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Napoleons Diktum
Uri Avnery, 2.
April 2011
ES WAR Napoleon, der sagte, es sei
besser, gegen eine Koalition zu kämpfen, als in ihr zu kämpfen.
Koalitionen bedeuten Probleme. Um eine
erfolgreiche militärische Operation durchzuführen, ist ein einiges
Kommando nötig und ein klares, abgestimmtes Ziel. Beides ist in
Koalitionen selten.
Eine Koalition setzt sich aus
verschiedenen Staaten zusammen, von denen jede ihre eigenen
nationalen Interessen und innerpolitischen Druck hat. Um ein
Abkommen über irgend etwas zu erreichen, braucht man Zeit, die von
einem entschlossenen Feind zum eigenen Vorteil genützt wird.
All dies ist in dem Krieg der
Koalition gegen Muammar Gaddafi deutlich geworden.
ES GIBT keinen anderen Weg, diesen
„exzentrischen“ Tyrannen los zu werden als mit reiner militärischer
Macht. Dies scheint jetzt offensichtlich zu sein.
Wie ein hebräischer Scherz lautet:
Gaddafi mag wahnsinnig sein, aber er ist nicht verrückt. Er nimmt
die Risse in der Koalitionsmauer wahr und ist schlau genug, sie
auszunützen. Die Russen enthielten sich im UN-Sicherheitsrat der
Stimme – was tatsächlich eine Zustimmung der Resolution bedeutet -
aber sonst nörgeln sie an jedem Schritt. Viele wohlmeinende und
erfahrene Linke rund um die Welt verurteilen alles, was die US
und/oder die Nato macht, egal was es ist.
Einige Leute verurteilen die „libysche
Intervention“, weil es keine entsprechende Aktion in Bahrain und im
Jemen gibt. Sicherlich ist es ein Fall von eklatanter
Diskriminierung. Aber es ist so, als ob ein Mörder fordert,
ungestraft zu bleiben, weil andere Mörder auch noch frei
herumlaufen. Minus mal Minus ist gleich Plus, aber zwei Morde
werden kein Nicht-Mord.
Andere behaupten, dass einige der
Koalitionspartner nicht besser als Gaddafi sind. Also warum auf ihm
herumhacken? Nun - er ist es, der die Welt provoziert und beim
Aufwachen der arabischen Welt im Wege steht. Mit der Notwendigkeit,
andere zu entfernen, muss man sich auch befassen, aber sollte in
keiner Weise einem Argument dienen, die gegenwärtige Krise nicht zu
lösen. Wir können nicht auf eine perfekte Welt warten – das kann
noch eine Weile dauern. In der Zwischenzeit lasst uns unser Bestes
in einer unvollkommenen Welt tun.
MIT JEDEM vorübergehenden Tag mit
Gaddafi und seiner Verbrecherbande der Macht wird die
Koalitionsmalaise schlimmer. Das gemeinsame Ziel „ die libyschen
Zivilisten zu schützen“ erschöpft sich langsam. Es war von Anfang
an eine höfliche Lüge. Das gemeinsame Ziel ist – und kann nichts
anderes sein – als den mörderischen Tyrannen zu entfernen. Seine
bloße Machtposition ist eine anhaltende tödliche Bedrohung für sein
Volk. Aber das wurde in der Koalition nicht ausgesprochen.
Mittlerweile ist klar, dass die
„Rebellen“ keine wirkliche militärische Macht sind. Sie sind keine
vereinigte politische Bewegung, und sie haben kein politisches –
geschweige denn militärisches Kommando. Sie können Tripolis nicht
selbst erobern, vielleicht nicht einmal, wenn die Koalition sie mit
Waffen ausrüstet.
Es geht nicht um eine irreguläre Kraft, die gegen eine reguläre
Armee kämpft, und nach und nach selbst zu einer organisierten
Armee wird – wie es bei uns 1948 war.
Die Tatsache, dass es keine
Rebellenarmee ist, über die zu sprechen es sich lohnt, mag ein
positives Phänomen sein – es zeigt, dass es keine verborgene,
unheimliche Macht ist, die aus den Kulissen auftaucht und darauf
wartet, Gaddafi durch ein anderes unterdrückerisches System zu
ersetzen. Es ist tatsächlich ein demokratischer Grasswurzelaufstand.
Aber der Koalition verursacht sie
Kopfschmerzen. Was nun? Gaddafi jetzt wie ein verletztes und darum
um so gefährlicheres Tier in seiner Höhle lassen, in jedem
Augenblick bereit, sich auf die Rebellen zu stürzen, wenn der Druck
weg ist? Hineingehen und selbst den Job tun, ihn zu entfernen?
Weiter reden und nichts tun?
Eines der heuchlerischsten – wenn nicht
gar lächerlichsten – Vorschläge ist, mit ihm zu verhandeln. Mit
einem irrationalen Tyrannen verhandeln? Worüber? Über ein
Verschieben des Massakers von Rebellen um sechs Monate? Über einen
Staat, der zur Hälfte demokratisch und zur andern Hälfte eine
brutale Diktatur ist?
Natürlich muss es Verhandlungen geben –
ohne und nach Gaddafi. Verschiedene Teile des Landes, verschiedene
„Stämme“, verschiedene politische Kräfte, die noch entstehen werden,
müssen über die zukünftige Gestalt des Staates verhandeln,
vorzugsweise unter der Schirmherrschaft der UN. Aber doch nicht mit
Gaddafi??
EIN ARGUMENT lautet, es sollte alles den
Arabern überlassen werden. Schließlich war es die „Arabische Liga“,
die nach einer No-fly-Zone rief.
Leider ist das ein trauriger Witz.
Diese Arabische Liga ( tatsächlich die
„Liga der Arabischen Staaten“) hat all die Schwächen und wenige der
Stärken einer Koalition. Sie wurde unter britischer Ägide am Ende
des 2. Weltkrieges gegründet als lose – sehr, sehr lose –
Vereinigung von Staaten mit sehr verschiedenen Interessen.
In gewisser Weise stellt sie die
arabische Welt so dar, wie sie ist, oder wie sie bis gestern war.
Es ist eine Welt, in der zwei ( und vielleicht drei) kontroverse
Trends am Werk sind.
Einerseits gibt es das ständige
Verlangen der arabischen Massen nach einer arabischen Einheit. Dies
ist real und tiefgründig und wird aus den Erinnerungen des
vergangenen arabischen Ruhmes genährt. Dies findet seinen
konkretesten augenblicklichen Ausdruck in der Solidarität mit dem
palästinensischen Volk Arabische Führer, die dieses Vertrauen
verraten haben, müssen jetzt den Preis zahlen.
Andrerseits gibt es die zynischen
Kalkulationen von Mitgliederstaaten. Vom ersten Augenblick ihrer
Existenz reflektierte die Liga das Labyrinth entgegengesetzter und
konkurrierender Regime. Kairo konkurrierte mit Bagdad um die Krone
der arabischen Führung, das alte Damaskus konkurrierte mit beiden.
Die Haschemiten hassen die Saudis, die sie aus Mekka vertrieben. Und
dann füge man diesem die unzähligen, ideologischen, sozialen und
religiösen Spannungen hinzu – um ein vollständiges Bild zu bekommen.
Das erste größere Projekt der Liga – die
Intervention 1948 im israelisch-palästinensischen Krieg – endete mit
einem arabischen Desaster, vor allem weil die Armeen Ägyptens und
Jordaniens versuchten, einander zuvor zu kommen, statt ihre
Energien gegen uns zu konzentrieren. Das war unsere Rettung. Seitdem
haben praktisch alle arabischen Regime die palästinensische Sache
jedes für die eigenen Interessen benützt – mit dem palästinensischen
Volk als Ball in einem zynischen Spiel.
Das gegenwärtige arabische Erwachen wird
nicht von der Liga angeführt; von Natur aus richtet es sich gegen
alles, was die Liga darstellt und vertritt. In Bahrain unterstützen
die Saudis dieselben Kräfte, gegen die die Rebellen in Tripolis
kämpfen. Als Faktor in der libyschen Krise wird die Liga am besten
ignoriert.
Es gibt eine dritte Ebene
inter-arabischer Beziehungen – die religiöse. Der Islam hält die
arabischen Massen fast überall streng zusammen, aber wie jede große
Religion hat der Islam tatsächlich viele Gesichter. Er bedeutet
etwas anderes für die Wahabiten in Riad, für die Taliban in Kandahar,
für Al-Qaida im Jemen, für die Hisbollahkämpfer im Libanon, für die
Royalisten in Marokko und die einfachen Bauern an den Ufern des
Nils. Aber es gibt ein unbestimmtes Gefühl von Gemeinschaft.
Deshalb empfindet jeder muslimische Araber, dass er zu drei
verschiedenen , aber sich überschneidenden Identitäten gehört mit
ungenau definierten Grenzen zwischen sich – dem „Watan“ – die lokale
Nation wie Palästina oder Ägypten; dem „Ka-um“, die pan-arabische
Identität, und der „Umma“, der Gemeinschaft aller islamischen
Gläubigen. Ich bezweifle, dass es zwei Gelehrte gibt, die mit
einander in diesen Definitionen übereinstimmen.
DA STEHN wir also, Menschen im März
2011, nachdem wir unserm grundsätzlich menschlichen Instinkt gefolgt
sind, eine bewaffnete Intervention gegen die drohende Katastrophe in
Libyen anzustoßen.
Es war richtig, es war anständig, dies
zu tun.
Mit gebührendem und aufrichtigem Respekt
gegenüber all jenen, die meinen Standpunkt kritisierten, bin ich
überzeugt, dass es der menschlichste war.
Im Hebräischen sagen wir: derjenige, der
anfängt, eine gute Tat zu tun, muss diese auch beenden. Gaddafi muss
beseitigt werden, dem libyschen Volk muss eine anständige Chance
gegeben werden, um sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Genau so das syrische Volk, die Jemeniten, die Bahrainis und all die
anderen.
Ich weiß nicht, wohin sie das führt –
jeden in sein eigenes Land. Ich kann ihnen nur alles Gute wünschen –
und hoffen.
Und ich hoffe, dass dieses Mal Napoleons
Ausspruch sich nicht als richtig erweisen wird.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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