Verschiedene Planeten
Uri Avnery, 19.7.08
DEN GANZEN Tag verbrachte ich damit, ständig zwischen israelischen
Fernsehkanälen und Al-Jazeera zu schalten .
Es
war eine unheimliche Erfahrung: im Bruchteil einer Sekunde konnte
ich zwischen zwei Welten wechseln, aber alle Kanäle berichteten
genau über dasselbe Ereignis. In einem Abschnitt der bewegenden
Nachrichten ereignete sich das Geschehen im Abstand von ein paar
Dutzend Metern von einander – doch hätte dies genau so gut auf zwei
verschiedenen Planeten sein können.
Niemals erlebte ich den tragischen Konflikt in solch atemberaubender
Unmittelbarkeit wie am vergangenen Mittwoch, am Tag des
Gefangenenaustauschs zwischen dem Staat Israel und der
Hisbollah-Organisation.
DER MANN, der im Zentrum des Geschehens stand, personifiziert den
Abgrund, der die beiden Welten, die israelische und die arabische,
trennt: Samir al-Kuntar.
Alle israelischen Medien nennen ihn „Mörder al-Kuntar“, als ob dies
sein Vorname wäre. Für die arabischen Medien ist er der „Held Samir
al-Kuntar“.
Vor 29 Jahren, bevor die Hisbollah ein bedeutsamer Faktor wurde,
landete er mit seinen Kameraden am Strand von Nahariya und führte
dort einen Angriff aus, der sich wegen seiner Grausamkeit ins
israelische Nationalgedächtnis eingeprägt hat. Im Laufe dieses
Angriffs wurde auch ein vierjähriges Mädchen ermordet, und eine
Mutter erstickte versehentlich ihren Säugling, während sie
versuchte, ihr Versteck nicht aufzugeben. Al-Kuntar war damals 16
Jahre alt – er war weder Palästinenser noch Schiite, sondern ein
libanesischer Druse und Kommunist. Diese Aktion wurde von einer
kleinen palästinensischen Gruppe in Gang gebracht.
Vor vielen Jahren hatte ich mit meinem Freund Al-Sartawi über einen
ähnlichen Vorfall ein Streitgespräch. Al-Sartawi war ein
palästinensischer Held, ein Vorkämpfer für Frieden mit Israel; er
wurde wegen seiner Kontakte mit Israelis ermordet. 1978 landete
eine Gruppe palästinensischer Kämpfer (nach israelischer Sprachweise
„Terroristen“) an der Küste südlich von Haifa, um Israelis für einen
Gefangenenaustausch zu kidnappen. Am Strand begegnete ihnen eine
Photographin, die dort in aller Unschuld spazieren ging. Sie
brachten sie um. Danach brachten sie einen Bus voller Passagiere in
ihre Hände – und am Ende wurden sie getötet.
Ich kannte die Fotografin. Sie war eine zarte junge Frau, eine gute
Seele, die gern Blumen in der Natur fotografierte. Ich machte
Al-Sartawi gegenüber Vorhaltungen wegen dieses abscheulichen Aktes.
Er antwortete mir: „Das verstehst du nicht. Es sind Jugendliche,
fast noch Kinder ohne Erfahrungen, die hinter den Linien eines für
sie schrecklichen Feindes operierten. Sie hatten fürchterliche
Angst. Sie waren nicht in der Lage, mit kühler Logik zu handeln.“
Das war einer der wenigen Fälle, in denen wir nicht übereinstimmten
– obwohl wir beide, jeder innerhalb seines Volkes, am Rande des
Randes des politischen Konsenses lebten.
An
diesem Mittwoch wurde der Unterschied zwischen den beiden Welten in
seiner extremsten Form sichtbar. Am Morgen wachte der „Mörder al-
Kuntar“ in einem israelischen Gefängnis auf, am Abend stand der
„Held al-Kuntar“ vor einer jubelnden libanesischen Menschenmenge,
die zu allen Gruppierungen und Parteien gehörte. Er benötigte nur
ein paar Minuten, um vom israelischen Gebiet zur winzigen UN-Enklave
Ras-en-Naqura ( Rosh-Hanikra) und von dort auf libanesisches Gebiet
zu gelangen, aus dem Bereich des israelischen Fernsehens in das des
libanesischen Fernsehens – und die Entfernung war größer als die,
die Neil Armstrong auf seinem Weg zum Mond zurücklegte.
Nach den endlosen Reden über den „blutbefleckten Mörder“, der
niemals befreit werden würde – egal was geschehe – hat Israel aus
einem einfachen Gefangenen einen pan-arabischen Helden gemacht.
Heutzutage ist es schon eine Banalität, wenn man sagt, der Terrorist
des einen sei der Freiheitskämpfer eines anderen. In dieser Woche
war nur eine kleine Bewegung mit dem Finger auf dem
TV-Bedienungsgerät nötig, um dieses aus erster Hand zu erfahren.
DIE EMOTIONEN gingen auf beiden Seiten hoch.
Die israelische Öffentlichkeit war total eingetaucht ins Meer der
Trauer um beide Soldaten, deren Tod erst wenige Minuten vor der
Übergabe der Särge bestätigt wurde. Stundenlang widmeten sich alle
israelischen Kanäle dem Ausstrahlen der Gefühle der beiden Familien,
die die letzten beiden Jahre von den Medien in nationale Symbole
verwandelt wurden.
Es
muss nicht erwähnt werden, dass keine einzige Stimme in Israel ein
Wort gegenüber den 190 Familien verloren hat, deren Söhne am selben
Tag auch in Särgen in den Libanon zurückkehrten.
In
diesem Wirbel von Selbstmitleid und Trauerzeremonien hat die
israelische Öffentlichkeit keine Kraft und Interesse, den Versuch zu
machen, um zu verstehen, was auf der anderen Seite geschah. Im
Gegenteil: der Empfang, den man dem „Mörder“ gewährte, und die
Siegesrede des „Erzmörders“ vermehrte nur die Flammen der Wut, des
Hasses und der Demütigung.
Aber es hätte sich für Israelis wirklich gelohnt, die Ereignissen
dort zu verfolgen; denn sie werden eine große Auswirkung auf unsere
Situation haben.
ES
WAR natürlich der große Tag Hassan Nasrallahs. In den Augen von
Dutzenden von Millionen Arabern hat er einen riesigen Sieg errungen.
Eine kleine Organisation in einem kleinen Land hat Israel, die
Regionalmacht, auf die Knie gezwungen, während die Herrscher aller
arabischen Länder die Knie vor Israel beugen.
Nasrallah hatte versprochen, Al-Kuntar zurückzubringen. Zu diesem
Zweck ließ er zwei Soldaten fangen. Nach zwei Jahren und einem Krieg
stand der eben befreite Gefangene selbst auf der Tribüne in Beirut,
in eine Hisbollahuniform gekleidet und Nasrallah selbst, seine
eigene Sicherheit aufs Spiel setzend, kam heraus und umarmte ihn vor
allen TV-Kameras und einer jubelnden Menge, die vor Begeisterung
aus dem Häuschen geriet.
Auf diese Demonstration persönlichen Mutes und Selbstvertrauens, so
charakteristisch für das dramatische Talent des Mannes, reagierte
die israelische Armee mit dem dummen Statement: „Wir würden
Nasrallah nicht empfehlen, seinen Bunker zu verlassen.!“
AlJazeera brachte all dies live – Stunde um Stunde – in Millionen
von Häusern von Marokko bis in den Irak und darüber hinaus in die
ganze muslimische Welt. Es war für den arabischen Zuschauer
unmöglich, nicht von den Wellen der Begeisterung mitgerissen zu
werden. Für einen jungen Menschen in Riad, Kairo, Amman und Bagdad
gab es nur eine mögliche Reaktion: hier ist der Mann! Hier ist der
Mann, der die arabische Ehre nach Jahrzehnten von Niederlagen und
Demütigung wieder herstellt. Gemessen an diesem Mann sehen die
Führer der arabischen Welt wie Zwerge aus. Und als Nasrallah
verkündigte: „Von diesem Augenblick an ist die Ära der arabischen
Niederlagen zuende!“ hatte er die Stimmung des Tages eingefangen.
Ich habe den Verdacht, dass es auch eine Reihe Israelis gab, die
nicht sehr schmeichelhafte Vergleiche zwischen diesem Mann und
unseren eigenen Kabinettsministern, den Meistern leerer,
prahlerischer Erklärungen, zogen.Verglichen mit ihnen sieht
Nasrallah verantwortlich, glaubwürdig, logisch und entschieden aus –
ohne Spinnerei und hohle Worte.
Am
Vorabend der riesigen Kundgebung wandte er sich an die
Öffentlichkeit und verbot, in die Luft zu schießen, wie es bei
arabischen Feiern üblich ist. Jeder, der schießt, schießt auf meine
Brust, auf meinen Kopf und meine Robe!“ erklärte er. Nicht ein
einziger Schuss wurde abgefeuert.
FÜR DEN LIBANON war es ein historischer Tag. So etwas hatte sich
bis jetzt nicht ereignet: ausnahmslos machte sich die ganze
politische Elite des Landes zum Beiruter Flughafen auf, um
Al-Kuntar zu empfangen und gleichzeitig Nasrallah zu salutieren.
Einige von ihnen knirschten natürlich mit den Zähnen, aber sie
verstanden sehr wohl, woher der Wind blies.
Sie waren alle da: der Präsident des Libanon, der Ministerpräsident,
alle Mitglieder des neuen Kabinetts, die Vorsitzenden aller
Parteien, Kommunen und Religionen, alle früheren Präsidenten und
Minister. Der Sunnit Saad Hariri, der die Hisbollah angeklagt hatte,
an der Ermordung seines Vaters mit beteiligt gewesen zu sein, der
Druse Walid Jumblat, der die Liquidierung der Hisbollah mehr als
einmal verlangt hatte, und der maronitische Christ Samir Geagea,
der die Verantwortung für das Sabra und Shatila-Massaker trägt,
zusammen mit vielen anderen, die noch gestern Hisbollah mit allen
möglichen Obszönitäten überschütteten.
In
seiner Rede lobte der neue Präsident all jene, die an der Befreiung
von Al-Kuntar teilgenommen hatten und so verlieh er nicht nur der
Hisbollah-Aktion eine nationale Legitimität, die den Libanon in den
Krieg gestürzt hatte, sondern auch der militärischen Funktion der
Hisbollah bei der Verteidigung des Libanon. Da der Präsident bis vor
kurzem der Kommandeur der Armee war, bedeutet dies, dass die
libanesische Armee nun auch die Hisbollah anerkennt.
Am
Mittwoch wurde Nasrallah die bedeutendste und mächtigste Person im
Libanon. Drei Monate nach der Krise, die fast einen Bürgerkrieg
ausgelöst hätte, als Ministerpräsident Fuad Siniora verlangte, dass
die Hisbollah ihr privates Kommunikationsnetz abgebe, wurde der
Libanon ein geeintes Land. Forderungen, wie die Entwaffnung der
Hisbollah, sind zu einem Hirngespinst geworden. Der Libanon ist sich
auch in der Forderung der Befreiung der Sheba-Farmen einig und für
die Auslieferung der Karten über Minenfelder von Seiten Israels und
die Karten der tödlichen Streubomben, die unsere Armee nach dem 2.
Libanonkrieg hinterlassen hat.
Jene, die sich daran erinnern, dass der Libanon ein Fußabtreter für
die Region und die Schiiten ein Fußabtreter für den Libanon waren,
können die immense Veränderung ermessen.
IN
ISRAEL geben einige Leute dem Gefangenenaustausch die Schuld für den
schwindelerregenden Aufstieg von Nasrallah und dem ganzen
national-religiösen Lager in der arabischen Welt. Aber Israels
Verantwortung für diesen Trend begann lange vor Ehud Olmerts
Versuchen, von seinen verschiedenen Korruptionsaffären abzulenken.
All jenen ist die Schuld zu geben, die den dummen und schädlichen 2.
Libanonkrieg unterstützten, der vom ersten Tag an so begeistert
von allen Medien, allen „zionistischen“ Parteien und allen führenden
Literaten bejubelt wurde. Die Leichen der beiden gefangenen
Soldaten hätten durch Verhandlungen vor dem Krieg zurückgeholt
werden können – in etwa derselben Weise wie jetzt. Das war es, was
ich damals schrieb.
Doch kann man die Schuld noch weiter zurückführen, zu Ariel Sharons
1. Libanonkrieg. Auch damals hießen alle Medien, Parteien und
führenden Intellektuellen den Krieg vom ersten Tag an euphorisch
willkommen. Vor diesem verheerenden Krieg waren die Schiiten unsere
guten und ruhigen Nachbarn. Sharon ist für den Aufstieg der
Hisbollah verantwortlich, und die israelische Armee, die Nasrallahs
Vorgänger ermordete, gab Nasrallah die Gelegenheit, das zu werden,
was er jetzt ist.
Man sollte auch Shimon Peres nicht vergessen, der die katastrophale
„Sicherheitszone“ im Südlibanon schuf, statt beizeiten
herauszugehen. Und David Ben-Gurion und Mosche Dayan, die 1955
vorschlugen, im Libanon einen „christlichen Major“ als Diktator
einzusetzen, der dann mit Israel einen Friedensvertrag unterzeichnen
würde.
Die tödliche Mischung von Arroganz und Ignoranz ist typisch für
jeden israelischen Umgang mit der arabischen Welt, also auch mit
dem, was sich am Mittwoch ereignete. Es wäre wunderbar, wenn dies
unsere Verantwortlichen in der Regierung etwas mehr Bescheidenheit
lehren würde, auch Rücksicht auf die Gefühle anderer, sowie die
Fähigkeit, die Karte der Realität zu lesen, statt in einer
Seifenblase von nationalem Autismus zu leben. Aber ich fürchte, dass
genau das Gegenteil geschehen wird: eine Stärkung der Gefühle von
Entrüstung, Beleidigung, Frömmelei und Hass.
Alle israelischen Regierungen tragen Verantwortung für die
national-religiöse Welle in der arabischen Welt, die für Israel viel
gefährlicher ist als der säkulare Nationalismus von Führern wie
Yasser Arafat und Bashar al-Assad.
IN
DIESER Woche geschah noch etwas Bemerkenswertes: mit einem großen
Sprung kam der von den Amerikanern in die Isolation versetzte
syrische Präsident bei einer grandiosen internationalen Show in
Paris zu Ruhm. Die pathetischen Bemühungen von Olmert, Zipi Livni
und einer Kolonne Reportern, Assad oder wenigstens einem Minister,
einem niedrigen Beamten oder einem Leibwächter die Hand zu
schütteln, war reine Komödie.
Noch etwas geschah in dieser Woche: die Nummer drei im
US-Außenministerium traf sich offiziell mit iranischen Abgesandten.
Und es wurde klar, dass die Verhandlungen mit der Hamas über den
nächsten Gefangenenaustausch weiter auf Eis liegen.
Die neue Situation birgt viele Gefahren, aber auch eine Menge
Gelegenheiten in sich. Nasrallahs neuer Status als zentrale Figur
im libanesisch politischen Spiel zwingt ihn zu Verantwortung und
Vorsicht. Ein gestärkter Assad kann ein besserer Partner für Frieden
sein – wenn wir bereit sind, die Gelegenheit wahrzunehmen. Die
amerikanischen Verhandlungen mit dem Iran können einen
zerstörerischen Krieg abwenden, der auch für uns eine Katastrophe
geworden wäre. Die Legitimation der Hamas durch eine wieder belebte
Verhandlung könnte zu palästinensischer Einigkeit führen, wie die
jetzt erreichte Einigkeit im Libanon, und dann würden wir wirklich
jemanden haben, mit dem wir Frieden schließen könnten.
In
zwei Monaten wird Israel wahrscheinlich eine neue Regierung haben.
Wenn sie wollte, könnte sie mit einer neuen Initiative für Frieden
mit Palästina, dem Libanon und Syrien beginnen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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