Eine widerliche Affäre
Uri Avnery, 18.3.06
DAS
ZENTRALE Thema dieses Artikels ist Widerlichkeit.
Deshalb entschuldige ich mich schon im voraus für die
häufige Verwendung dieses und ähnlicher Wörter.
Im
Wörterbuch finde ich noch eine Reihe von Synonymen:
abscheulich, ekelhaft, übel, unangenehm, unsympathisch,
gräulich, scheußlich, abstoßend, abschreckend,
widerwärtig, hassenswert, verabscheuenswürdig und einige
mehr. All diese Wörter beschreiben meine Gefühle über
diese Aktion, die am Dienstag in Jericho statt fand.
ES
WAR zunächst verabscheuungswürdig, weil es ein
Wahlpropagandatrick war. Wenn ein Politiker eine Armee
hinausschickt, um Stimmen zu sammeln, ist es ein
widerwärtiger Akt. Bei dieser Aktion sind drei Menschen
ums Leben gekommen. Viel mehr Leben, Israelis und
Palästinenser, hätten dabei ihr Leben verlieren können.
Der
erschreckende Zynismus der Entscheidung lag offen zu
Tage. Sogar die Wähler bemerkten es: bei einer
Meinungsumfrage zwei Tage später sagten 47%, dass die
Entscheidung etwas mit den Wahlen zu tun habe, nur 49%
dachten anders.
Dies
ist nicht das erste Mal, dass Ehud Olmert auf seinem Weg
zur Macht über Leichen geht. Als Bürgermeister von
Jerusalem trieb er die Öffnung des Tunnels in der Nähe
der muslimischen Heiligtümer voran, was – wie erwartet -
zu Dutzenden von Todesfällen führte. Binyamin Netanyahu,
sein Mittäter, ist aus ähnlichem Holz geschnitzt.
Netanyahu war wenigstens ein Soldat an der Front, der
sein Leben riskierte. Verachtenswert ist aber ein
Politiker, der andere hinausschickt, damit sie ihr Leben
aufs Spiel setzen, aber selbst darauf aus ist, sein
eigenes zu schonen. Zu dieser unrühmlichen Bande zählt
auch George W. Bush und Dick Cheney, zwei
Serien-Kriegstreiber.
Olmert hatte ein Problem: seine Partei ging bei den
Umfragen langsam den Bach hinunter. Während die Zeit
verging, merkten einige der Kadima-Fans, dass Olmert
eben kein Sharon ist. Sharons Ruhm hing vor allem mit
dem siegreichen General zusammen, der im
Yom-Kippur-Krieg mit einer großen Bandage um den Kopf
herumlief (bis heute ist nicht klar, welchem Zweck sie
diente). Olmert benötigte dringend eine Militäraktion,
die ihn mit Lorbeeren eines robusten Militärkommandeurs
schmücken und die ihm helfen würden, seinen Spitznamen
loszuwerden, der ihm vom Likud verpasst worden war:
Smolmert (Smol bedeutet im Hebräischen „links“)
Der
Trick war von Erfolg gekrönt. In derselben
Meinungsumfrage sagten 20,7 % der Wähler, dass die
Jericho-Aktion sie überzeugt hätte, für Kadima zu wählen
oder wenigstens sie in ihrer Entscheidung bestärkt habe,
dies zu tun.
Im
Allgemeinen sollte man sich vor einem zivilen Politiker
hüten, der einem Führer nachfolgt, der mit militärischen
Lorbeeren gekrönt war. Man muss nur an den klassischen
Fall von Antony Eden denken, dem Erben von Winston
Churchill, der den Suez-Krieg im Oktober 1956
initiierte.
WORAN erinnert uns dies? An eine Verschwörung.
Die
Briten wollten Gamal Abd-al-Nasser stürzen, weil er die
Frechheit besaß, das Eigentum der britischen Aktionäre
der Suezkanal-Gesellschaft zu enteignen. Die Franzosen
wollten ihn zu Fall bringen, weil er die Algerier in
ihrem Freiheitskrieg unterstützte. Sie hatten sich im
Geheimen mit David Ben Gurion verabredet, der die
wieder bewaffnete ägyptische Armee zerstören wollte.
Der wichtigste Vermittler dieser Verschwörung war Shimon
Peres, die Nummer 2 auf der Kadima-Liste.
Es
spielte sich folgendermaßen ab: Israels
Fallschirmspringer, befehligt von Ariel Sharon, dem
Gründer von Kadima, sprangen in der Nähe des Suez-Kanals
ab. Britannien und Frankreich stellten ein gefälschtes
Ultimatum, das Ägypten und Israel dazu aufrief, ihre
Kräfte vom Kanal abzuziehen – eine absurde Forderung, da
der Kanal weit innerhalb des ägyptischen Territoriums
liegt. Wie im voraus abgemacht, weigerte sich Israel.
Dann fielen Briten und Franzosen in das Kanalgebiet ein
und ließen die israelische Armee die ganze
Sinaihalbinsel erobern. Das abgekartete Spiel war so
primitiv und offensichtlich, dass es sofort aufgedeckt
wurde. Das war das Ende von Eden.
Die
Jericho-Affäre ist unglaublich ähnlich: die Briten und
Amerikaner gaben vor, sich um die Sicherheit ihres
Überwachungspersonals zu ängstigen, das nach einem
Abkommen – auf das ich später noch einmal zurückkomme -
in Jericho stationiert war. Sie sagten Mahmoud Abbas,
sie würden es zurückziehen. Zu einem mit dem
israelischen Ministerpräsidenten abgemachten geheimen
Zeitpunkt setzten sich das britische und amerikanische
Personal ab – und die israelische Armee kam an. Die
Vorbereitungen dazu waren schon Wochen zuvor
angelaufen.
Eine
Sache sollte zu Gunsten von George Bush und Anthony
Blair ( und seinem miserablen Außenminister Jack Straw)
gesagt werden: sie brachten den ältesten Beruf der Welt
zur ältesten Stadt der Welt zurück: das rote Seil von
Rahav der Hure (Josua 2) führt zu diesem Akt der
Prostitution.
GENERALLEUTNANT Dan Halutz kann auf seinen Sieg stolz
sein. In der Vergangenheit war er wegen seines
Ausspruches bekannt geworden: er fühle nur ein leichtes
Beben des Flugzeugs, wenn er eine Bombe auf ein
Wohnviertel fallen lasse, selbst wenn er dabei Frauen
und Kinder töte. Danach schlafe er gut, sagte er. Nun
hat er wirklichen Ruhm gewonnen: mit Hilfe von
Dutzenden von Panzern, Kampfhubschraubern und schweren
Bulldozern gelang es ihm, sechs unbewaffnete Gefangene
aus der ruhigen, gewaltfreien, kleinen Stadt, die vom
Tourismus lebt, gefangen zu nehmen.
Im
Verlauf der Aktion fabrizierten Halutz’ Soldaten ein
abscheuliches Bild, das das Image der israelischen Armee
in den Augen von hundert Millionen, die dies auf den
Fernsehschirmen sahen, besudelten. Sie befahlen den
palästinensischen Polizisten und Gefangenen, sich
auszuziehen, ließen sie in ihrer Unterwäsche
photographieren, noch und noch einmal. Das war völlig
unnötig. Der Vorwand: sie hätten versteckte
Sprengstoffgürtel an sich haben können – wie lächerlich
unter diesen Umständen. Und selbst, wenn es notwendig
gewesen wäre, dann hätte dies weit entfernt von Kameras
geschehen können. Kein Zweifel: die Absicht war, sie zu
demütigen, zu erniedrigen und sadistische Instinkte zu
befriedigen.
Ein
Mensch kann vielleicht Schläge verkraften und sogar
Folter. Aber Demütigungen kann er nicht vergessen, vor
allem nicht dann, wenn sie vor den Augen seiner
Familie, seinen Freunden, Kollegen und aller Welt
geschehen. Wie viele neue Terroristen wurden in diesem
Augenblick wohl geboren?
An
jenem Tag besuchte ich zufällig Freunde in einem
palästinensischen Dorf in der Westbank – meine Gastgeber
und ich waren vom Geschehen auf dem Fernsehschirm
gefesselt ( vor allem bei Al-Jazeera). Als diese Bilder
erschienen, konnte ich ihnen vor Scham nicht mehr in die
Augen schauen.
DIE
ISRAELISCHEN Medien feierten. Und es war nicht nur eine
Feier, sie gerieten vor lauter Freude in Verzückung. Sie
beteiligten sich in ihrer Weise an dem widerlichen
Geschehen und standen hinter der Regierung in
Habachtstellung. Wie Papageien wiederholten sie
einstimmig die verlogene offizielle Version .
Es
war ein Festival der Gehirnwäsche. Die „Mörder von
Ze’evi“ sind gefangen worden. Es war eine nationale
Pflicht. Wir konnten nicht ruhen, bis sie in unsere
Hände fallen würden – tot oder lebendig.
Diese drei Wörter – „Mörder von Ze’evi“ – wurden wie zu
einem Mantra. Sie wurden endlos im Radio und TV
wiederholt, erschienen in den Zeitungen und in den
Reden der Politiker ( bei allen). So ist es: Israelis
werden „ermordet“, Palästinenser werden „eliminiert“.
Warum – um Himmels willen? Rehavam Zee’vi, damals ein
Kabinettminister, predigte Tag und Nacht den „Transfer“,
ein Euphemismus für die Vertreibung der Palästinenser
aus Palästina. Verglichen mit ihm sind Jean-Marie le Pen
in Frankreich und Jörg Haider in Österreich sanfte
Liberale. Seine gezielte Tötung ist nichts anderes als
die des gezielten Tötens von Scheich Ahmed Yassin und
vielen anderen palästinensischen Führern, einschließlich
Abu-Ali-Mustafas, dem Führer der Volksfront, dem es nach
Oslo erlaubt wurde, aus Syrien in die palästinensischen
Gebiete zurückzukehren.
So
wurde die endlose Gewaltspirale in Gang gesetzt: die
israelische Armee tötete Abu-Ali Mustafa. Ihm folgte
Ahmed Sa’adat, der gemäß dem israelischen Geheimdienst
die Ermordung von Rehavam Ze’evi als Rache angeordnet
habe,und dessen Gefangennahme das Ziel der
Jericho-Aktion gewesen sei. Und so geht es weiter.
Lassen Sie es mich deutlich sagen: Ich bin gegen jeden
Mord. Gegen ihren und gegen unseren. Gegen den Mord an
Abu-Ali Mustafa und gegen den Mord an Rehavam Ze’evi.
Aber wer das Blut eines palästinensischen Führers
vergießt, muss sich nicht über das Blutvergießen eines
Israelis beklagen.
DIE
AFFÄRE hat noch eine andere Seite, die nicht weniger
abscheulich ist: die Haltung gegenüber der Einhaltung
von Abkommen.
Sa’adat und seine Kollegen wurden in Jericho nach einem
Abkommen festgehalten, das von Israel unterzeichnet war.
Auf Grund dessen verließen sie – während der Belagerung
von Yassir Arafat - die Mukata in Ramallah und kamen
ins palästinensische Gefängnis in Jericho. Die USA und
Britannien garantierten ihre Sicherheit und stellten
Überwachungspersonal für ihre Gefangenschaft zur
Verfügung.
Was
jetzt in Jericho geschah, ist ein eklatanter Bruch eines
Abkommens. Die miserablen Vorwände, die in Jerusalem,
London und Washington erfunden worden waren, sind eine
Beleidigung der Intelligenz eines Zehnjährigen.
Israels Regierungen denken oft, dass der Bruch eines
Abkommens ein patriotischer Akt sei, wenn er unseren
Zwecken dient. Abkommen müssen nur von der anderen Seite
eingehalten werden. Dies ist nicht nur eine sehr
primitive Moral, dies beschädigt auch unsere nationalen
Interessen. Wer wird mit uns ein Abkommen unterzeichnen,
wenn er weiß, dass es nur ihn verpflichtet? Wie kann
Israel überzeugend von der Hamas fordern, sie möge doch
„alle von der palästinensischen Behörde unterzeichneten
Abkommen akzeptieren“?
Viele Israelis glauben, das die Jericho-Aktion eine
brillante Tat sei. Ich fand sie schlicht
verabscheuungswürdig.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert )
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