Ein Putsch gegen den Krieg
Uri
Avnery, 5. Mai 2012
GENERÄLE UND
Geheimpolizeichefs tun sich zusammen, um die Politiker anzugreifen.
In einigen
Ländern verhaften sie den Präsidenten, besetzen die Regierungsbüros,
Fernsehstationen und annullieren die Verfassung. Sie veröffentlichen
dann das Kommunique Nr.1 und erklären die dringende Notwendigkeit,
die Nation vorm Verderben zu retten und versprechen Demokratie,
Wahlen etc.
In andern
Ländern machen sie es im Geheimen. Sie informieren nur die gewählten
Führer, dass, falls sie nicht Abstand von ihrer verheerenden
Politik nähmen, die Offiziere ihre Ansichten öffentlich machen und
ihre Absetzung veranlassen.
Solche Offiziere
werden gewöhnlich eine „Junta“ genannt. Ein spanisches Wort für
Komitee, das von südamerikanischen Generälen benützt wurde. Ihre
Methode wird gewöhnlich ein „Putsch“ genannt, ein
deutsch-schweizerisches Wort für einen plötzlichen Schlag. ( Ja, die
Schweiz hatte tatsächlich vor etwa 170 Jahren Revolten) .
Was fast alle
diese Schläge gemeinsam haben, ist, dass ihre Anstifter auf einer
Demagogie des Krieges gedeihen. Die Politiker werden unweigerlich
des Defätismus’ angeklagt, des Versagens, die nationale Ehre zu
verteidigen, und anderes mehr.
Nicht in Israel.
In unserm Lande sehen wir jetzt eine Art verbalen Aufstand gegen
gewählte Politiker durch eine große Gruppe jetziger und früherer
Armeegeneräle, Chefs der Geheimdienste. Alle verurteilen die Drohung
der Regierung, einen Krieg gegen den Iran zu beginnen, und einige
von ihnen verurteilen das Versäumnis der Regierung, mit den
Palästinensern Friedensverhandlungen zu führen.
Nur in Israel.
ES BEGANN mit
dem unwahrscheinlichsten Kandidaten für solch eine Rebellion: mit
Ex-Mossadchef Meir Dagan.
Acht Jahre lang,
länger als die meisten seiner Vorgänger, hat Dagan den Mossad,
Israels ausländischen Nachrichtendienst geführt, vergleichbar mit
dem britischen MI6. („Mossad“ bedeutet „Institut“. Der offizielle
Name ist „ Das Institut für Nachrichtendienst und
Sonderoperationen“.)
Keiner warf
Dagan je Pazifismus vor. Während seiner Dienstzeit führte der
Mossad viele Anschläge durch, mehrere gegen iranische
Wissenschaftler als auch Internetangriffe. Als Protégé von Ariel
Scharon wurde er als Anhänger der aggressivsten Politik angesehen.
Und jetzt,
nachdem er in den Ruhestand getreten ist, spricht er mit schärfsten
Ausdrücken gegen die Pläne der Regierung: einen Angriff auf Irans
nukleare Einrichtungen. Mit deutlichen Worten sagte er: „Dies ist
die dümmste Idee, die ich je in meinem Leben gehört habe.“
Diese Woche hat
ihn der kürzlich in den Ruhestand getretene Chef des Shin Bet noch
in den Schatten gestellt ( Shin Bet und Shabak sind verschiedene
Möglichkeiten, die Initialen des offiziell hebräischen Namens
„General-Sicherheitsdienst auszusprechen.) Er ist ein Äquivalent zum
britischen M15, befasst sich aber vor allem mit den Palästinensern
in Israel und den besetzten Gebieten.
Sechs Jahre lang
war Yuval Diskin der schweigende Chef des schweigenden Dienstes.
Sein geschorener Kopf konnte beim Betreten und Verlassen der
Treffen des Sicherheits-kommittees gesehen werden. Er wird als der
Vater der „gezielten Tötungen“ angesehen, und sein Geheimdienst ist
weithin wegen beträchtlichem Foltergebrauchs angeklagt worden.
Keiner hat ihn je dafür angeklagt, dass er mit den Arabern sanft
umgehe.
Und nun hat er
seine Meinung gesagt. Er wählte einen sehr ungewöhnlichen
Treffpunkt – einen Stammtisch mit etwa zwei Dutzend Pensionären in
einem Cafe einer Kleinstadt.
Nach Diskin –
und wer würde es besser wissen? - wird Israel jetzt von zwei
inkompetenten Politikern mit messianischen Illusionen und wenig
Verständnis für die Realität geführt. Ihr Plan, den Iran
anzugreifen, führt zu einer weltweiten Katastrophe. Nicht nur wird
es misslingen, die Produktion einer iranischen Atombombe zu
verhindern, eher das Gegenteil: der Iran wird mit seinen Bemühungen
schneller vorangehen und dieses Mal mit der Unterstützung der
Weltgemeinschaft.
Er geht noch
weiter als Dagan; er erklärte, der einzige Faktor, der die
Friedensverhandlungen mit den Palästinensern verhindere, sei
Netanjahu selbst. Israel kann mit Mahmoud Abbas Frieden machen. Er
verpasst diese historische Gelegenheit und bringt damit eine
Katastrophe über Israel.
Als Chef des
Shin Bet war Diskin die Nummer eins der offiziellen
Regierungsexperten die Palästinenser betreffend. Seine Agentur
empfing und sammelte alle Beweise, Spionageberichte,
Verhörergebnisse und Informationen, die von Lauschgeräten gesammelt
werden.
Um keine Zweifel
an seiner Aussage zuzulassen, erklärte Diskin, er kenne Netanjahu
und Barak aus der Nähe, vertraue ihnen nicht und denke, dass sie
nicht geeignet seien, eine Nation während einer Krise zu führen. Er
sagte auch, dass sie das Volk bewusst täuschen würden. Er vergaß
auch nicht, zu erwähnen, dass sie in äußerstem Luxus lebten.
Jeder, der
dachte, diese Ankläger wären einsame Stimmen und der ganze Chor
vergangener und jetziger Sicherheitschefs würde sich erheben und
sie einstimmig verurteilen, wurde enttäuscht. Einer nach dem anderen
dieser Experten wurde von den Medien zitiert, dass sie mit den
beiden im Wesentlichen übereinstimmten, wenn auch nicht mit ihrem
Stil. Kein einziger hinterfragte ihre Behauptungen oder leugnete,
was sie sagten.
Der
augenblickliche Stabschef und die Chefs von Mossad und Shin Bet
machten bekannt, dass sie die Ansichten der beiden über den Iran
teilten. Fast alle ihre Vorgänger, einschließlich aller
Militärstabschefs aus der letzten Zeit, sagten den Medien, auch sie
stimmten mit ihnen überein. Plötzlich gab es eine gemeinsame Front
von erfahrenen Sicherheitsführern gegen einen Krieg mit dem Iran.
DER GEGENANGRIFF
ließ nicht auf sich warten. Die ganze Batterie von Politikern und
Medienschreiberlingen wurde aktiv.
Sie taten das,
was Israelis meistens tun: wenn sie ernsthaften Problemen oder
ernsthaften Argumenten gegenüberstehen, befassen sie sich nicht mit
der Sache selbst, sondern picken einige nebensächliche Details
heraus und diskutieren endlos über sie.
So gut wie
keiner versuchte, die Behauptungen der Offiziere zu widerlegen,
weder in Bezug auf den vorgeschlagenen Angriff auf den Iran noch in
Bezug auf das Palästinenserproblem. Sie konzentrierten sich auf die
Sprecher, nicht auf das, was sie gesagt hatten.
Beide, Dagan
und Diskin, seien verbittert, weil ihre Dienstzeit nicht verlängert
worden sei. Sie fühlen sich gedemütigt, reagieren ihren persönlichen
Frust ab und sprechen aus reiner Boshaftigkeit und Rachsucht, wurde
behauptet.
Wenn sie dem
Ministerpräsidenten nicht trauten, warum standen sie nicht auf und
kündigten, während sie im Amt waren? Warum sprachen sie nicht
vorher? Wenn dies eine Sache über Leben und Tod ist, warum warteten
sie?
Als andere
Möglichkeit: Warum haben sie nicht weitergeschwiegen? Wo ist ihr
Gefühl für Verantwortung? Warum helfen sie dem Feind? Warum
sprechen sie nicht hinter verschlossenen Türen?
Es wurde
hinzugefügt, Diskin habe keine Ahnung vom Iran. Dieser sei nicht in
seinem Verantwortungsbereich gelegen. Dagan wisse zwar über den Iran
Bescheid, aber nur begrenzt. Nur Netanjahu und Barak würden alle
Fakten und das ganze Spektrum von Möglichkeiten und Risiken kennen.
Quellen mit
großer „Nähe zum Büro des Ministerpräsidenten“ hatten noch eine
andere Erklärung: Dagan und Diskin als auch ihre Vorgänger seien
schlicht dumm gewesen. Dagans und Diskins Behauptung, Netanjahu und
Barak seien nicht rational ( und vielleicht psychisch nicht ganz
ausgeglichen) zusammen genommen mit der Behauptung, die
Sicherheitschefs seien dumm, bedeutet, dass unsere nationale
Sicherheit ganz von einer Gruppe irrationaler und/oder törichter
Führer abhänge – und da soll seit Jahren der Fall sein.
Ein
erschreckender Gedanke: was, wenn alles, was sie über einander
sagen, stimmt?
DER MANN, von
seinen Sicherheitsberatern angeklagt, behauptet, er habe
messianische Tendenzen, wurde diese Woche von einem persönlichen
Schicksalsschlag getroffen.
Sein Vater
Ben-Zion Netanjahu starb im Alter von 102 Jahren. Er hatte bis zum
Lebensende einen klaren Kopf. Beim öffentlichen Begräbnis hielt
Benjamin die Abschiedrede. Wie erwartet werden konnte, war es eine
kitschige Rede. Der Sohn sprach über seinen toten Vater in der 2.
Person –( „Du lehrtest mich“… „Du formtest meinen Charakter“ etc. )
– eine vulgäre Praxis, die ich besonders geschmacklos finde.
Zweifellos hatte
der Vater einen sehr großen Einfluss auf seinen Sohn. Er war
Historiker, dessen ganzes intellektuelles Leben auf ein Thema
konzentriert war: die spanische Inquisition – ein traumatisches
Kapitel der jüdischen Geschichte, vergleichbar mit dem Holocaust.
Ben-Zion
Netanjahu war ein extremer Rechter, von der Idee besessen, die Juden
könnten jeden Moment ausgelöscht werden, und deshalb könne man
keinem Nicht-Juden trauen . Er verachtete Menahem Begin und
betrachtete ihn als einen gutmütigen Troddel; er schloss sich nie
seiner Partei an. Seine intellektuelle Einstellung war durch ein
persönliches Trauma bestärkt: sein ältester Sohn Joni, Kommandeur
der spektakulären Rettungsaktion in Entebbe, war der einzige Soldat,
der bei dieser Operation fiel.
Es scheint, dass
er von seinem zweiten Sohn keine so hohe Meinung hatte. Er bemerkte
einmal öffentlich, dass Benjamin als Ministerpräsident ungeeignet
sei, aber ein guter Außenminister sein könne – ein unheimlich
genaues Urteil, wenn man den Job des Außenministers als Marketing
sieht.
Das Heim, in dem
„Bibi“ aufwuchs, war kein sehr glückliches. Der Vater war eine sehr
verbitterte Person. Als Historiker war er nie von der akademischen
Welt in Jerusalem akzeptiert worden , die seine Theorien ablehnte (
Besonders was die Maranen betraf: die Maranen waren Juden, die
lieber zum Christentum übergetreten waren, als Spanien zu verlassen)
Netanjahu behauptete, dass die Inquisition die Maranen nicht
verfolgte, weil sie im Geheimen ihre jüdische Religion ausübten,
sondern aus reinem Antisemitismus. Dies war ein Angriff auf einen
der wichtigsten jüdischen Mythen: dass diese Juden ihrem Glauben
treu geblieben seien und dafür ihr Leben auf dem Scheiterhaufen
geopfert hätten.) Nachdem er keinen Lehrstuhl in Jerusalem erhielt,
wanderte der Vater in die USA aus, wo Benjamin aufwuchs und den
Namen Benjamin Gitai annahm. Der Vater vergab dem israelischen
Establishment nie.
Der Mythos des
großen Historikers, der an seiner großen Aufgabe saß, war eine
tägliche Realität zu Hause in Amerika und später in Jerusalem. Die
drei Söhne mussten zu Hause auf Zehenspitzen gehen und durften
keinen Lärm machen, der den großen Mann stören könnte; sie durften
auch keine Freunde mit nach Hause bringen.
All dies formte
den Charakter und das Weltbild von „Bibi“ – das Gespenst drohender
nationaler Vernichtung, das Vorbild des leidenschaftlich
rechtsgerichteten Vaters und den Schatten des älteren vom Vater viel
mehr bewunderten Bruders. Wenn Benjamin jetzt endlos über den
kommenden zweiten Holocaust spricht und seine historische Aufgabe,
ihn zu verhindern, sei, so ist dies nicht nur ein Trick, um die
Aufmerksamkeit vom Palästinenserproblem abzulenken oder um sein
politisches Überleben zu sichern. Er dürfte – eine erschreckender
Gedanke – tatsächlich daran glauben.
Das Bild, das
auftaucht, ist genau dasselbe, wie es Yuval Diskin malte: ein vom
Holocaust besessener Phantast ohne Kontakt zur Realität, keinem
Nicht-Juden trauend, versucht er in die Fußstapfen eines
starrköpfigen, extremistischen Vaters zu treten – insgesamt eine
gefährliche Person, um eine Nation durch eine wirkliche Krise zu
führen.
Doch dies ist
der Mann, der nach den Meinungsumfragen dabei ist, in vier Monaten
die nächsten Wahlen zu gewinnen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)