Wegen eines kleinen Nagels
Uri Avnery,
30.9.05
WÄRE HAMLET ein israelischer Reservist gewesen, würde er
jetzt deklamieren: „Im Staate Israel ist etwas faul.“
Und tatsächlich, da ist etwas faul -
-
Der Präsident des Staates weigert sich,
sein Amt abzugeben, obwohl er sich mit acht
individuellen Anklagen wegen sexueller Belästigung
konfrontiert sieht. Er jammert, eine riesige
Verschwörung sei gegen ihn ausgeheckt worden - und
zeigt auf Netanyahus Leute im Likud.
-
Der Ministerpräsident und der
Verteidigungsminister weigern sich, abzutreten, obwohl
die überwältigende Mehrheit des Volkes gegenüber Ehud
Olmert ( 70%) und Amir Peretz ( 82%) kein Vertrauen mehr
entgegen brachte. Anstelle der Errichtung einer
unabhängigen juristischen Untersuchungskommission
zuzustimmen, setzten sie ein Prüfungskomitee ein, das
das Vertrauen der Öffentlichkeit schon verloren hatte,
bevor es überhaupt begonnen hat, die Ereignisse des
Libanonkrieges zu untersuchen.
-
Der Generalstabschef, der von
pensionierten und dienenden Generälen angegriffen wird,
erklärt, er werde seine Uniform nicht ausziehen, bis sie
ihm jemand vom Leibe reißt.
-
Der Chef des Knessetkomitees für
auswärtige und militärische Angelegenheiten ist wegen
Betrugs und Meineids angeklagt worden.
-
Der Justizminister steht vor Gericht,
weil er seine Zunge in den Mund einer Soldatin gesteckt
habe.
Nach den jüngsten Umfragen ist
die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung glücklich
über ihre persönliche Situation (80%), aber deprimiert
über die Situation des Staates ( 59%).
Was sollte also getan werden?
Sehr einfach – man müsste nur
das System verändern.
DIES IST eine typisch
israelische Reaktion. Vielleicht typisch menschlich.
Wenn eine Krise die Grundlage
unserer Weltanschauung umzuwerfen droht, neigen wir
dazu, das Hauptproblem beiseite zu schieben und uns auf
ein Detail zu konzentrieren. Das entlässt uns aus der
Pflicht, unsere grundlegenden Überzeugungen und die
gewohnte Weltanschauung zu verändern. Wir nehmen
irgendein - möglichst kleines - Detail und weisen ihm
alle Schuld zu. Das ist es! Wir haben es gefunden! Das
ist an allem schuld.
In einem alten Lied heißt es:
„Alles wegen eines kleinen Nagels!“ Wenn also ein
größeres Unglück geschehen ist, dann finden wir den
kleinen Nagel, der es verursacht hat – und wir brauchen
nicht weiter suchen.
Zum Beispiel: der Yom
Kippur-Krieg. Warum ist dieser blutige Krieg überhaupt
ausgebrochen? Warum nahmen wir Anwar Sadats früheres
Angebot des Friedens im Austausch für die Rückgabe des
Sinai nicht an? Warum segelte unser Narrenschiff
vergnügt vom Sechs-Tage-Krieg zum Yom-Kippur-Krieg auf
dem Meer der Arroganz?
Solche Fragen wurden nicht
gestellt. Was wurde gefragt? Dinge wie: Warum
warnte uns der militärische Nachrichtendienst nicht
davor, dass die Ägypter und Syrer im Begriff waren,
uns anzugreifen?
Warum wurden die
Reserveeinheiten nicht rechtzeitig einberufen? Warum
wurden die „Instrumente“ (Panzer und Artillerie) nicht
an den Kanal gebracht?
Man nannte es „das
Versäumnis“. Das war der Slogan der
Massenprotestbewegung, die Golda Meir und Moshe Dayan
aus ihren Ämtern jagte.
Das wäre so, als würde man bei
einer Autopanne nur den Aschenbecher leeren. Im
Augenblick geschieht etwas Ähnliches.
DIE UMFRAGEN zeigen, dass die
Öffentlichkeit kein Vertrauen in die Führung hat. Aber
sie sagt nicht: wir haben diese Führer gewählt, also ist
es unsere Schuld. Das wäre ein unangenehmes
Eingeständnis. Sie sagt vielmehr: das ist nicht unsere
Schuld. Wer muss also angeklagt werden? Das „System“
natürlich.
Es kommt daher, dass unsere
parlamentarische Demokratie dem Ministerpräsidenten
keine volle Amtsperiode von vier Jahren zusichert. Er
kann vorher stürzen. Es zwingt ihn auch, Führer der
Koalitionsparteien in seine Regierung aufzunehmen, auch
dann, wenn sie völlig inkompetent sind, ihre Ministerien
zu leiten. Der Ministerpräsident kann nicht langfristig
planen oder fähige Experten mit den Ministerien
beauftragen.
Das ist sehr schlecht. Deshalb
müssen wir das amerikanische System übernehmen. Das Volk
wird einen Präsidenten wählen, der mindestens volle vier
Jahre sein Amt innehat. Er wird eine Regierung mit
hervorragenden Persönlichkeiten zusammenstellen - jeder
ein Experte in seinem Fach. So wird Zion erlöst werden.
DIES IST ein Wunderheilmittel,
eine Arznei, die alle Krankheiten heilt – ohne Schmerzen
und ohne Verzögerung.
Doch kann man ein politisches
System nicht ohne weiteres von einem Land auf ein
anderes übertragen. Jeder Staat hat seine eigene
Tradition, seine besondere Kultur, seine eigene soziale
Zusammensetzung. Ein politisches System muss von innen
her wachsen. Es kann nicht einem anderen Volk
übergestülpt werden. Wenn man dies versucht, wird das
Volk es seinen eigenen Bedürfnissen anpassen und bis
zur Unkenntlichkeit verändern. (Japan nach dem 2.
Weltkrieg kommt mir dabei in den Sinn). Nur weltfremde
Professoren in Elfenbeintürmen können sich vorstellen,
eine kranke Gesellschaft könne durch ein ideales
politisches System – kopiert von einem anderen Land –
geheilt werden.
Dies wurde in Israel schon
einmal bewiesen: unter dem Einfluss einiger Professoren
wurde unser „System“ vor einigen Jahren verändert. Es
wurde entschieden, der Ministerpräsident solle direkt
gewählt werden – unabhängig von den Knessetwahlen. Aber
bald wurde es deutlich, dass dieses System noch
schlechter als das vorausgegangene war. Also
beratschlagten sich die Weisen und stellten das alte
System wieder her.
Aber es ist für uns gar nicht
nötig, eigene Erfahrungen damit zu machen. Um die
Vorteile des Präsidentensystems richtig einzuschätzen,
genügt es, die Situation in seinem Ursprungsland
anzusehen: in den Vereinigten Staaten.
Was hat dieses System dort
erreicht? Dem Präsidenten stehen tatsächlich vier ganze
Jahre zur Verfügung - aber viele würden heute ein
„leider!“ hinzufügen. Wenn entdeckt wird, dass ein
vollkommener Idiot gewählt worden ist, der sein Land in
verheerende Abenteuer verwickelt, kann er nicht
abgesetzt werden. In unserm parlamentarischen System
kann - wie in Groß-Britannien - ein Ministerpräsident
verhältnismäßig leicht abgesetzt werden. Tony Blair wird
innerhalb eines Jahres verschwinden, doch George Bush
wird seine ganze Amtszeit durchführen.
Sind die amerikanischen
Minister kompetenter als die unsrigen? Ist Donald
Rumsfeld eine kleinere Katastrophe als Amir Peretz?
Um gewählt zu werden, benötigt
ein Kandidat außerdem Unmengen von Geld. Dies kann nur
von Interessengruppen, Lobbys und riesigen
Gesellschaften kommen. Das amerikanische System ist bis
ins Mark korrupt – es herrscht eine so tiefe und weit
verbreitete Korruption, dass die Sünden von Olmert & Co
unschuldig erscheinen.
DOCH LOGIK ist nicht der
Schlüssel bei dieser Diskussion, weil die Forderung nach
einem Systemwechsel nur der Deckmantel für etwas viel
Gefährlicheres ist: den Ruf nach einem Führer.
Solch ein Ruf taucht immer in
Krisenzeiten auf. Wenn das Gefühl einer Niederlage
herrscht und ein Klima des Misstrauens gegenüber der
alten Führung, verlangen die Menschen nach einem
Übervater. Die Demokratie erscheint schwach und faul,
besonders, wenn man gleichzeitig mit der Legende
konfrontiert ist, die Politiker hätten „die Armee am
Sieg gehindert “. Ein starker Führer wird die Probleme
mit eiserner Faust lösen. Eine Politik des Dialogs und
der Verhandlungen entspricht Schwächlingen.
Es muss klar sein, der
Vorschlag, das Präsidentensystem zu adoptieren, ist nur
eine Verschleierung des Rufes nach einem allmächtigen
Führer. Man muss sich nur die ansehen, die diesen
Vorschlag machen.
Der erste Befürworter für
„Systemwechsel“ ist Avigdor Liberman, der Vorsitzende
der „ Israel-Beitenu-Partei“(„Israel - unser Heim“), die
sich vor allem aus Immigranten der früheren Sowjet-Union
zusammensetzt. Es ist eine Partei der äußersten Rechten
– wenn wir an dieser Stelle einmal untertreiben wollen.
In andern Ländern würde sie anders bezeichnet werden.
Die „Israel-Beitenu-Partei“
steht für ungebremsten Nationalismus und für
Fremdenfeindlichkeit. Sie ist viel radikaler als Jörg
Haider in Österreich und Jean-Marie Le-Pen in
Frankreich. Sie ruft die Palästinenser auf, das Land zu
verlassen, einschließlich der arabischen Bürger in
Israel selbst, die 20% der Bevölkerung ausmachen. Das
hindert Ehud Olmert nicht daran, öffentlich zu erklären,
er hätte diese Partei gerne in seiner Regierung. (Als
Haider sich der österreichischen Regierung angeschlossen
hatte, rief Israel seinen Botschafter aus Wien zurück).
Liberman, der gerne
Verteidigungsminister werden möchte, hat fünf
Bedingungen gestellt, um sich der Regierung anschließen
zu können. Die erste Bedingung: die Annahme des
Präsidentensystems. Und klar ist auch, wer sein
Präsidentschaftskandidat ist: Avigdor Liberman.
Wenn jetzt Wahlen abgehalten
würden, dann würde – laut Meinungsumfragen - Libermans
Partei von 120 Sitzen der Knesset 16 Sitze erhalten
(11 Sitze in der augenblicklichen Knesset). Dazu müsste
man die neun Sitze der „Nationalen Union“ in der
gegenwärtigen Knesset zählen, deren Parteivorsitzender
eine Kipa tragender General ist. Er fordert öffentlich
die Vertreibung aller arabischen Einwohner aus den
besetzten palästinensischen Gebieten und die Rücknahme
sämtlicher demokratischer Rechte der arabischen Bürger
Israels. Wenn zwei solche Parteien ein Fünftel des
Wählervolks darstellen, dann gibt es sicher Gründe,
sehr besorgt zu sein.
ICH GLAUBE an die israelische
Demokratie. Sie ist ein unglaubliches Phänomen, wenn man
bedenkt, woher die meisten israelischen Bürger oder ihre
Eltern herkommen: aus dem zaristischen und
kommunistischen Russland, aus dem Polen Pilsudskys und
seinen Erben, aus Marokko, dem Irak, Iran und Syrien –
zusätzlich zu denen, die im kolonialen Palästina unter
der Herrschaft des britischen Hochkommissars geboren
wurden. Wie die Neuerweckung der hebräischen Sprache,
die in der Welt keine Parallele hat, so ist diese
Demokratie ein Wunder. ( D.h. Demokratie natürlich nur
im eigentlichen Israel. In den besetzten Gebieten
herrscht eine völlig andere Situation.)
Ich glaube nicht, es bestehe
wirkliche Gefahr, dass gegenwärtig Faschismus
aufkommt. Doch müssen wir jeden Tag und jede Stunde sehr
auf der Hut sein. Für faschistische Tendenzen sind hier
einige Faktoren gegeben: das Gefühl der Niederlage im
Krieg, die „Dolchstoßlegende“ gegenüber der Armee, der
Vertrauensverlust in das demokratische System, die
wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Hetze gegen
die nationale Minderheit, die als Fünfte Kolonne
beschrieben wird.
Das alles zusammen ist mehr
als ein kleiner Nagel.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
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