Der unheilige Fluss
Uri Avnery, 7. Dezember 2013
HIER KOMMT also John Kerry noch einmal, zum
xten Male (Aber wer zählt?), um Frieden zwischen uns und den
Palästinensern zu machen.
Es sind äußerst lobenswerte Bemühungen.
Leider sind sie auf eine falsche Voraussetzung gegründet.
Nämlich: die israelische Regierung wünscht Frieden, der
sich auf die Zwei-Staaten-Lösung gründet.
Unwillig – oder unfähig – diese einfache
Wahrheit zu erkennen, schaut sich Kerry nach einem Weg um.
In der Hoffnung, Benjamin Netanjahu zu überzeugen,
versucht er, Schritte in verschiedene Richtungen zu machen.
In seiner Einbildung hört er Netanjahu ausrufen: „Ja, warum
habe ich nicht vorher daran gedacht?“
Er kommt also mit einer neuen Idee: erst
Israels Sicherheitsprobleme lösen, und dann sind all seine
Probleme gelöst
Reden wir jetzt nicht über die andern
Kernprobleme, sagt er, schauen wir auf Ihre Sorgen und
überlegen, wie wir mit ihnen umgehen Ich habe einen
ehrlichen, im Kampf bewährten General mit einem ehrlichen
Sicherheitsplan mitgebracht. Schauen Sie darauf.
Dieser Schritt gründet sich auf eine falsche
Voraussetzung – der ersten Voraussetzung – dass die
„Sicherheitsprobleme“, die von unserer Regierung zitiert
werden, authentisch sind. Kerry drückt den grundsätzlichen
amerikanischen Glauben aus, dass, wenn vernünftige Leute
rund um einen Tisch sitzen, um ein Problem analysieren, sie
eine Lösung finden werden.
Da gibt es einen Plan. General John Allen,
ein früherer Kommandeur im Afghanistankrieg, legt ihn auf
den Tisch und erklärt seine Vorzüge. Er nennt viele
Probleme. Das Hauptthema ist die beharrliche Behauptung der
israelischen Armee, egal, wie die Grenzen des zukünftigen
Staates Palästina aussehen: Israel muss noch lange Zeit das
Jordantal beherrschen.
Da das Jordantal etwa 20% der Westbank ist
und zusammen mit dem Gaza-Streifen nur über 22% des früheren
Palästina ausmacht, ist das ein Nichtstarter. Und das ist
für unsere Regierung die Hauptsache.
DER JORDAN, einer der bekanntesten Flüsse der
Weltgeschichte, ist tatsächlich jetzt nur noch ein kleiner
Bach über 250km lang und wenige Meter breit. Seine Quellen
liegen im syrischen Hochland (Golanhöhen), und er endet
ruhmlos im Toten Meer, das tatsächlich ein Inlandsee ist. Er
endet nicht so sehr als Fluss..
Wie erhielt er seine gegenwärtige
strategische Bedeutung?
Der folgende Bericht ist vereinfacht, aber
nicht weit entfernt von dem, was tatsächlich geschah.
Unmittelbar nach dem Junikrieg 1967, als
alles palästinensische Land in Israels Hände fiel,
schwärmten Gruppen landwirtschaftlicher Experten durch die
Westbank , um zu sehen, was landwirtschaftlich ausgenützt
werden könnte.
Der größte Teil der Westbank besteht aus
felsigen Hügeln, sehr malerisch, aber schwerlich geeignet
für moderne landwirtschaftliche Methoden Jeder Zoll
bebaubaren Landes wurde von den palästinensischen Dörfern
bebaut, indem sie Terrassen anlegten und andere alte
Methoden anwendeten. Das war nicht gut für neue Kibbuzim –
außer dem Jordantal.
Dieses Tal, ein Teil des riesigen
syrisch-afrikanischen Grabens, ist flach. Es erhebt sich
zwischen dem Fluss und dem zentralen palästinensischen
Bergrücken, der auch reichlich Wasser in sich hat. Für das
trainierte Auge eines Kibbuznik war es ideal für
landwirtschaftliche Maschinen. Es war auch dünn besiedelt.
Fast alle bedeutenden israelischen Führer der damaligen
Zeit hatten einen landwirtschaftlichen Hintergrund. Levy
Eshkol, der Ministerpräsident, war viele Jahre lang vor der
Errichtung des Staates, verantwortlich für die jüdischen
Siedlungsbemühungen. Der Verteidigungsminister Moshe Dayan
wurde in einem Kibbuz geboren und wuchs in einem Moshav
auf. Der Arbeitsminister Yigal Allon war nicht nur ein
bekannter General im Krieg von 1948, sondern auch ein
Führer in der größten Kibbuz-Bewegung. Sein Mentor war
Israel Galili, ein anderer Kibbuzführer, die graue Eminenz
von Golda Meir.
ES WAR Allon, der den militärischen Vorwand
lieferte, das Jordantal zu behalten.
Er dachte sich einen Sicherheitsplan für
das Israel nach-1967 aus. Sein Schwerpunkt war die
Annexion des Tales.
Bekannt als der „Allon-Plan“ hatte der Plan
einen enormen Einfluss auf das israelische politische
Denken und hat ihn noch. Er wurde nie offiziell von der
israelischen Regierung angenommen. Es gibt auch keine
autorisierte Karte des Planes. Aber er wurde endlos
diskutiert.
Der Allon Plan sieht die Annexion des ganzen
Jordantales vor, sowie der Küste des Toten Meeres und des
Gazastreifens. Um nicht den Rest der Westbank aus dem
hashemitischen Königreich Jordanien (Auch nach dem Fluss
genannt) heraus zu trennen, ließ der Plan einen Korridor
zwischen den beiden Gebieten offen und zwar in der Nähe von
Jericho.
Es wurde allgemein vermutet, Allon
beabsichtige, die Westbank an das Königreich zurückzugeben..
Aber er kümmerte sich nicht recht darum. Als ich ihn vom
Knessetrednerpult aus anklagte, die Errichtung eines
palästinensischen Staates zu verhindern, schickte er mir
einen Zettel, auf dem stand: „ Ich bin bereit, für einen
palästinensischen Staat in der Westbank. Warum bin ich denn
weniger eine Taube als du?“
DIE MILITÄRISCHEN Begründungen des
Allon-Planes waren – zu jener Zeit – nicht ganz lächerlich
Man muss sich an die Situation erinnern, im
Jahr 1968. Das Königreich Jordanien war offiziell ein
Feindesland, obwohl es immer ein geheimes Bündnis mit seinen
Königen gab. Der Irak war ein starker Staat, und seine Armee
war sehr von unserem Militär geachtet. Syrien wurde im
Krieg 1967 geschlagen, aber seine Armee war noch in Takt.
Saudi-Arabien mit seinem enormer Reichtum stand hinter
ihnen. (Wer hätte sich vorstellen können, dass die Saudis
eines Tages unsere Verbündeten gegen den Iran sein könnten?)
Der israelische militärische Alptraum war,
dass all diese militärischen Kräfte plötzlich auf
jordanischem Gebiet zusammenkommen, Israel angreifen, den
Fluss überqueren, sich mit den Westbank –Palästinensern
vereinigen und in das eigentliche Israel einfallen würden.
An einer bestimmten Stelle zwischen der Westbankstadt
Tulkarem und dem Mittelmeer ist Israel nur 14 (vierzehn)km
breit.
Das war vor 55 Jahren. Heute ist dieses Bild
in der Tat lächerlich. Die einzig mögliche militärische
Bedrohung, der Israel gegenübersteht, kommt vom Iran, und
es schließt einen Angriff von massenweisen Truppen vom Land
aus. Falls iranische Raketen auf uns zufliegen, sind
israelische Soldaten am Jordanfluss nur Zuschauer. Sie
werden nichts zum Anschauen haben. Die Herausforderung wird
lange vorher sein, bevor die Raketen näher kommen.
Was Warnstationen betrifft, so könnten sie in
meiner Wohnung in Tel Aviv errichtet werden, die etwa 100km
von hier zum Jordan machen keinen Unterschied.
Dasselbe gilt für andere
„Sicherheitsprobleme“, zum Beispiel Warnstationen in der
Westbank.
Der amerikanische General wird höflich
zuhören und muss sich zusammen nehmen, um nicht in lautes
Gelächter auszubrechen.
HEUTE IST das Jordantal praktisch
araberfrei. Von Zeit zu Zeit werden die wenigen noch
gebliebenen Palästinenser von der Armee schikaniert, um sie
davon zu überzeugen, wegzugehen.
Es gibt mehrere jüdische Siedlungen im Tal,
die von der Labor-Partei dort aufgebaut wurden, als sie noch
an der Macht war. Die Bewohner beschäftigen keine Arbeiter
aus den benachbarten palästinensischen Dörfern, sondern
billigere und tüchtigere Arbeiter aus Thailand. Das sehr
heiße Klima – das ganze Tal liegt unter dem Meeresspiegel –
erlaubt den Anbau tropischer Früchte.
Die einzige verbliebene palästinensische
Stadt ist Jericho, eine grüne Oase, die am tiefsten liegende
Stadt auf der Erde. Der palästinensische Unterhändler Sa’eb
Erekat lebt dort (obwohl sein Vater 1948 der Führer der
palästinensischen Kämpfer von Abu Dis war, jetzt ein Vorort
des annektierten Ost-Jerusalem) Manchmal treffen sich
Kerrys „Friedensunterhändler“ dort. Erekat, eine nette
Person, die ich bei Demonstrationen zu treffen pflegte, ist
in einem Zustand der Resignation - - in doppeltem Sinn.
NEHMEN WIR für einen Moment an, dass der
General Netanjahu überzeugen würde, dass sein
Sicherheitsplan wunderbar sei und alle militärischen
Probleme löse - was für einen Unterschied würde es machen?
Überhaupt keinen
Stattdessen würden andere Probleme in den
Vordergrund gerückt. Es gibt davon einen unerschöpflichen
Vorrat.
Dasselbe gilt für die andere Geschichte, die
Israels Zeitungen und TV-Programme in diesen Tagen füllt:
Die Vertreibung der Beduinen im Negev.
Die Beduinen haben die Sinai-Negevwüste seit
undenklichen Zeiten bewohnt. Alte ägyptische Steinmalereien
zeigen ihre charakteristischen Bärte. ( den- selben Bart,
den ich aus dem 1948er Krieg mitbrachte, nachdem wir im
Negev gekämpft hatten).
Während der ersten Jahre Israels wurden ganze
Beduinenstämme verdrängt und vertrieben. Die Vorwände waren
dieselben: um einen ägyptischen Angriff aus dem Süden zu
verhindern.
Der wahre Grund war natürlich, von diesem l
Land weg zu bekommen und sie durch jüdische Siedler zu
ersetzen. Die Fans der US-Geschichte werden sich an die
Behandlung der einheimischen Amerikaner erinnern. Die Armee
(unsere Armee) führte mehrere große Operationen durch, aber
die Beduinen haben sich seitdem vermehrt und sind zurück mit
einer viertel Million.
Beduinen sind mit ihren Ziegen über große
Strecken verteilt. Jetzt versucht die Regierung, sie wieder
los zu werden. Die Bürokraten wollen den Negev „judaisieren“
(Während sie gleichzeitig versuchen, Galiläa zu „judaisieren“).
Aber sie sind auch gegen die Idee, dass eine
verhältnismäßig kleine Gruppe von Leuten solch weites Gebiet
besetzt, obwohl es ödes Land ist.
Die Planer in Jerusalem und Tel Aviv zeichnen
alle Arten von Plänen, um die Beduinen in Kleinstädten zu
konzentrieren – im Gegensatz zu ihrer traditionellen
Lebensweise. Auf dem Papier sehen die Pläne vernünftig aus.
In Wirklichkeit sind sie entworfen, um dasselbe zu erreichen
wie die Pläne für das Jordantal: den Arabern das Land
wegzunehmen und jüdischen Siedlern zuübergeben.
Nenn‘ es zionistisch, nationalistisch oder
rassistisch – es ist schwerlich eine Einstellung, die zum
Frieden führt. Dies sollte das wirkliche Problem der beiden
sein: John Kerry und John Allen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)