Kapitän Boykott
reitet wieder
Uri Avnery, 22.2.14
ES IST immer
ein geheimes Ziel von mir gewesen, einen Bagatz zu haben,
der meinen Namen trägt.
Bagatz ist
das hebräische Acronym „Oberster Gerichtshof“, die
israelische Entsprechung für ein Verfassungsgericht. Es
spielt eine sehr wichtige Rolle im israelisch öffentlichen
Leben.
Indem ich
eine umwälzende Entscheidung des „Obersten Gerichtshofes“
habe, die nach mir benannt ist, wird mir eine Art
Unsterblichkeit verliehen. Lange nach meinem Hinscheiden
werden Anwälte meinen Fall zitieren und ihn weiter
diskutieren.
Man denke nur
an Roe gegen Wade, zum Beispiel. Wann immer in den US über
Abtreibung die Rede ist, wird über Roe gegen Wade(1973)
debattiert, obwohl sich nur wenige an Jane Roe und Henry
Wade erinnern, wer sie tatsächlich waren.
Nun gibt es
„Uri Avnery und andere“ gegen die Knesset und den Staat
Israel, der in dieser Woche vor den israelischen Obersten
Gerichtshof kamen. Es ging um das Anti-Boykott-Gesetz, das
von der Knesset erlassen wurde.
Ein paar
Stunden, nachdem das Gesetz verabschiedet worden war,
reichten Gush Shalom und ich persönlich unser
Antragsformular ein, um dieses annullieren zu lassen. Wir
hatten unsere rechtlichen Argumente schon im Voraus
vorbereitet. Darum trägt es meinen Namen. Die Antragsteller,
die respektlos „die anderen“ genannt wurden, sind ein
Dutzend Menschenrechtsorganisationen, jüdische wie
arabische, die sich uns anschlossen.
Nach diesem
Ego-Trip lasst uns zur Hauptsache kommen
DIE
GERICHTSSITZUNG war ziemlich ungewöhnlich. Anstelle der
üblichen drei Richter, die sich normalerweise mit solchen
Antragsformularen befassen, waren es diesmal neun Richter –
fast die ganze Mannschaft des Gerichtes saß am Tisch. Fast
ein Dutzend Anwälte stritten für beide Seiten. Unter ihnen
war auch unsere eigene Anwältin Gabi Lasky , der den Fall
für die Antragsteller eröffnete.
Die Richter
waren keine passiven Zuhörer, die wie üblich gegen
Langeweile ankämpfen. Alle neun Richter intervenierten
ständig, stellten Fragen, unterbrachen mit provozierenden
Bemerkungen. Offensichtlich waren sie sehr daran
interessiert.
Das Gesetz
erklärt Boykotts als solche nicht für ungesetzlich. Der
ursprüngliche Hauptmann Charles Boykott wäre nicht darein
verwickelt gewesen.
Boykott war
ein Agent eines abwesenden Grundbesitzers in Irland, der
seine Pächter vertrieb, die nicht in der Lage waren, ihre
Pacht während der irischen Hungersnot von 1880 zu zahlen..
Statt mit Gewalt gegen ihn vorzugehen, riefen irische Führer
ihre Leute auf, ihn zu ächten. Er wurde „boykottiert“ –
keiner sprach mit ihm, arbeitete für ihn, trieb Handel mit
ihm oder lieferte ihm sogar seine Post aus. Pro-britische
Freiwillige wurden geholt, um für ihn zu arbeiten; geschützt
wurden sie von tausend britischen Soldaten. Aber bald
breitete sich das „Boykottieren“ aus und kam so in die
englische - und andere – Sprachen.
Jetzt
bedeutet Boykott natürlich eine Menge mehr, als eine
einzelne Person zu ächten. Es ist ein Hauptmittel des
Protestes, der beabsichtigt, das Objekt moralisch und
wirtschaftlich zu verletzen, etwa wie ein von Arbeitern in
der Industrie angezettelter Streik.
In Israel
gibt es eine Anzahl von Boykotts, die die ganze Zeit weiter
gehen. Die Rabbiner rufen fromme Juden auf, Läden zu
boykottieren, die nicht koschere Lebensmittel verkaufen,
oder Hotels, die heiße Mahlzeiten am heiligen Sabbat
servieren. Konsumenten, die sich über zu hohe Kosten von
Lebensmitteln aufregten, boykottierten Hüttenkäse. Es war
der Akt, der zu dem Massensozialprotest im Sommer 2011
führte. Keiner hat sich darüber entrüstet.
Bis er die
Siedlungen erreichte.
1997 ERKLÄRTE
Gush Shalom, die Bewegung, zu der ich gehöre, den ersten
Boykott gegen die Siedlungen. Wir riefen die Israelis auf,
keine Waren zu kaufen, die von Siedlern in den besetzten
palästinensischen Gebieten produziert werden.
Es
verursachte keinen Aufruhr. Als wir zu einer Pressekonferenz
aufriefen, kam kein einziger israelischer Journalist –
etwas, das ich nie vorher und danach erlebte.
Um die Aktion
zu erleichten, veröffentlichten wir eine Liste mit den
Unternehmen, die in den Siedlungen sitzen. Zu unserer großen
Überraschung fragten Zehntausende von Konsumenten nach der
Liste. So kam der Ball ins Rollen.
Wir riefen
nicht zu einem Boykott von Israel auf. Im Gegenteil. Unser
Hauptziel war, den Unterschied zwischen dem eigentlichen
Israel und den Siedlungen zu betonen. Auf einem unserer
Stickers steht: „Ich kaufe nur Produkte aus Israel – nicht
die Produkte der Siedlungen!“
Während die
Regierung alles Mögliche tat, um die Grüne Linie (die
ehemaligeGrenze) verschwinden zu lassen, war es unser Ziel,
sie wieder ins Gedächtnis der israelischen Öffentlichkeit zu
bringen.
Es war auch
unser Ziel, die Siedlungen wirtschaftlich zu schädigen. Die
Regierung arbeitete ganztags, um Leute in die Siedlungen zu
locken, indem sie private Villen für junge Paare anboten,
die sich keine Wohnung im eigentlichen Israel leisten
können, sowie lokale und ausländische Investoren für
riesige Subventionen und Steuernachlässe verführte. Der
Boykott beabsichtigte, gegen diesen finanziellen Anreiz zu
handeln.
Wir waren
auch von der reinen Natur eines Boykotts angezogen: Er ist
demokratisch und gewaltlos. Jeder kann ihn im Stillen in
seinem privaten Leben erfüllen, ohne sich selbst andern
gegenüber zu identifizieren.
DIE REGIERUNG
entschied, den Schaden so gering wie möglich zu halten,
indem sie uns ignorierte. Aber als unsere Initiative sich
auch im Ausland ausbreitete, waren sie alarmiert.
Besonders, als die EU sich entschied, die Bestimmungen
ihrer Handelsabkommen mit Israel zu erfüllen. Dies bringt
große Vergünstigungen für Israels Exporte, schließt aber die
Siedlungen aus, die nach dem Internationalen Gesetz
eindeutig illegal sind.
Die Knesset
reagierte wütend und widmete dieser Sache einen ganzen Tag
… (Falls mir ein zweiter Egotrip erlaubt ist: Ich entschied
mich, an dieser Sitzung teilzunehmen. Als früheres Mitglied
wurden mir und Rachel als Ehrengäste Plätze in der Galerie
angeboten. Als uns ein Sprecher des rechten Flügels
bemerkte, wandte er sich um, und nach eklatantem Bruch der
parlamentarischen Etikette, zeigte er auf uns und knurrte: „
dort sitzt ja das königliche Paar der Linken!“)
Auch im
Ausland zielte der Boykott anfangs auf die Siedlungen, aber
unter dem Eindruck die Erfahrung des Anti-Apartheid-Kampfes
verwandelte es sich langsam in einen allgemeinen Boykott
Israels. Ich unterstütze diesen nicht. Meiner Meinung nach
ist es kontraproduktiv, da es die normale Bevölkerung in die
Arme der Siedler treibt, nach dem alten Slogan: „die ganze
Welt ist gegen uns“
Die
wachsenden Dimensionen der verschiedenen Boykotts konnten
nicht länger ignoriert werden. Die israelische Rechte
entschied zu handeln - und sie tat es in sehr kluger
Weise.
Sie nützte
den Aufruf zum Boykott von Israel aus, um den Aufruf zum
Boykott der Siedlungen zu ächten, denn genau dieser Teil
war es, der sie wirklich bestürzte. Das ist das Wesen des
Gesetzes. das vor zwei Jahren verabschiedet wurde.
DAS GESETZ
straft keine individuellen Boykottierenden. Es bestraft
jeden, der öffentlich zu einem Boykott aufruft.
Und was für
eine Strafe!. Keine Gefängnisstrafe, die uns zu Märtyrern
gemacht hätte. Das Gesetz sagt, dass jedes Individuum, das
meint, es sei durch den Boykott geschädigt worden, den
Boykottaufrufer wegen unbegrenztem Schadens verklagen kann,
ohne den Schaden beweisen zu müssen. So könnten dies
Hunderte von anderen tun Auf diese Weise könnten die
Initiatoren eines Boykotts verurteilt werden, Millionen von
Schekel zu zahlen.
Nicht jeder
Boykott. Schweinefleisch oder Hüttenkäse sind nicht
gemeint. Nur Boykotts, die sich gegen Institute richten,
oder Leute, die mit dem Staat Israel verbunden sind- hier
kommen die drei schicksalshaften hebräischen Wörter ins
Spiel: „ein von Israel regiertes Gebiet“
Klar, das
ganze rechtliche Gebäude wurde nur wegen dieser drei Worte
gebaut. Das Gesetz schützt nicht Israel. Es schützt die
Siedlungen. Das ist der einzige Zweck.
Dutzende von
Fragen, die sich vor allem um diesen Punkt drehten,
prasselten auf unsere Anwälte nieder.
Würden wir
mit dem Streichen dieser drei Worte zufrieden sein? (Gute
Frage. Natürlich würden wir damit zufrieden sein. Aber wir
konnten dies nicht so sagen, weil unser Hauptargument war,
dass das Gesetz die Redefreiheit einschränkt. Das gilt für
das ganze Gesetz).
Wären wir
gegen ein Gesetz, das gegen den arabischen Boykott gerichtet
wäre, der gegen Israel während ihrer frühen Jahre
durchgeführt wurde? (Die Umstände waren völlig andere).
Sind wir
gegen Redefreiheit der Rabbiner, gegen ein Gesetz, das das
Vermieten von Wohnungen an arabische Bürger verbietet? (Das
ist kein Boykott, sondern krasse Diskriminierung).
Nach
stundenlanger Debatte vertagte das Gericht die nächste
Sitzung . Das Urteil wird zu irgendeinem unbestimmten
Zeitpunkt gegeben. Wahrscheinlich wird es eine Mehrheit und
mehrere-Entscheidungen von Minderheiten geben.
Wird das
Gericht es wagen, ein Gesetz der Knesset zu streichen? Das
würde wirklichen Mut verlangen. Ich wäre nicht überrascht,
wenn die Mehrheit sich entscheiden wird, das Gesetz so zu
lassen, wie es ist, aber die Worte streichen, die die
Siedlungen betreffen.
Sonst würde
es ein weiterer Schritt sein, Israel in einen Siedler-Staat
zu verwandeln – ein Staat der Siedlerdurch die Siedler und
für die Siedler.
Dafür gibt es
Beispiele in der Geschichte. Der hoch angesehene britische
Historiker Arnold Toynbee – einer meiner Favoriten – stellte
einmal eine Liste von Ländern zusammen, die von den
Bewohnern ihrer Grenzregion übernommen wurden, die in der
Regel härter und fanatischer sind als die verwöhnten
Bewohner des Zentrums. Zum Beispiel die Preußen, damals die
Bewohner einer fernen Grenzregion, übernahmen die Hälfte
von Deutschland und dann den Rest. Savoyen, ein Grenzland,
schuf das moderne Italien.
WAS AUCH
immer da herauskommen mag: die Entscheidung im Falle „ Uri
Avnery und andere gegen die Knesset und den Staat Israel“
wird wohl noch lange zitiert werden.
Wenigsten
eine gewisse Befriedigung.
(Aus dem
Englischen; Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)