Ein neuer Konsens
Uri Avnery, 24.9.05
Der irische Dichter
W.B.Yeats ( 1865-1939) beschrieb in seinem Gedicht „Die Wiederkunft“
das (vorausgehende) Chaos so:
„Sich drehend und wendend in weiter werdenden Kreisen
nimmt der Falke den Falkner nicht mehr wahr.
Alles bricht auseinander;
Die Mitte hält nimmer mehr stand,
in
der Welt nur noch Anarchie,
blut-trübe Welle verschlingt alles.
Feier der Unschuld verging in den Fluten
an
Überzeugung fehlt es den Besten,
während der Schlimmste voll Leidenschaft.“
Der alles
erklärende Satz ist - meiner Meinung nach – „die Mitte hält nicht
mehr stand “. Es ist eine militärische Metapher: auf dem klassischen
Schlachtfeld war die Hauptkraft in der Mitte konzentriert, während
die Flanken durch leichtere Kräfte abgesichert waren. Das Ziel des
Feindes war, indem er sich den Flanken zuwandte, die Mitte
aufzubrechen. Aber selbst wenn die Flanken zusammenbrachen – die
Schlacht war nicht verloren, solange das Zentrum standhielt.
Das gilt auch für
einen politischen Kampf. Alles dreht sich in der Öffentlichkeit um
die Mitte. Wenn jemand eine Revolution auslösen will, dann muss die
Stabilität der Mitte untergraben werden.
Dies war das Ziel
der Siedler, als sie ihre landesweite Kampagne gegen den
Gaza-Rückzug starteten. Sie endete mit einem völligen Kollaps, einer
Niederlage von historischem Ausmaß. Trotz des dramatischen
Spektakels beim Auflösen der Siedlungen, das bis ins kleinste Detail
von den Rabbinern und der Armee im voraus geplant war, gab es keine
wirkliche, öffentliche Krise, kein nationales Trauma. In Yeats
Sprache: „Das Zentrum hielt stand.“
Um Israel zu
verstehen, muss man das Wesen dieses Zentrums begreifen. Welche
Überzeugungen halten es zusammen?
Ein nationaler
Konsens ist nicht unwandelbar. Er verändert sich ständig -
allerdings sehr, sehr langsam in einem unsichtbaren, nicht zu
spürenden Prozess. Nur selten – infolge eines dramatischen
Geschehens – kann er sich rapide verändern. Das geschah z.B. im
Krieg 1967. Einen Tag bevor der Krieg begann, wagten nur wenige von
uns zu träumen, dass die arabische Welt den Staat Israel in seinen
damals bestehenden Grenzen anerkennen würde. Einen Tag danach war
dieser Traum zu einem Alptraum geworden; jeder, der von den „67er
–Grenzen“ sprach, wurde als Verräter angesehen. Aber das war eine
Ausnahmeerscheinung. Gewöhnlich bewegt sich der Konsens so langsam
wie ein Polargletscher.
Der Konsens der
israelisch-jüdischen Mehrheit ruht im Herbst 2005 auf drei Pfeilern:
Erstens: ein
jüdischer Staat. Das ist der gemeinsame Nenner fast aller Juden
in Israel. Wenn man den zentralen Punkt dieser Gesinnung nicht
begriffen hat, dann hat man von Israel nichts begriffen.
„Ein jüdischer
Staat“ ist ein Staat, der von Juden bewohnt wird. Freilich ist es
nicht ganz zu vermeiden, dass einige Bürger Nicht-Juden sind, aber
ihre Zahl muss auf einem absoluten Minimum gehalten werden, damit
sie keinen Einfluss auf den Charakter und die Politik des Staates
nehmen kann. Dieses Ziel gehört zur eigentlichen Substanz der
zionistischen Bewegung, die mit einem Buch begann: „Der Judenstaat“.
Ihre Stärke stammte aus der Jahrhunderte langen Verfolgung, als
Juden hilf- und wehrlos auf die Gnade von Nichtjuden angewiesen
waren.
Die jüdischen
Israelis wollen in einem eigenen Staat für sich allein leben, in dem
sie die Herren ihres Schicksals sind. Dieser Wunsch ist so sehr im
Herzen der meisten verankert, dass es keine Chance für einen
gegenteiligen Plan gibt – sei es „Groß-Israel“ oder ein „binationaler
Staat“. Infolgedessen gibt es auch überhaupt keine Chance dafür,
dass die Mehrheit einer massiven Rückkehr arabischer Flüchtlinge auf
das Gebiet Israels zustimmen würde.
Zweitens:
Vergrößerung des Staates. Die zionistische Bewegung wollte das
ganze Land, das damals Palästina genannt wurde, oder den größten
Teil davon und darin siedeln.
Auch dies ist ein
tiefer Wunsch, der ein wesentlicher Teil der Bewegung war, ein Teil
seiner „Gene“. Aber dieser zweite Wunsch ist dem ersten
untergeordnet. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, das ganze Land zu
erobern und die ganze palästinensische Bevölkerung los zu werden,
wie von der extremen Rechten vorgeschlagen wird, dann würde dies
sicher vielen gefallen. Aber die Mehrheit weiß, dass es diese
Möglichkeit praktisch nicht gibt. Die Folge davon ist, dass Teile
des Landes mit dichter palästinensischer Bevölkerung, „aufgegeben“
werden müssen.
Drittens:
Anerkennung des palästinensischen Volkes. Das ist eine große
Veränderung. Es widerspricht der klassischen Position der
zionistischen Bewegung, die von allen israelischen Regierungen bis
zum Oslo-Abkommen, eingenommen wurde, und in Golda Meirs berühmtem
Satz ausgedrückt ist: „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt
es gar nicht.“ Als wir in den 50er-Jahren die Anerkennung des
palästinensischen Volkes forderten, wurden wir als Verräter oder
Dummköpfe oder als beides betrachtet. Aber zwei Intifadas, die
internationale Situation und unsere beständige öffentliche
Meinungskampagne hat ihre Arbeit getan.
Die Kombination
dieser drei Grundelemente bildet das Bild des gegenwärtigen
Konsenses: Israel muss gewisse Gebiete der Westbank annektieren und
den Rest aufgeben .
Dieser Konsens
schließt den größeren Teil der politischen israelischen Landschaft
ein, von Ariel Sharon, Binyamin Netanyahu und Uzi Landau bis Shimon
Peres und Yossi Beilin.
In der
Meinungsverschiedenheit unter ihnen geht es nur um das Ausmaß der
Annexion. Es erinnert – mutatis mutandis – an die Geschichte, die
man Bernhard Shaw zuschreibt, der einer Herzogin eine Million Pfund
versprochen hatte, wenn sie mit ihm schläft. Als sie damit
einverstanden war, bot er ihr nur noch hundert Pfund an und sagte:
„Nun, da wir im Prinzip damit einverstanden sind, bleibt nur noch,
über den Preis zu verhandeln.“
Sharon hat in der
Vergangenheit über die Annexion von 58% der Westbank gesprochen, was
die Siedlungsblöcke, Groß-Jerusalem ( mit dem damit verbundenen
Gebiet um Maaleh Adumim), das Jordantal und die Gebiete dazwischen
einschloss. Er war bereit, den Palästinensern ihre Städte und die
dichtbevölkerten ländlichen Gebiete zu überlassen. Kürzlich deutete
er an, dass er das Jordantal aufgeben könnte. Er behauptet, dass
Präsident Bush diesem Plan zustimmt, aber während Sharon von
„Siedlungsblöcken“ redet, spricht Bush nur von
„Bevölkerungszentren“. Da besteht ein großer Unterschied: ein
„Siedlungsblock“ schließt nicht nur die große Siedlung selbst ein,
sondern auch die kleineren rund herum und das Land dazwischen. Ein
„Bevölkerungszentrum“ meint nur die große Siedlung selbst, also ein
viel kleineres Gebiet.
Ehud Barak schlug (
2000) in Camp David die Annexion von 21% der Westbank vor, wobei
das palästinensische Gebiet in mehrere Teile zerschnitten worden
wäre. Er wollte außerdem noch 13% des Landes im Jordantal pachten.
Bei der Taba-Konferenz später ging man auf 8 % Annexion hinunter,
aber das versuchsweise Abkommen wurde dann von der israelischen
Regierung abgelehnt.
Yossi Beilin war
der Vater des Konzepts der „Siedlungsblöcke“, als er vor langem
ein inoffizielles Abkommen mit Abu Mazen (Mahmoud Abbas) erreichte.
Die vor noch nicht langem stattgefundene Genfer Initiative - von
Beilin und Yasser Abed-Rabbo vorgeschlagene - spricht von einer
Annexion von nur 2,3% als Teil eines Gebietsaustausches.
Der Trennungszaun,
der jetzt von der Sharon-Regierung gebaut wird, ist darauf angelegt,
die anhaltende Erweiterung der Siedlungen zu fördern. Er annektiert
8% der Westbank entlang der Westgrenze zu Israel. Die Frage der
Annexion des Jordantales im Osten wird im Augenblick offen gelassen.
Dies sind die
Abgrenzungen des augenblicklichen Konsenses. Die Debatte in Israel
wird sich in der nächsten Zukunft auf die Ausdehnung und die Art
und Weise der Annexion konzentrieren.
Eine Einstellung
ist, dass man keine Verhandlungen mit den Palästinensern führen
kann, da sie mit großen Annexionen nicht einverstanden sein werden.
Deshalb wird Israel fortfahren, „einseitige“ Schritte vorzunehmen,
wie es beim Rückzug aus dem Gazastreifen praktiziert wurde – und
Gebiete ohne Abkommen annektieren. Nach dem Slogan: „Israel wird
seine Grenzen allein festlegen“. Die gegenteilige Version sagt,
dass Abkommen über eine begrenzte Annexion im Rahmen eines
Gebietsaustausches erreicht werden kann.
Die extreme Rechte
lehnt diesen Konsens ab. Sie wünscht keinen Kompromiss. Sie schwenkt
die göttlichen Eigentumsurkunden, die persönlich vom Allmächtigen
unterzeichnet wurden – und wünscht, die ganze Westbank und den
Gazastreifen zu annektieren. Ohne dies direkt zu sagen, bedeutet
dieses Konzept: die totale Vertreibung der Palästinenser aus
Palästina.
Die radikale
Friedensbewegung weist den Konsens von der anderen Seite ab. Sie
glaubt, dass die Zukunft Israels nur in einem dauerhaften Frieden
sicher ist, der sich auf ein Abkommen zwischen Gleichberechtigten
gründet und auf der Versöhnung zwischen beiden Völkern. Dieses
Lager glaubt, dass das Abkommen sich auf die Grenze von vor 1967,
die Grüne Linie, gründen muss und dass nur im Verlauf von
Verhandlungen klar werden wird, ob eine Übereinkunft eines fairen
Gebietsaustausches erreicht werden kann.
Doch die
Hauptsache ist, dass sich der Konsens bewegt. Der Konsens
Groß-Israel besteht nicht mehr. Die Teilung des Landes wird nun von
einer überwältigenden Mehrheit akzeptiert. Das heißt, man kann die
öffentliche Meinung beeinflussen. Die „Abtrennungs“-Affäre hat
gezeigt, dass Siedlungen aufgelöst werden können. Die Öffentlichkeit
akzeptierte dies, ohne mit der Wimper zu zucken. Die nächste Aufgabe
wäre, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass wirkliche
Verhandlungen begonnen werden müssen.
Es gibt einen
Verhandlungspartner und es gibt Verhandlungsmasse.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert ) |