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Grenzenloser Hass
Uri Avnery
Juli 9, 2016
Ein
PALÄSTINENSISCHER Jugendlicher bricht in eine Siedlung ein, dringt
in das nächstgelegene Haus ein, ersticht ein 13-jähriges Mädel im
Schlaf und wird getötet.
Drei
israelische Männer entführen wahllos einen 12-jährigen
palästinensischen Jungen, schleppen ihn zu einem offenen Feld und
verbrennen ihn bei lebendigem Leib.
Zwei
Palästinenser aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Hebron
betreten Israel illegal, trinken Kaffee in einem Vergnügungsviertel
von Tel Aviv und schießen dann wahllos um sich, auf jeden, bevor sie
festgenommen werden. Sie werden zu Nationalhelden.
Ein
israelischer Soldat sieht einen schwer verwundeten palästinensischen
Angreifer auf dem Boden liegen, geht auf ihn zu und schießt ihn in
den Kopf aus nächster Nähe. Die meisten Israelis applaudieren ihm.
Das
sind keine “normalen” Aktionen, auch nicht in einem Guerilla-Krieg.
Es sind
Symptome
von bodenlosem Hass, einem Hass, der so abgrund tief ist, dass er
alle humanen Normen überschreitet.
DAS
WAR nicht immer so. Ein paar Tage nach dem Krieg von 1967, in dem
Israel Ostjerusalem, die Westbank und den Gazastreifen eroberte,
reiste ich alleine durch die neu besetzten Gebiete. Ich wurde fast
überall willkommen geheißen. Die Menschen wollten mir ihre Waren
verkaufen und ihre Geschichten erzählen. Sie waren genauso neugierig
auf die Israelis, wie wir auf sie waren.
Damals dachten die Palästinenser nicht im Traum an eine ewige
Besatzung. Sie hassten die jordanischen Herrscher und waren froh,
dass wir sie vertrieben hatten. Sie glaubten, dass wir bald wieder
abzögen und
ihnen erlauben würden , sich selbst zu regieren.
In
Israel sprach jeder über eine "gütige Besatzung". Der erste
Militärgouverneur war ein sehr humaner Mensch, Haim Herzog, ein
zukünftiger Präsident Israels und der Vater des gegenwärtigen
Vorsitzenden der Arbeiterpartei.
Innerhalb weniger
Jahre
hatte sich alles geändert. Die Palästinenser realisierten, dass die
Israelis keineswegs beabsichtigten, abzuziehen, sondern im Begriff
waren, ihr Land zu rauben, im wahrsten Sinne des Wortes, und es mit
ihren Siedlungen zu bedecken.
Etwas
Ähnliches geschah 15 Jahre danach im Süd-Libanon. Die schiitische
Bevölkerung begrüßte unsere Truppen mit Blumen und Honig. Sie
glaubte, wir würden die Palästinenser vertreiben und wieder
abziehen. Als wir es nicht taten, wurden sie zu entschlossenen
Guerilla-Kämpfern und gründeten schließlich die Hizbollah.
Heutzutage ist Hass überall. Araber und Israelis benutzen
unterschiedliche Schnellstraßen, aber es ist bedeutend schlimmer als
die Apartheid in Südafrika, weil die Weißen dort kein Interesse
daran hatten, die Schwarzen aus dem Land zu vertreiben. Es ist auch
noch schlimmer als der meiste Kolonialismus, weil die Imperialmächte
nicht generell das Land den Eingeborenen unter den Füßen wegzogen,
um darauf zu siedeln.
Heutzutage herrscht gegenseitiger Hass uneingeschränkt. Die Siedler
terrorisieren ihre arabischen Nachbarn. Arabische Jungen werfen
Steine und improvisierte Brandbomben auf jüdische Autos, die auf den
Straßen, die sie selbst nicht befahren dürfen, vorbeifahren.
Kürzlich wurde das Auto eines hochrangigen Armeeoffiziers mit
Steinen beworfen. Er sprang heraus, verfolgte einen Jungen, der
fortlief, schoss ihn in den Rücken und tötete ihn – in eklatanter
Verletzung der Armeeregeln zur Eröffnung von Feuer.
HEUTE, 120 Jahre nach dem Beginn des zionistischen Experimentes ist
der Hass zwischen den beiden Völkern abgrundtief. Der Konflikt
beherrscht unser Leben. Über die Hälfte aller neuen Berichte in den
Medien handeln von diesem Konflikt.
Wenn
der Gründer des modernen Zionismus, der Wiener Journalist Theodor
Herzl, wieder lebendig wäre, wäre er völlig schockiert. In der
Zukunftsnovelle, die er
auf Deutsch
zu
Beginn des letzten Jahrhunderts schrieb, die “Altneuland” (altes
neues Land) hieß, beschrieb er in allen Einzelheiten das Leben in
dem zukünftigen Jüdischen Staat. Dessen arabische Einwohner werden
als glückliche und patriotische Bürger geschildert, die dankbar für
den ganzen Fortschritt und die Vorteile sind, die die Zionisten
brachten.
Zu
Beginn der jüdischen Einwanderung waren die Araber tatsächlich
bemerkenswert
geduldig.
Vielleicht glaubten sie, dass die Zionisten eine neue Version der
deutschen religiösen Einwanderer waren, die ein paar Jahrzehnte
zuvor angekommen waren und in der Tat dem Land Fortschritt brachten.
Diese Deutschen, die sich selbst Templer nannten (nicht verbunden
mit der Kreuzritter-Gruppe des Mittelalters, die so genannt wird)
hatten keinerlei politische Ambitionen. Sie schufen Musterdörfer und
Stadtviertel und lebten seitdem glücklich, bis die deutschen Nazis
sie infizierten. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs deportierten
die Briten sie alle ins weit entfernte Australien.
Das
Modelldorf, das diese Templer in der Nähe von Jaffa, Sarona, bauten,
ist jetzt ein Vergnügungspark in Tel Aviv – eben genau der Ort, wo
der letzte Terroranschlag stattgefunden hat.
Als
die Araber realisierten, dass die neuen zionistischen Einwanderer
keine Wiederholung der Templer waren, sondern eine neue aggressive
kolonialistische Implantation, ließ sich ein Konflikt nicht
vermeiden. Er verschlimmerte sich von Jahr zu Jahr. Der Hass
zwischen den beiden Völkern scheint ständig immer neue Höhen zu
ereichen.
Heutzutage scheinen die beiden Völker in zwei verschiedenen Welten
zu leben. Ein jahrhunderte-altes arabisches Dorf und die neue
israelische Siedlung, die ein Kilomater voneinander entfernt sind,
könnten genauso auf zwei verschiedenen Planeten leben.
Seit
ihrem ersten Tag auf Erden lernen die Kinder der beiden Völker
völlig verschiedene Geschichten von ihren Eltern. Das wird in der
Schule fortgesetzt. In der Zeit, wo sie großgezogen wurden, haben
sie sehr wenig Wahrnehmungen gemeinsam.
Für
einen jungen Palästinenser ist die Geschichte ziemlich einfach. Dies
war ein arabisches Land seit über 14 Jahrhunderten, ein Teil der
arabischen Zivilisation. Für einige geht ihre Eigentümerschaft
tausend Jahre zurück, da der Islam die vorhandene christliche
Bevölkerung nicht vertrieb, als er Palästina eroberte. Der Islam war
zu der Zeit eine bedeutend fortschrittlichere Religion. Deshalb
nahmen dort lebende Christen auch den Islam an.
Aus
palästinensischer Sicht beherrschten die Juden in der Antike nur ein
paar Jahrzehnte
das Land.
Der
jüdische Anspruch auf das Land heute, der auf einem Versprechen
basiert, dass ihnen ihr eigener privater jüdischer Gott gegeben hat,
ist eine blatante kolonialistische List. Die Zionisten kamen in das
Land im 20. Jahrhundert, als Verbündete der britischen
Imperialmacht, ohne irgendein Recht darauf.
Die
meisten Palästinenser sind nun bereit, Frieden zu schließen und
sogar in einem reduzierten palästinensischen Staat, Seite an Seite
mit Israel zu leben, erhalten aber von der israelischen Regierung,
die das gesamte “Groß Israel” für die jüdische Kolonialisierung
behalten - und nur ein paar unzusammenhängende Enklaven den
Palästinensern überlassen will, eine Abfuhr.
EIN
PALÄSTINENSISCHER ARABER, der glaubt, dass dies eine selbstevidente
Wahrheit ist, lebt ein paar hundert
Meter
von einem jüdischen Israeli entfernt, der glaubt, dass das lediglich
ein Packen Lügen ist, der von arabischen Anti-Semiten (ein Oxymoron)
erfunden wurde, um die Juden ins Meer zu treiben.
Jedes
jüdische Kind in Israel lernt von klein auf, dass dieses Land den
Juden von Gott gegeben wurde, die es viele Jahrhunderte beherrscht
haben, bis sie Gott erzürnten und er sie aus dem Land vertrieb, als
eine vorübergehende Bestrafung. Nun sind die Juden in ihr Land
zurückgekommen, das von einem fremden Volk besetzt wurde, das aus
Arabien kam. Dieses Volk hat nun die Frechheit, das Land als sein
eigenes zu beanspruchen.
Da
dem so ist, besagt die offizielle israelische Doktrin, dass es keine
Lösung gibt. Wir müssen nur eine sehr, sehr lange Zeit – praktisch
für die Ewigkeit – bereit sein, uns und unser Land selbst
verteidigen. Frieden ist eine gefährliche Illusion.
Die
naive Vision von Herzl widersprach der des rechten zionistischen
Führers, Vladimir (Ze'ev) Jabotinsky. Er stellte – ziemlich richtig
– fest, dass nirgendwo in der Welt Ureinwohner jemals ihr Land
friedlich an Fremde abgegeben hätte. Deshalb, sagte er, müssten wir
eine “Eiserne Mauer” bauen, um unsere neue Siedelung in dem Land
unserer Vorväter zu verteidigen.
Jabotinsky, der in dem liberalen post-Risorgimento-Italien studiert
hatte, hatte eine liberale Weltanschauung. Seine heutigen Nachfolger
sind Binyamin Netanyahu und die Likud-Partei, die alles andere als
liberal sind.
Sie
würden stürmisch applaudieren, wenn Gott über Nacht alle
Palästinenser von “unserem” Land verschwinden lassen würde.
Vielleicht würden sie sogar in Betracht ziehen, Gott dabei ein wenig
zu unterstützen.
IN
DER TAT, GOTT spielt eine immer größere Rolle in dem Konflikt.
Zu
Beginn spielte Gott nur eine sehr geringe Rolle. Fast alle Zionisten
der ersten Generation, darunter Herzl und Jabotinsky, waren
überzeugte Atheisten. Es wurde gesagt, dass die Zionisten
eine
Bewegung
sei, die nicht an Gott glaubte, aber die glaubte,
dass Gott uns das Land versprochen hatte.
Das
hat sich radikal geändert – auf beiden Seiten.
Zu
Beginn des Konflikt, im frühen letzten Jahrhundert, war die gesamte
arabische Welt von dem Nationalismus im europäischen Stil infiziert.
Der Islam war immer da, aber er war nicht die treibende Kraft.
Arabische Nationalhelden, zum Beispiel Gamal Abd-al-Nasser, waren
passionierte Nationalisten, die versprachen, die Araber zu vereinen
und sie in eine Weltmacht zu verwandeln.
Der
arabische Nationalismus scheiterte kläglich. Der Kommunismus schlug
nie Wurzeln in islamischen Ländern.
Der politische Islam, der gegen die Sowjets in
Afghanistan siegreich war, gewinnt in der gesamten arabischen Welt
immer mehr an Boden.
Eigenartig genug, dasselbe geschah in Israel. Nach dem Krieg in
1967, in dem Israel das gesamte Heilige Land erobert hat und
besonders den Tempelberg und die Klagemauer, verlor der atheistische
Zionismus an Boden und eine gewalttätige religiöse Form des
Zionismus übernahm.
In
der semitischen Welt fasste der europäische Gedanke der Trennung von
Kirche und Staat nie Wurzeln. Sowohl im Islam, als auch im Judentum
sind Religion und Staat untrennbar.
In
Israel wird nun die Macht heute von einer Regierung ausgeübt, die
von der extremen Ideologie der religiösen Rechten beherrscht wird,
wohingegen die “säkulare” Linke sich seit langem zurückgezogen hat.
In
der arabischen Welt geschieht dasselbe – nur noch extremer. Al-Qaeda,
Daesh und ihresgleichen gewinnen überall. In Ägypten und an anderen
Orten versuchen Militärdiktaturen diesen Prozess aufzuhalten, aber
ihre Fundamente bröckeln.
Einige von uns israelischen Atheisten haben seit Jahrzehnten vor
dieser Gefahr gewarnt. Wir sagten, dass nationalistische Staaten
Kompromisse erreichen und Frieden schaffen können, wohingegen dies
für religiöse Bewegungen so gut wie unmöglich ist.
Säkulare
Führer können
ermordet werden, wie Muammar Gaddafi in Libyen und Yitzhak
Rabin
in Israel. Religiöse Bewegungen leben weiter, wenn das mit ihren
Führern geschieht.
(Attentäter
(assassins) sind eine
Abwandlung des arabischen Wortes Hashisheen. Der Gründer des 12.
Jahrhunderts dieser Sekte, der Alte Mann vom
Berge, pflegte seine Abgesandten mit Haschisch zu füttern und sie
auf äußerst gewagte Missionen zu senden. Der große Salah-ad-Din
(Saladin) erwachte einst in seinem Bett mit einem Dolch neben sich –
und eilte, um einen Deal mit dem Führer der Assassinen
zu machen)
ICH
BIN überzeugt, dass es im größten Interesse Israels ist, Frieden mit
dem palästinensischen Volk und mit der gesamten arabischen Welt zu
schließen, bevor diese fatale Infizierung die gesamte arabische –
und muslimische – Welt überflutet.
Die
Führer des palästinensischen Volkes, sowohl in der Westbank, als
auch im Gazastreifen, sind noch vergleichsweise moderate Menschen.
Das trifft sogar auf die Hamas, eine religiöse Bewegung, zu.
Ich
würde behaupten, dass auch für den Westen allgemein von vorrangiger
Bedeutung ist, den Frieden in unserer Region zu unterstützen. Die
Erschütterungen, die nun mehrere arabische Länder beeinträchtigen,
verheißen auch für sie nichts Gutes.
Wenn ich ein Dokument lese, wie den Bericht des
Quartetts von dieser Woche über den Nahen Osten, erstaunt mich ihr
selbstzerstörerischer Zynismus. Dieses lächerliche Dokument des
Quartetts - USA, Europa, Russland und UN -, soll ein Gleichgewicht
schaffen, indem es zugleich den Eroberer und denjenigen, der erobert
wurde, beschuldigt und dabei die Besetzung insgesamt völlig
ignoriert.
Wahrlich ein
Meisterstück der Heuchelei,
besser bekannt als Diplomatie.
Wenn
es keine Chance auf ernsthafte Bemühungen um Frieden gibt, wird der
Hass wachsen und wachsen, bis er uns alle verschlingt. Es sei
denn, wir dämmen ihn rechtzeitig ein.
(aus
dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf) |