TRANSLATE
Ein Blick aus der Villa
Uri Avnery, 26. Oktober 2011
DAS TÖTEN von Muammar Gaddafi und seinem
Sohn Muatasim war kein schöner Anblick. Nachdem ich sie einmal
gesehen hatte, schaute ich weg, wenn sie wieder und wieder im TV
gezeigt wurden – buchstäblich ekelerregend.
Das kommerzielle Fernsehen existiert
natürlich, um für die Magnaten Geld zu machen, indem es die
niedrigsten Instinkte und Geschmäcker der Massen anspricht. Dort
scheint es einen unersättlichen Appetit auf grausame Bilder zu
geben.
Aber in Israel gab es noch ein anderes
Motiv, um diese Lynchszenen wiederholt zu zeigen, wie die
Kommentatoren mehr als deutlich zu verstehen geben. Diese Szenen
beweisen – ihrer Meinung nach – die primitive, barbarische,
mörderische Natur der arabischen Völker und auch des Islam als
solchen.
Ehud Barak beschreibt gerne, Israel
liege wie eine „Villa mitten im Dschungel“. Jetzt wird dies von der
großen Mehrheit unserer Medienleute akzeptiert. Sie lassen keine
Gelegenheit aus, um darauf hinzuweisen, dass wir in einer
„gefährlichen Nachbarschaft“ leben – indem sie klar machen, dass
Israel eigentlich nicht in diese Nachbarschaft gehört. Wir sind ein
zivilisiertes, westliches Volk, leider von diesen primitiven Wilden
umgeben.
(Wie ich viele Male erwähnte, geht dies
zurück auf den Gründer des Zionismus Theodor Herzl, der schrieb,
dass der zukünftige zionistische Staat „ein Stück des Walles der
Zivilisation gegen Asien bildet“ und „ den Vorpostendienst der
Kultur gegen die Barbarei besorgen würde)
Da diese Haltung weitreichende geistige
und politische Auswirkungen hat, wollen wir einen näheren Blick
darauf werfen.
ICH BIN gegen die Todesstrafe in jeder
Form. Exekutionen, ob in Texas oder China, verabscheue ich. Ich
hätte bei weitem vorgezogen, dass Gaddafi von einem richtigen
Gericht verurteilt worden wäre.
Aber meine erste Reaktion auf den
Anblick war: Mein Gott, wie sehr muss ein Volk seinen Herrscher
gehasst haben, wenn es ihn so behandelt! Offensichtlich haben die
Jahrzehnte abscheulichen Terrors, die dem libyschen Volk von diesem
halb verrückten Despoten auferlegt waren, jeden Rest von
Barmherzigkeit zerstört. (Seine bis zuletzt fanatischen Verteidiger,
Mitglieder seines Stammes, scheinen eine winzige Minderheit zu
sein.)
Seine clownhafte Erscheinung und
seltsamen Abenteuer lenkten die Aufmerksamkeit der Weltmeinung von
dem mörderischen Aspekt seiner Herrschaft ab. Von Zeit zu Zeit ließ
er eine Schreckenswelle los, folterte und tötete irgendjemand, der
nur eine Andeutung von Kritik von sich gab, verurteilte sie in
Fußballstadien, wo das Gebrüll der verrückt gemachten Menge das
Um-Gnade-bitten des Verurteilten übertönte. Bei einer Gelegenheit
erschossen seine Leute alle 1200 Insassen des Abu Salim-Gefängnisses
in Tripoli.
Es stimmt, dass er einige
Staatseinkünfte in den Bau von Schulen und Krankenhäusern steckte,
aber das war nur ein winziger Teil des riesigen Betrages vom Ölgeld,
das er bei seinen bizarren Abenteuern verschwendet hat oder das von
seiner Familie gestohlen wurde. Sein ungeheuer reiches Land hat eine
arme Bevölkerung, eine einzige schmale Straße von Ägypten nach Tunis
und einen Lebensstandard, der ein Drittel des unsrigen ist.
Man muss kein arabischer Barbar oder
muslimischer Erzterrorist sein, um ihm das anzutun, was man ihm
antat. Tatsächlich taten die hochzivilisierten Italiener (Libyens
frühere Kolonialherren) 1945 genau dasselbe. Als die Partisanen den
fliehenden Benito Mussolini fingen, bat er mitleiderregend um sein
Leben, aber sie töteten ihn zusammen mit seiner Geliebten an Ort und
Stelle. Ihre Leichen wurden auf die Straße geworfen, von der Menge
getreten und bespuckt und dann an ihren Füßen am Fleischerhaken am
Dach einer Tankstelle aufgehängt, wo sie noch tagelang mit Steinen
beworfen wurden. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand im
zivilisierten Europa protestiert hat.
Im Gegensatz zu Mussolini und Gaddafi
hat Hitler nicht schmachvoll zu fliehen versucht. Er wählte ein
würdigeres Ende. Aber während seiner letzten Wochen ähnelte Gaddafi
Hitler, der am Ende in einer Welt voller Wahnvorstellungen lebte und
nicht existierende Divisionen auf der Karte hin und herschob,
sicher, dass sein Volk ihn grenzenlos liebte.
Nicolae Ceausescu, ein anderer blutiger
Tyrann, hatte seinen Tag – oder Stunde – vor Gericht. Es war eine
Affentheater – wie solch eine Gerichtsverhandlung eben immer ist.
Das Femegericht verurteilte ihn zum Tode, und er wurde umgehend -
zusammen mit seiner Frau - erschossen.
GADDAFIS ENDE machte auch der Debatte
ein Ende, die vor Monaten begann.
Es kann keinen Zweifel mehr darüber geben, dass
die große Mehrheit des libyschen Volkes Gaddafi verachtete und die
NATO-Kampagne willkommen hieß, die mithalf, ihn zu beseitigen. Es
war ein bedeutender Beitrag; aber der aktuelle schwere Kampf wurde
von der zerlumpten Armee des Volkes ausgeführt. Libyen befreite sich
selbst. Selbst in Tripoli war es das Volk, das dem Tyrannen ein Ende
setzte.
Ich wurde scharf von einigen
wohlmeinenden europäischen Linken angegriffen, weil ich über das
schreckliche Monster mit Namen NATO Gutes sagte. Jetzt im Rückblick
ist es offensichtlich, dass die überwältigende – wenn nicht
einmütige - Meinung der Libyer selbst die Intervention willkommen
hieß.
Wo unterscheide ich mich von diesen
Linken? Ich denke, dass sie für sich selbst eine Art ideologische
Zwangsjacke geschaffen hatten. Während des Vietnamkrieges kamen sie
mit einem Weltbild, das für genau diese besondere Situation passte:
da gab es gute Kerle und schlechte Kerle. Die Guten waren die
vietnamesischen Kommunisten und ihre Verbündeten. Die Bösen waren
die USA und ihre Marionetten. Seitdem wenden sie dieses Schema bei
jeder Situation rund um die Welt an: Südafrika, Jugoslawien,
Palästina.
Aber jede Situation ist anders. Vietnam
ist nicht Libyen, das südafrikanische Problem war viel einfacher als
das unsrige. Großmachtpolitik mag konstant bleiben und sehr unschön.
Aber da gibt es riesige Unterschiede zwischen den verschiedenen
Situationen. Ich war sehr gegen die US-Kriege in Vietnam,
Afghanistan und Irak und für die Nato-Kampagnen in Kosovo und
Libyen.
Für mich ist der Ausgangspunkt jeder
Analyse, was das betreffende Volk wünscht und benötigt, und erst
danach frage ich mich, wie das internationale Schema auf sie
anzuwenden ist. Ich arbeite von innen nach außen und nicht von
außen nach innen.
Ich habe auch nie ganz das Dogma
verstanden, das alle Fragen beantwortet: „es geht vor allem um das
Öl“. Gaddafi verkaufte sein Öl auf dem Weltmarkt, und so werden es
auch seine Nachfolger tun – zu den selben Bedingungen. Die
internationalen Öl-Gesellschaften sind für mich alle dieselben. Gibt
es einen großen Unterschied zwischen dem russischen Gasprom und dem
amerikanischen Esso?
Einige frühere Kommunisten scheinen eine
Art Zuneigung zu Russland zu haben und unterstützen fast automatisch
seine internationalen Positionen: von Afghanistan bis Serbien und
Syrien. Warum? Welche Ähnlichkeit gibt es zwischen Vladimir Putin
und den Sowjets? Putin heißt nicht die Diktatur des Proletariats
gut, er ist mit einer Diktatur von sich selbst ganz zufrieden.
WENN GADDAFIS grausames Ende alle
islamophoben Obsessionen im Westen bestätigt haben, so haben die
Wahlen in Tunis alles noch schlimmer gemacht.
Hilfe!! Die Islamisten haben die Wahlen
gewonnen! Die Muslimbruderschaft wird die Wahlen in Ägypten
gewinnen. Der arabische Frühling wird die ganze Region in eine weite
Brutstätte für den Jihad verwandeln. Israel und der Westen sind in
tödlicher Gefahr!
Dies ist alles Unsinn. Und zwar
gefährlicher Unsinn, weil er jede sensible amerikanische und
europäische Politik gegenüber der arabischen Welt scheitern lässt.
Gewiss, der Islam ist im Begriff
aufzusteigen. Islamische Parteien haben den arabischen Diktaturen
widerstanden, wurden von ihnen verfolgt und sind darum im Nachhinein
ihres Sturzes populär – so wie europäische Kommunisten in Frankreich
und Italien nach der Niederlage der Faschisten sehr populär wurden.
Von da an wurde die Unterstützung für die Parteien weniger.
Der Islam ist ein bedeutender Teil der
arabischen Zivilisation. Viele Araber sind ernste Gläubige. Ihre
islamischen Parteien werden sicher eine bedeutende Rolle in jeder
demokratisch arabischen Ordnung spielen, so wie jüdisch religiöse
Parteien – leider - eine bedeutende Rolle in der israelischen
Politik spielen. Die meisten dieser arabischen Parteien sind
moderat, wie die regierende islamische Partei in der Türkei.
Es ist sicher wünschenswert, dass diese
Parteien ein Teil der demokratischen Ordnung werden statt zu ihrem
Feind. Sie müssen innerhalb des Zeltes sein, sonst stürzt das Zelt
ein. Ich bin davon überzeugt, dass dies auch im besten Interesse
Israels ist. Deshalb sind meine Freunde und ich für eine
Fatah-Hamas-Versöhnung und befürworte direkte Verhandlungen zwischen
Israel und Hamas – und nicht nur beim Gefangenenaustausch.
Unsere Medien sind empört: der
einstweilige Ministerpräsident von Libyen hat angekündigt, dass das
islamische Recht – die Scharia - die Einführung neuer Gesetze in
seinem Land bestimmen wird. Es scheint, unsere Journalisten wissen
nichts von der Existenz eines israelischen Gesetzes, das besagt,
wenn es rechtliche Fragen gibt, für die es keine fertigen Antworten
gibt, dann wird das jüdische Gesetz – die Halacha – diese Lücke
ausfüllen. Außerdem gibt es in der Knesset einen neuen
Gesetzentwurf, der feststellt, dass die Halacha bei rechtlichen
Disputen entscheiden wird.
Das Ergebnis der tunesischen Wahlen war meiner
Meinung nach sehr positiv. Wie erwartet, gewann die moderate
islamische Partei gewann viele Stimmen, aber nicht die absolute
Mehrheit. Sie muss eine Koalition mit säkularen Parteien eingehen
und ist bereit, dies zu tun. Diese total neuen und praktisch
unbekannten Parteien benötigen Zeit, um ihre Identität und
Strukturen aufzubauen.
Hier möchte ich eine persönliche
Bemerkung hinzufügen: Rachel und ich sind mehrmals in Tunis gewesen,
um Yassir Arafat zu treffen, und mochten die Leute. Besonders waren
wir von vielen Männern beeindruckt, die wir in den Straßen sahen,
die eine Jasminblüte hinter dem Ohr trugen. Kein Wunder, dass solche
Leute fast eine unblutige „Jasmin-Revolution“ ausführen konnten.
Wenn die Wahlen in andern arabischen
Ländern diesem Muster folgen, wie es möglich erscheint, wird es für
alle das Beste sein.
DIE OBAMA-Regierung war klug genug, auf den Wagen
der arabischen Revolution zu springen, wenn auch im allerletzten
Augenblick. Wir Israelis hatten nicht dieses Verständnis. Unsere
Islamophobie ließ uns eine goldene Gelegenheit verpassen, unser
Image unter jungen arabischen Revolutionären zu verändern.
Stattdessen vergleichen wir unsere
Tugend mit der Barbarei der Libyer, die uns noch einmal die wahre
Natur des Dschungels gezeigt haben, der unsere Villa umgibt.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
|