Sich erinnern woran und wie?
Uri Avnery, 19.3.05
Es war eine
eindrucksvolle Feier: der UN-Generalsekretär, Präsidenten,
Ministerpräsidenten und wichtige Persönlichkeiten aus 40 Ländern
versammelten sich in Jerusalem, um das neue Holocaustmuseum von
Yad Vashem einzuweihen – nur wenige Monate, nachdem die
Mächtigen der Erde sich versammelt hatten, um der Befreiung von
Auschwitz zu gedenken.
Von den - wie
üblich - wohl gewählten Worten Joschka Fischers, des deutschen
Außenministers, bis zum - wie üblich – gequälten Gesicht von
Elie Wiesel, dem Holocaustspezialisten, war es eine passende
Gedenkfeier für das historische Verbrechen.
Aber es war
auch ein großer Sieg der israelischen Diplomatie. Die Chefs
unseres Außenministeriums rühmten sich offen dieser politischen
Leistung. Die ausländischen Gäste trafen sich mit den
israelischen Führern und gewährten so indirekt, aber klar
Unterstützung für Sharons Politik.
Insgesamt
unterstrich dies die Mehrdeutigkeit des Holocaustgedenkens zu
diesem Zeitpunkt.
Als einer der
führenden Nazis im Nürnberger Gefängnis zum ersten Mal die
volle Dimension des Holocaust erfuhr, rief er aus: „Noch in
tausend Jahren wird dies nicht vergessen sein!“ Und er hatte
Recht. Der Holocaust war tatsächlich ein einzigartiges
Verbrechen in der Geschichte der Menschheit.
Für Ausländer
ist es schwierig zu verstehen, dass für uns, die Israelis, die
Shoah nicht nur eine Sache der Vergangenheit ist. Sie ist ein
Teil der Gegenwart. Ein Beispiel: zum Zeitpunkt der
Museumseröffnung flog ich aus Europa zurück nach Israel. Im
Flugzeug begann ich ein Gespräch mit einem israelischen
Professor, den ich vorher nicht gekannt hatte. Er erzählte mir
aus den verschiedenen Perioden seines Lebens. Ich merkte, dass
er über einige Jahre seiner Kindheit schnell hinwegging. Als ich
ihn fragte, erzählte er mir, er sei in Theresienstadt gewesen.
Er ging nicht in Details; also fragte ich ihn auch nicht, was
mit seiner Familie geschehen war.
Aus dem KZ
Theresienstadt wurden die meisten Gefangenen in die Todeslager
geschickt. Meine Tante beging dort Selbstmord. Ihr Mann wurde
nach Auschwitz gesandt und wir hörten nie wieder etwas von ihm.
Ich erinnere mich noch an diesen Onkel, der meinen Vater
auslachte, als er 1933 entschied, aus Deutschland zu fliehen.
„Was kann uns hier geschehen?“ fragte er, „Deutschland ist doch
ein Kulturland!“
Die
Auswirkungen des Holocaust sind nicht auf die Generation der
Überlebenden beschränkt. Eine junge Schriftstellerin erzählte
mir einmal, dass ihre beiden Eltern in den Todeslagern gewesen
waren. „Ich wusste es nicht,“ sagte sie, „niemals sprachen sie
davon. Aber als ich ein Kind war, spürte ich, dass es in unserer
Familie ein schreckliches Geheimnis gab und dass es verboten
war, danach zu fragen. Das erfüllte meine ganze Kindheit mit
Grauen. Ich fühle mich sogar heute noch ängstlich und unsicher.“
Wir hören fast
täglich Geschichten, die mit der Shoah verbunden sind. Man kann
dem nicht entfliehen. Man sollte es auch gar nicht versuchen.
Wir fühlen alle, wenn man den Holocaust vergisst, dann ist das
ein Art Verrat an den Opfern.
Die Frage ist
nur: WIE soll man gedenken? WORAN soll man sich erinnern?
Nach dem 2.
Weltkrieg wurde die Shoa zum Mittelpunkt des jüdischen
Bewusstseins. Der Philosoph Yeshayahu Leibowitz war ein
praktizierender orthodoxer Jude. Er sagte einmal zu mir: „Die
jüdische Religion ist vor 200 Jahren gestorben. Es gibt jetzt
nichts, was die Juden rund um die Welt verbindet - außer dem
Holocaust.“ Das ist natürlich, weil jeder Jude weiß, dass,
wenn er in die Hände der Nazis gefallen wäre, sein Leben
wahrscheinlich in der Gaskammer geendet hätte. Wir im Palästina
der damaligen Zeit waren dem recht nahe, als das Afrika-Corps
unter Erwin Rommel sich den Toren des Landes näherte.
Es war keine
geheime Sitzung der „Weisen von Zion“ nötig, um den Holocaust in
ein Hauptinstrument des Kampfes für die Schaffung des Staates
Israel zu wandeln. Es war selbstverständlich. Die Zionisten
behaupteten von Anfang an, dass es in der modernen Welt keine
Existenzmöglichkeit für Juden geben kann außer in einem eigenen
Staat. Die Shoah verlieh diesem Argument eine unwiderstehliche
Kraft.
Sie verursachte
in den Juden im Staat Israel, der im Krieg (1948) geschaffen
wurde und der sich selbst verteidigte, ein dringendes Verlangen
nach totaler Sicherheit – und so wurden wir eine Militärmacht.
Es ist unmöglich, das Positive und das Negative in Israel zu
verstehen, ohne die Auswirkungen der Shoah auf unser nationales
und persönliches Bewusstsein zu berücksichtigen. Niemand
anderes als der verstorbene palästinensische Intellektuelle
Edward Said war es, der dies auch seinen Landsleuten sagte.
Die Zentralität
des Holocaust im jüdischen Bewusstsein veranlasste die Juden,
darauf zu bestehen, die absolute Exklusivität über ihn zu
beanspruchen. Wir sind geschockt und wütend, wenn uns jemand
daran zu erinnern verursacht, dass die Nazis auch andere
Gemeinschaften ausgelöscht haben, wie die Roma, die
Homosexuellen, die Geistigbehinderten. Wir werden sehr
ärgerlich, wenn jemand daherkommt und „unsern“ Holocaust mit
anderen Völkermorden vergleicht, mit dem an Armeniern,
Kambodschanern, Tutsis in Ruanda und anderen. Wirklich! Wie kann
man das vergleichen?
Der Holocaust
war tatsächlich in vieler Hinsicht einzigartig. Nichts ist
vergleichbar mit der organisierten Auslöschung eines ganzen
Volkes mit Hilfe industrieller Mittel und der Beteiligung aller
Organe eines modernen Staates. Es kann sein, dass Stalin nicht
weniger, ja vielleicht sogar mehr Menschen als Hitler gemordet
hat. Aber diese Opfer waren aus allen Völkern und Schichten der
Bevölkerung der UDSSR und geschah nicht innerhalb eines
Prozesses von industrialisierter Vernichtung.
Das Konzept der
Ausschließlichkeit des Holocaust kann aber zu verachtenswerten
Perversionen führen. Viele unter uns behaupten, dass es für uns
keine moralischen Beschränkungen gibt, weil - „nachdem, was man
uns getan hat“ - keiner das Recht hat, uns zu sagen, was für
uns erlaubt oder nicht erlaubt ist. „Nach der Shoah“ haben wir
nur eine Pflicht, alles zu tun, um jüdisches Leben zu retten,
auch durch schändliche Mittel.
Uns ist es
erlaubt, das Gedenken an den Holocaust als Instrument für
unsere Außenpolitik zu verwenden, da Israel „der Staat der
Überlebenden“ ist. Uns ist es erlaubt, alle Kritik an unserem
Verhalten abzuwürgen; denn es ist doch selbstverständlich, dass
alle Kritiker Antisemiten sind. Uns ist es erlaubt, jedes
unbedeutende Ereignis wie das Malen eines Hakenkreuzes auf einen
jüdischen Grabstein aufzublähen, um zu beweisen, dass in der
Welt der „Antisemitismus wächst“ und wir beizeiten die
Alarmglocken läuten müssen.
Ich möchte
behaupten, jetzt, 60 Jahre nach dem Ende des Holocaust ist es an
der Zeit, dass wir all dies hinter uns lassen.
Die Zeit ist
gekommen, das Gedenken des Holocaust von einem exklusiv
jüdischen zu einer weltweiten menschlichen Angelegenheit zu
machen.
Das Trauern,
die Angst und die Scham müssen in eine universale Botschaft
gegen alle Formen des Völkermords gewandelt werden.
Der Kampf gegen
Antisemitismus muss ein Teil des weltweiten Kampfes gegen alle
Arten von Rassismus, gegen Muslime in Europa, gegen Schwarze in
Amerika, gegen Kurden in der Türkei oder Palästinenser in Israel
oder gegen Fremdarbeiter überall sein.
Die lange
Geschichte der Juden als Opfer mörderischer Verfolgung, sollte
uns nicht dahin bringen, uns in einen Kult des Selbstmitleids
einzuhüllen, sondern im Gegenteil, uns dazu zu ermutigen, die
Führung im weltweiten Kampf gegen Rassismus, Vorurteile und
Stereotypen zu übernehmen, die mit Hetze von gemeinen Demagogen
beginnen und beim Völkermord enden kann.
Solch ein Volk
würde dann wahrlich, „ein Licht unter den Völkern“ sein.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |