiner Verantwortung für die
„Unterlassung“ ( die Entscheidung, die Reservesoldaten am Vorabend
des Krieges nicht zu mobilisieren und die Panzer nicht in Bewegung
zu setzen). Ich war ein befreundeter Magazinredakteur, und Dado
wollte mich von seiner Unschuld überzeugen. Die Akten zeigten, dass
die Armee alle notwendigen Informationen – und bei weitem mehr –
auch über die ägyptischen Vorbereitungen für den Angriff hatte.
Zum Beispiel: eine abgefangene Order
des Armeemufti (muslimischer Geistlicher) der einer Brigade
befiehlt, das Ramadanfasten zu unterbrechen, obwohl es eines der
wichtigsten muslimischen Gebote ist, und zu einer bestimmten Stunde
mit dem Essen zu beginnen.
- eine abgefangene Botschaft eines
ägyptischen Funkers an seinen Bruder – auch ein Funker - in einer
anderen Einheit; sie schließt ein muslimisches Gebet vor dem nahen
Tod ein.
- Die gefunkte Botschaft einer
Küstenstation an Unterseeboote im Meer, dass zu einem bestimmten
Zeitpunkt alle Radio/Funkverbindungen unterbrochen werden sollten.
Und so weiter. Eine ungeheure Menge von
Nachrichten. Nach Dado erreichte nichts davon ihn ,den Stabschef.
Der Chef der Armeenachrichtenabteilung Eli Zeira unterdrückte sie
alle.
Warum? Zeira, eine Person mit starkem
Selbstbewusstsein, war Gefangener eines „Konzeptes“: dass die
Ägypter niemals ohne die Lufthoheit angreifen würden. Aber dies
würde das Ausmaß der „Unterlassung“ nicht erklären. Auch
nicht der raffinierte ägyptische Versuch der Täuschung. Der Grund
liegt viel tiefer: die Verachtung für die Araber.
DIESE VERACHTUNG ist einer der Flüche
des Staates, und er begleitet uns (jüdische) Israelis bis auf diesen
Tag.
Er bestand nicht im 1948er Krieg, dem
längsten und härtesten aller unserer Kriege. Wie ich mich gut
erinnere, respektierten die Soldaten jener Zeit den Feind. Wir, die
Kämpfer an der südlichen Front, hatten großen Respekt vor der
ägyptischen Armee (einer ihrer jüngeren Kommandeure war Gamal Abd
el-Nasser) und die Kämpfer der Mittleren Front respektierten die
jordanische „Arabische Legion“. Die syrischen und irakischen
Kämpfer wurden ebenfalls hoch geachtet.
Der Respekt verschwand im 1956er-Krieg
und aus falschen Gründen. Die ägyptischen Soldaten versuchten
schnell wegzukommen, als unsere Armee den Sinai überfiel; dabei
ließen einige von ihnen ihre Stiefel zurück; aber das hatte einen
einfachen Grund: Sie erhielten Befehle, sich eilends zu retten, da
die Briten und die Franzosen hinter ihnen landeten und drohten, den
ganzen Sinai in eine Todesfalle zu verwandeln. Zu jener Zeit waren
es die Ägypter, die von dem französisch-israelisch-britischen
Komplott überrascht wurden.
Aber die Verachtung erreichte ihren
Höhepunkt im 1967er-Krieg. Nach drei Wochen wachsender
existentieller Ängste sahen die Israelis wie ihre Armee die
vereinigten Militärkräfte Ägyptens, Jordanien und Syriens, verstärkt
von Kontingenten anderer arabischer Länder, innerhalb von sechs
Tagen zerschlagen. Es sah wie ein Wunder aus. Doch für jene, die
nicht glaubten, gab es keine göttliche Intervention: es gab kein
Wunder. Das israelische Militär, besonders die Luftwaffe, hatte den
Krieg so sorgfältig im voraus geplant, und der beste Generalstab,
den unsere Armee je hatte, führte den Plan aus.
Der Sieg war eine historische
Katastrophe. Er war zu groß, zu massiv, zu phantastisch. Israel
geriet in eine Euphorie, die sechs Jahre dauerte. Für jeden war
klar, dass die Araber nicht kämpfen können, dass die israelische
Armee die beste der Welt war, dass sie unbesiegbar ist. Ariel
Sharon erklärte zu jener Zeit, dass die Armee Tripolis in Libyen
innerhalb von sechs Tagen erreichen könne.
Was an Yom Kippur 1973 geschah, war die
direkte Folge jenes Sieges. Die abgrundtiefe Verachtung der Araber
ließ die „Konzepzia“ werden. (wie wir im Hebräischen für
„Konzept“ sagen ) Die Konzepzia verursachte die
Unterlassung – zwei Wörter, die zu Symbolen des Krieges wurden.
Die Verachtung schuf den Glauben, dass die Ägypter es nicht wagen
würden, die Bar-Lev-Linie anzugreifen, eine Reihe von befestigten
Positionen, die an Yom Kippur nur mit wenigen Soldaten, noch dazu
mit zweitklassigen Einheiten besetzt waren. Zwei Generäle waren
gegen den Bau der Bar-Lev-Linie: der Panzergeneral Israel Tal, der
in dieser Woche starb, und der Infanterie-General Ariel Sharon, der
sich noch immer im Koma befindet. Talik und Arik schlugen vor,
hinter der Kampflinie mobile Kräfte bereit zu stellen, um jeden
ägyptischen Angriff durch einen massiven Gegenangriff zu brechen.
DER KRIEG begann mit einem
hervorragenden ägyptischen (und syrischen) Erfolg und endete mit
einem israelischen militärischen Sieg. Die israelische Armee war
noch nicht durch die Besatzung korrumpiert (eine andere
katastrophale Folge des Sieges 1967 und die meisten Kommandeure
waren von einer Qualität, die man heute nur mir Neid betrachten
kann. Aber politisch endete der Krieg in einem Unentschieden.
Talik, der bei den Gesprächen über die
Waffenruhe bei Kilometer 101 teilnahm, sagte später zu mir, dass
der ägyptische Kommandeur Abd al-Ghani Gamasi anbot, sofort mit
direkten Friedensverhandlungen zu beginnen; Talik eilte zu Golda
Meir, aber sie verbot ihm, sich hier weiter zu engagieren. Sie
hatte Henry Kissinger versprochen, dass alle Verhandlungen über die
USA gehen werden. Der Frieden mit Ägypten würde weitere vier Jahre
hinausgeschoben, bis Sadat seine historische Initiative hinter dem
Rücken der Amerikaner startete.
Der Krieg brachte den Ägyptern ihre
Selbstachtung zurück. Ich besuchte das Ramadankrieg-Museum (wie die
Ägypter den Krieg nennen). Man hatte sich große Mühe gegeben, die
Kanalüberquerung mit Ton- und Lichteffekten lebendig zu machen.
Hunderte von Ägyptern, die bei jeder Vorstellung – mehrmals am Tag -
sich dort einfinden, sind voller Stolz.
Der Stolz machte es für Sadat
einfacher, auf seine historische Mission zu gehen. Als ich in Kairo
landete - einige Tage nach seinem Kommen nach Jerusalem - war die
Stadt mit Postern vollgeklebt: „Anwar Sadat, Held des Krieges, Held
des Friedens!“
Unmittelbar nach dem Krieg begann
Yasser Arafat seine lange Suche nach Frieden, die 20 Jahre später
zum Oslo-Abkommen führte. Er erzählte mir einmal, wie er zu seiner
Entscheidung gekommen sei: als ihm klar wurde, dass der große
Überraschungserfolg der arabischen Armeen zu Beginn des Krieges in
einer militärischen Niederlage endete. Daraus zog er die logische
Schlussfolgerung, dass es keinen Weg gibt, die palästinensischen
Nationalziele durch einen Krieg zu gewinnen, und dass ein
friedliches Abkommen die einzige Lösung sei.
DIESE SCHLUSSFOLGERUNGEN sind heute
genau so richtig wie damals:
Hybris führt in die Katastrophe.
Ein Konzept, das sich auf Verachtung
der Araber gründet, wird zu einer historischen Unterlassung
führen.
Jeder Krieg in unserer Region ist
überflüssig; nach jedem Krieg werden wir – im besten Fall –
erreichen, was wir auch vor dem Krieg hätten bekommen können.
Es gibt keine militärische Lösung,
nicht für die Araber – nicht für uns.
Es gibt viele Helden im Krieg – doch
der wirkliche Ruhm kommt den Helden des Friedens zu.
Jüdische Weisen sagten vor fast 1000
Jahren: „Wer ist ein Held? Derjenige, der seinen Feind zu seinem
Freunde macht.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)
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