Eine sehr
intelligente Person
Uri Avnery, 7.Juli 2018
ENDE 1980 erzählte mir meine
Sekretärin, dass der stellvertretende Stabschef mich sehen möchte.
Das war ziemlich überraschend. Der
Armee-Kommandeur war meiner Zeitung Haolam Hazeh gegenüber nicht
freundlich gesinnt. Dutzende von Jahren wurden wir offiziell von der
Armee boykottiert, nachdem wir eine Geschichte brachten, die der
damalige Stabschef beleidigend empfand.
Ich war also neugierig, als ich den
Raum des Vertreters betrat. Sein Name war Ehud Barak; ich war ihm
nie vorher begegnet.
Unsere Konversation drehte sich
schnell um die europäische Militärgeschichte. Ich war sehr
überrascht. Gewöhnlich sind israelische Militärchefs Techniker und
nicht Theoretiker. Aber da Militärgeschichte zufällig ein Hobby von
mir war, war ich froh, als ich entdeckte, dass Barak ebenso ein
Experte dieses Themas war.
Während wir uns glücklich über den
30-Jährigen Krieg unterhielten, wartete ich darauf, dass er auf das
zu sprechen kommt, weshalb er mich eingeladen hatte. Aber die Zeit
verging und kein anderes Thema tauchte auf. Es gab kein anderes
Problem.
EHUD BARAK war ein
unwahrscheinlicher Soldat. Sein Bruder erzählte mir einmal, wie
Ehud ein Kommando-Soldat wurde: er war als Junge klein und dick;
sein Bruder musste deshalb alle Beziehungen spielen lassen, damit er
von der Eliteeinheit akzeptiert wurde.
Die Resultate waren phänomenal.
Barak war ein wagemutiger Kommando-Soldat. Er empfing mehrere
Auszeichnungen für persönliche Tapferkeit, kommandierte kühne
Heldentaten im Feindesland, erreichte schnell die höheren Ränge und
hatte am Ende fast jeden Senior-Kommando-Posten, einschließlich dem
des Chefs des Nachrichtendienstes bis er Stabschef wurde (Chef
Kommandeur der bewaffneten Kräfte)
Danach war es in Israel auch für ihn
üblich, in die Politik zu gehen. 1999 nachdem er in die Labor-Partei
eingetreten und ihr Chef geworden war, gewann er die nationalen
Wahlen gegen Benjamin Netanjahu.
Welche Freude! Als die Ergebnisse im
Radio verkündigt wurden, gab es einen gewaltigen spontanen Ausbruch.
Von Begeisterung erfüllte Volksmassen strömten auf den Hauptplatz
von Tel Aviv zusammen – auf den Platz, auf dem Rabin vier Jahre
vorher ermordet worden war. Ich war dort, als Barak von der Tribüne
verkündigte: „Dies ist die Morgendämmerung eines neuen Tages!“
Die Freude war berechtigt. Jahre
zuvor hatte Barak Gideon Levy gesagt, dass wenn er ein junger
Palästinenser gewesen wäre, dann hätte er sich einer terroristischen
Organisation angeschlossen. Hier war ein neuer Geist.
Aber da lief etwas falsch. Präsident
Bill Clinton rief zu einer Friedenskonferenz nach Camp David. Dort
sollten die drei – Clinton, Arafat und Barak - ein historisches
Friedensabkommen schließen.
Es geschah nicht. Statt die
Gesellschaft von Arafat zu suchen und die Probleme unter sich zu
lösen, blieb Barak in seiner Kabine eingeschlossen. Als er beim
Mittagessen zwischen Arafat und der jungen Tochter des Präsidenten
saß, widmete er sich ausschließlich ihr.
Es stimmt, in Camp David bot Barak
Friedensangebote, die über jene gingen, die frühere
Ministerpräsidenten anboten, doch waren sie geringer als das
Minimum, das Palästinenser annehmen konnten. Die Konferenz brach
ohne Ergebnisse ab.
Ein wirklicher Staatsmann würde etwa
folgendes erklärt haben: „Wir hatten eine fruchtbare Diskussion. Es
würde ein Wunder gewesen sein, falls wir nach einem hundert Jahre
langen Konflikt beim ersten Versuch ein Abkommen erreicht hätten.
Es wird noch mehrere Konferenzen geben, bis wir ein Abkommen
erreichen.“
Stattdessen machte Barak eine
unglaubliche Verkündigung:„Ich habe Konzessionen angekündigt, die
weiter gingen als die, die Israel je vorher angeboten hatte. Die
Palästinenser haben alles zurückgewiesen. Sie wollen uns ins Meer
werfen. Es gibt keine Chance für Frieden.“
Dies kam aus dem Mund des „Führers
des Friedenslagers“; es verwandelte einen Misserfolg in eine
Katastrophe. Das israelische Friedenslager brach zusammen. Es hat
sich seitdem nicht wieder erholt. Nach Barak kam Ariel Sharon, dann
Ehud Olmert, dem Benjamin Netanjahu folgte – scheinbar für immer.
WENN EIN gewöhnlicher Israeli in
diesen Tagen gefragt wird:„Wer denkst du, könnte Bibi ersetzen?“
dann ist es fast eine automatische Antwort: „Keiner“. Der Wähler
sieht keinen möglichen Nachfolger, weder im Likud noch in den
Oppositionsparteien.
Die Mitglieder des gegenwärtigen
Kabinetts – die männlichen wie weiblichen – sind Zwerge. Kleine
Politiker, die gut genug sind, Skandale zu schaffen und die
öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber nicht viel mehr.
Falls es jemals talentierte Führer im Likud gegeben hätte, sie wären
längst von Netanjahu beseitigt worden.
Die Hälfte der Israelis glaubt, dass
„Bibi“ ein ausgezeichneter Führer sei. Und tatsächlich sieht er gut
aus und ist ein kluger Politiker, ein Hexenmeister von guten
Beziehungen. Er macht im Ausland einen guten Eindruck und managt
die täglichen Angelegenheiten auf passable Weise.
Die genaueste Beurteilung v on Bibi
wurde von seinem eigenen Vater erstellt, dem Geschichtsprofessor. Er
sagte: Bibi kann ein ausgezeichneter Außenminister sein. Aber er
kann auf keinen Fall Ministerpräsident sein.
Nichts könnte wahrer sein. Netanjahu
hat alle Qualifikationen eines Außenministers, aber er hat keine
notwendige Qualifikation für einen Ministerpräsidenten. Er hat keine
Visionen. Keine Antworten auf Israels historische Probleme. Keinen
Wunsch, Israels viele interne Teilungen zu überwinden. Viele
Israelis können ihn nicht ausstehen.
Wer also kann ihn – wenn auch nur in
der Theorie - ersetzen?
DAS POLITISCHE Feld sieht wie eine
menschliche Wüste aus. Politiker erscheinen und verschwinden. Die
Labor-Partei (mit ihren verschiedenen Namen) wechselt ihre Führer
regelmäßig wie Kleidung. Der glamuröse neue Junge, Yair Lapid, der
Schöpfer und einzige Chef von der „Es gibt eine Zukunft“-Partei,
verliert schnell ihren Glanz.
Wenn jemand mit leiser Stimme fragt:
„Was ist mit … Ehud Barak?“ bleibt es still. Es gibt keine leichte
Antwort.
Seitdem er das öffentliche Leben
verlassen hat, ist Barak sehr reich geworden. Seine
Hauptbeschäftigung scheint, ausländische Regierungen zu beraten. Er
lebt im luxuriösesten Gebäude im Zentrum von Tel Aviv. Er hat keine
politische Partei. Vielleicht wartet er auf Den Ruf.
Als Persönlichkeit – das ist kein
Zweifel – ragt Barak heraus. Er ist viel besser qualifiziert als
jeder andere israelische Politiker. Falls kein neuer junger Führer
aus dem Nirgendwo auftaucht, dann ist Barak die einzige Person, die
Netanjahu ersetzen könnte.
Doch fühlt man in der Luft eine
offensichtliche Zögerung. Er hat keine Anhängerschaft. Man bewundert
ihn, aber liebt ihn nicht. Er weckt kein Vertrauen, wie Rabin es
tat. Er hat eine offene Verachtung für Leute, die weniger talentiert
sind als er, und das ist schlecht für einen Politiker.
Und dann gibt es noch seine
Vorgeschichte mit vergangenen Misserfolgen.
In Goethes Faust, die herausragende
Arbeit eines deutschen Dichters, führt sich Mephisto, der Teufel
selbst, so ein: „die Kraft, die immer das Böse will und immer das
Gute schafft.“ Ähnlich ist es bei Barak: er ist ein Engel, der immer
das Gute wünscht und immer das Schlechte schafft.
Da ist natürlich Camp David. Da war
sein Hass gegenüber Yasser Arafat, dem einzigen Palästinenser, der
mit Israel hätte Frieden machen können.
Allein seine Überlegenheit
verursacht ein Problem. Sie verursacht Verdacht.
Eines von Israels bösartigsten
Problemen ist das tiefsitzende Gefühl von Immigranten aus den
östlichen Ländern, die diskriminiert worden sind. (Das zweite
Problem ist die Beziehung zwischen den Orthodoxen und den
Atheisten).
Als er Ministerpräsident war, tat
Barak etwas Einzigartiges: im Namen der Regierung bat er die aus dem
Osten um Verzeihung für die Diskriminierung, die sie erlitten
hatten. Irgendwie kam dies nicht an. Keiner erinnert sich an diese
Geste. Für die aus dem Osten sieht Barak aus wie der typische
eingebildete Aschkenasi.
Bibi Netanyahu wird im Gegensatz zu
ihm von den meisten Östlichen verehrt, obgleich er ein Aschkenasi
ist und so aussieht
Warum? Gott weiß es.
KOMMEN DIE nächsten Wahlen, würde
ich dann Barak wählen?
Die Gelegenheit würde sich nur dann
ergeben, wenn Barak sich entscheidet, die Herausforderung anzunehmen
und es ihm gelingt, die Oppositionsparteien, die einander hassen,
hinter sich zu vereinigen. Das würde an sich schon eine
Herkulesarbeit sein.
Falls dies geschieht, würde ich
empfehlen, für ihn zu stimmen. Um ehrlich zu sein, würde ich für
jeden stimmen, der ernsthaft Bibi herausfordert. Ich glaube, dass
Bibi Israel in einen Abgrund führt – ein ewiger Krieg gegen die
Palästinenser, in einen Krieg, den niemand gewinnen kann.
WÜRDE ICH für Barak stimmen – trotz
seiner Vorgeschichte? Intelligente Leute können aus Erfahrung lernen
(auch wenn dies nur wenige tun).
Ehud Barak ist eine sehr
intelligente Person.
(dt. Ellen
Rohlfs)