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Der gestohlene Krieg
Uri Avnery, 7. Januar 2012
GIBT ES keine Grenze für die Niederträchtigkeit
der Hamas ? Anscheinend nicht.
In dieser Woche tat sie etwas nahezu
Unverzeihliches.
Sie stahl einen Krieg.
SEIT EINIGEN Wochen hat unser fast neuer
Generalstabschef Benny Gantz bei fast jeder möglichen Gelegenheit
verkündet, ein neuer Krieg gegen den Gazastreifen sei
unvermeidbar. Mehrere Kommandeure der Truppen rund um den
Gazastreifen haben diese schlimme Voraussage wiederholt wie auch
ihre Anhänger, die sogenannten Militär-kommentatoren.
Einer von diesen tröstet uns. Es stimmt, Hamas
kann jetzt mit ihren Raketen auch Tel Aviv erreichen, aber das wird
nicht so schrecklich sein, weil es ein kurzer Krieg sein wird. Nur
drei oder vier Tage. Wie einer der Generäle sagte, wird er nur
„härter und schmerzlicher“ (für die Araber) werden, als die
Operation Geschmolzenes Blei I.( 2008/09). So wird er keine drei
Wochen dauern wie diese. Wir werden alle in unsern Luftschutzkellern
bleiben – auf jeden Fall diejenigen von uns, die einen haben. Auf
jeden Fall nur ein paar Tage.
Warum ist der Krieg unvermeidlich? Wegen des
Terrorismus’ – eine dumme Frage. Hamas ist doch eine terroristische
Organisation – nicht wahr?
Aber jetzt kommt der oberste Hamasführer Khaled
Mash’al und erklärt, die Hamas habe jede gewalttätige Aktion
aufgegeben. Ab jetzt will man sich auf gewaltlose
Massendemon-strationen konzentrieren, im Geist des arabischen
Frühlings.
Wenn die Hamas dem Terrorismus abschwört, gibt
es für einen Angriff auf den Gazastreifen keinen Vorwand .
Aber ist denn ein Vorwand nötig? Unsere Armee
wird sich doch von dergleichen wie Mash’al nicht einen Strich durch
die Rechnung machen lassen. Wenn die Armee einen Krieg wünscht, wird
sie einen Krieg haben. Dies wurde 1982 bewiesen, als Ariel Sharon
den Libanon angriff, trotz der Tatsache, dass die libanesische
Grenze seit elf Monaten absolut ruhig war. (Nach dem Krieg wurde der
Mythos geboren, ihm wären täglich Schießereien voraus gegangen.
Heute kann sich fast jeder Israeli an die Schießerei „erinnern“ –
ein erstaunliches Beispiel für die Macht der Vorstellung.)
WARUM WILL der Stabschef angreifen?
Ein Zyniker könnte sagen, dass jeder neue
Stabschef einen Krieg benötigt, den er als den seinigen ausgeben
kann. Aber das ist doch kein Zynismus?
Alle paar Tage wird eine einzelne Rakete aus dem
Gazastreifen nach Israel abgeschossen. Sie trifft selten mehr als
ein leeres Feld. Seit Monaten ist niemand verletzt worden.
Die übliche Reihenfolge ist die folgende: unsere
Luftwaffe führt eine „gezielte Tötung“ von palästinensischen
Militanten im Gazastreifen durch. Die Armee behauptet unweigerlich,
dass diese speziellen „Terroristen“ beabsichtigt hätten, Israelis
anzugreifen. Woher kennt die Armee ihre Absichten? Nun, unsere
Armee ist ein Meister im Gedankenlesen.
Nachdem die Personen getötet worden sind, sieht
ihre Organisation es als ihre Pflicht an, ihr Blut zu rächen, indem
sie eine Rakete abfeuert oder eine Granate abschießt oder sogar zwei
oder drei. Dies „kann von der Armee nicht toleriert werden“ – und so
geht es weiter.
Nach jeder solchen Episode beginnt wieder das
Gerede von einem Krieg. Amerikanische Politiker sagen in ihren Reden
auf AIPAC-Konferenzen: „Kein Land kann es tolerieren, dass seine
Bürger Raketen ausgesetzt sind.“
Aber die Gründe für „Cast Lead“II sind natürlich
viel ernster. Hamas wird jetzt von der internationalen Gemeinschaft
akzeptiert. Ihr Ministerpräsident Isma’il Haniyeh reist jetzt durch
die arabische Welt, nachdem er vier Jahre lang im Gazastreifen
eingesperrt war – eine Art Streifenarrest. Nun kann er nach Ägypten,
weil die muslimische Bruderschaft, die Mutterorganisation der Hamas,
dort ein Hauptakteur geworden ist.
Um noch schlimmer: die Hamas ist dabei, sich der
PLO anzuschließen und an der palästinensischen Regierung teil zu
nehmen. Es ist höchste Zeit, dass etwas getan wird. Zum Beispiel den
Gazastreifen angreifen und so die Hamas zwingen, wieder ein
Extremist zu werden.
MASH’AL - DAMIT nicht zufrieden, uns einen Krieg
zu stehlen, ist dabei, eine Reihe unheilvollere Aktionen
auszuführen.
Indem er sich der PLO angeschlossen hat,
verpflichtet sich die Hamas, die Oslo-Abkommen und alle anderen
Abmachungen zwischen Israel und der PLO anzuerkennen . Er hat
angekündigt, Hamas akzeptiere einen Palästinastaat innerhalb der
1967er-Grenzen. Er hat wissen lassen, dass die Hamas in diesem Jahr
nicht für die palästinensische Präsidentschaft kämpfen werde, so
dass der Fatahkandidat – wer immer es auch sein mag – ohne
Widerspruch gewählt werden und in der Lage sein könne, mit Israel zu
verhandeln.
All dies wird die gegenwärtige israelische
Regierung in eine schwierige Position bringen.
Mash’al hat einige Erfahrungen, Israel Probleme
zu verursachen. 1997 entschied die erste Netanjahu-Regierung, ihn in
Amman loszuwerden. Ein Team von Mossadagenten wurde gesandt, um ihn
auf der Straße zu ermorden, indem man in sein Ohr ein unbekanntes
Gift spritzte. Doch statt eine dezente Sache zu tun und schnell
durch eine mysteriöse Ursache zu sterben, wie Yasser Arafat, ließ er
seinen Leibwächter hinter den Angreifern herjagen und sie fangen.
König Hussein, Israels langjähriger Freund und
Verbündeter, wurde fuchsteufelswild. Er ließ Netanjahu wählen:
entweder werden die Agenten in Jordanien verurteilt und
möglicherweise gehängt, oder der Mossad sendet sofort das geheime
Gegengift, um Mash’al zu retten. Netanjahu kapitulierte. Und nun
haben wir Mash’al sehr lebendig hier.
Dieses Missgeschick hatte noch ein seltsames
Resultat: der König verlangte, dass der Hamasgründer und Führer, der
gelähmte Sheich Ahmad Yassin, aus dem israelischen Gefängnis
entlassen werde. Netanjahu verpflichtete sich: Yassin wurde
entlassen und sieben Jahre später von Israel ermordet. Als sein
Nachfolger Abd al-Aziz Rantisi bald danach auch ermordet wurde, war
der Weg für Mash’al frei, der Führer der Hamas zu werden.
Und anstatt uns seine Dankbarkeit zu zeigen ,
konfrontiert er uns mit einer verheerenden Herausforderung:
gewaltfreie Aktione, indirekte Friedensannäherungen, die Zwei-
Staaten-Lösung.
EINE FRAGE: warum sehnt sich unser Stabschef
nach einem kleinen Krieg im Gazastreifen, wenn er den Krieg, den er
wünscht, im Iran haben könnte? Nicht nur eine kleine Operation,
sondern einen großen Krieg, einen sehr, sehr großen Krieg.
Nun, er weiß, dass er ihn nicht haben kann.
Vor einiger Zeit tat ich etwas, das nicht einmal
ein erfahrener Kommentator macht. Ich versprach, dass es keinen
israelischen Angriff auf den Iran geben werde ( und eigentlich auch
keinen amerikanischen).
Ein erfahrener Journalist oder Politiker gibt nie
solch ein Versprechen, ohne für sich ein Hintertürchen offen zu
halten. Er setzt noch ein unauffälliges „wenn nicht“ dazwischen.
Wenn seine Voraussage schief geht, dann weist er auf dieses
Hintertürchen.
Ich habe einige Erfahrungen – etwa 60 Jahre lang
– aber ich ließ mir kein Hintertürchen offen. Ich sagte Keinen
Krieg und jetzt sagt General Gantz dasselbe mit anderen
Worten. Kein Teheran, nur das arme kleine Gaza.
Warum? Wegen eines einzigen Wortes: Hormuz.
Nicht wegen des alten persischen Gottes Hormuzd,
sondern wegen der Meeresenge, die der Ein- und Ausgang des
Persischen Golfes ist, durch den 20% des Ölbedarfs der Welt ( und
35% des über das Meer beförderte Öl) transportiert werden. Meine
Behauptung war, dass kein vernünftiger ( oder fast verrückter)
Führer die Sperrung der Meeresenge veranlassen würde, weil die
wirtschaftlichen Konsequenzen katastrophal, ja sogar apokalyptisch
sein würden.
ES SCHEINT, dass die Führer des Iran sich nicht
sicher waren, ob alle Verantwortlichen der Welt diese Kolumne lesen,
also machten sie den Fall selbst klar. In der vergangenen Woche
führten sie ein auffälliges Militärmanöver rund um die Meerenge von
Hormuz durch, begleitet von der eindeutigen Drohgebärde, sie zu
schließen.
Die US antwortete mit prahlerischen
Gegendrohgebärden. Die unbesiegbare US-Flotte war bereit – wenn
nötig - die Meeresenge mit Gewalt zu öffnen.
Wie bitte? Der mächtigste vielfache Milliarden
kostende Flugzeugträger kann leicht durch eine Batterie von billigen
Land-See-Raketen versenkt werden, aber auch von kleinen
Raketenbooten.
Nehmen wir an, der Iran beginnt, seine Drohungen
wahr zu machen. Die ganze Macht der US-Luft- und Seeflotte würde
reagieren. Iranische Schiffe würden versenkt, Raketen- und andere
Militäreinrichtungen würden bombardiert. Aber weitere iranische
Raketen würden abgeschossen und würden die Meerenge unpassierbar
machen.
Was kommt als Nächstes? Es wird keine Alternative
geben, als das Heer einzusetzen. Die US-Armee wird an Land gehen
und das ganze Gebiet besetzen müssen, von dem Raketen wirksam
abgeschossen werden können. Das würde eine große Operation sein.
Mit heftigem iranischem Widerstand muss gerechnet werden, wenn man
von den Erfahrungen des acht Jahre dauernden Irak-Iran-Krieges her
urteilt. Die Ölquellen im benachbarten Saudi-Arabien und der anderen
Golfstaaten werden auch betroffen sein.
Solch ein Krieg geht weit über die Dimensionen
hinaus, die die amerikanische Invasion von Afghanistan oder dem
Irak, vielleicht sogar von Vietnam ausmachte.
Ist die bankrotte USA dazu in der Lage?
Wirtschaftlich, politisch und was die Moral betrifft?
Die Schließung der Meerenge ist die letzte Waffe.
Ich glaube nicht, dass die Iraner sie gegen die Auferlegung von
Sanktionen anwenden werden, so schwerwiegend sie auch sein mögen,
wie sie gedroht haben. Nur ein militärischer Angriff würde solch
eine Antwort rechtfertigen.
Wenn Israel alleine angreift – „die dümmste Idee,
die ich je hörte“ wie unser früherer Mossadchef es ausdrückte –
wird das keinen Unterschied machen. Der Iran wird dies als eine
amerikanische Aktion ansehen und die Meerenge schließen. Deshalb hat
die Obama-Regierung ein Machtwort gesprochen und Netanyahu und Ehud
Barak eine eindeutige Order ausgehändigt, von einer Militäraktion
abzusehen.
An dem Punkt stehen wir jetzt. Kein Krieg im
Iran. Nur die Aussicht auf einen Krieg im Gazastreifen.
Und nun kommt dieser üble Mash’al daher und
versucht, die Chancen für diesen auch noch zu verderben.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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