„Töte
hundert Türken und dann ruh dich aus!…..“
Uri Avnery, 8.3.08
IN DIESER Woche
wurde ich an eine alte Geschichte über eine jüdische Mutter
erinnert, die sich von ihrem Sohn verabschiedet, der zum
Militärdienst in die Zarenarmee gegen die Türken einberufen wurde.
„Streng dich
nicht zu sehr an“, ermahnte sie ihn, „töte einen Türken und ruh dich
aus. Töte noch einen Türken und ruh dich wieder aus….“
„Aber Mutter,“
fragte er, „und wenn der Türke mich tötet?“
„Dich töten?“
rief sie aus „Warum? Was hast du ihm denn getan?“
Dies ist kein
Witz (und dies ist keine Woche für Witze). Es ist eine Lektion in
Psychologie.
Ich wurde daran
erinnert, als ich Ehud Olmerts Bemerkung las, dass nichts ihn so in
Rage gebracht habe, wie der Freudenausbruch in Gaza nach dem Angriff
in Jerusalem, bei dem acht Studenten einer religiösen Schule (Yeshiva)
getötet worden waren.
Zuvor - am
letzten Wochenende - hatte die israelische Armee im Gazastreifen
120 Palästinenser getötet, die Hälfte von ihnen Zivilisten, unter
ihnen Dutzende Kinder. Das war kein “Töte-einen-Türken-und-ruh-dich-aus“.
Das war „Töte-hundert-Türken-und-ruh-dich-aus!“ Aber Olmert versteht
das nicht.
DER
FÜNF-TAGE-Krieg im Gazastreifen (wie ein Hamasführer ihn nannte) war
nur ein kleines Kapitel im israelisch-palästinensischen Kampf. Das
blutrünstige Monster ist niemals satt, und mit dem Fressen wächst
nur sein Appetit.
Dieses Kapitel
begann mit der „gezielten Liquidation“ von fünf ranghohen Militanten
innerhalb des Gazastreifens. Die „Antwort“ war eine Salve von
Raketen, und dieses Mal nicht nur nach Sderot, sondern auch nach
Ashkalon und Netivot. Die „Antwort“ auf die „Antwort“ war der
Einfall der Armee und das massive Töten.
Das angegebene
Ziel war – wie immer – den Raketenbeschuss zu stoppen. Auf welche
Weise: indem man die größtmögliche Anzahl von Palästinensern tötet,
um ihnen eine Lektion zu erteilen. Die Entscheidung gründete sich
auf das traditionelle israelische Konzept: versetze der zivilen
Bevölkerung immer mehr Schläge, bis sie ihre Führung gestürzt hat.
Dies ist hundert Male versucht worden und ist hundert Male
missglückt .
Als ob noch ein
Beispiel für die Dummheit der Anhänger dieses Konzeptes fehlen
würde, hat der Ex-General Matan Vilnai eines geliefert, als er im
Fernsehen kürzlich sagte, dass die Palästinenser eine „Shoah“ über
sich selbst bringen würden. Das hebräische Wort Shoah ist in der
ganzen Welt bekannt und hat dort eine klare Bedeutung: der
Holocaust, der von den Nazis gegenüber den Juden ausgeführt wurde.
Vilnais Äußerung breitete sich wie ein Lauffeuer über die ganze
arabische Welt aus und verursachte eine Schockwelle. Ich selbst
erhielt Dutzende von Telefonanrufen und Emails aus der ganzen Welt.
Wie soll man Leute davon überzeugen, dass im hebräisch-sprachlichen
Alltag Shoah „nur“ eine „große Katastrophe“ bedeutet und dass der
General Vilnai, ein früherer Kandidat für den Posten des
Generalstabschefs nicht der Intelligenteste ist?
Vor ein paar
Jahren rief Präsident Bush zu einem „Kreuzzug“ gegen den Terrorismus
auf. Er hatte keine Vorstellung davon, dass für Hunderte von
Millionen Araber das Wort „Kreuzzug“ eines der großen Verbrechen
der Menschheitsgeschichte in Erinnerung bringt: das entsetzliche
Massaker, das von den Kreuzfahrern an Muslimen (und Juden) in den
Gassen Jerusalems begangen wurde. Bei einem Intelligenztest zwischen
Bush und Vilnai wäre die Frage nach dem Sieger wohl nur schwer zu
beantworten.
VILNAI VERSTEHT
nicht, was das Wort „Shoah“ für andere bedeutet, und Olmert versteht
nicht, warum man sich in Gaza nach dem Angriff auf die Yeshiva in
Jerusalem gefreut hat. Kluge Männer wie diese führen den Staat, die
Regierung und die Armee. Kluge Männer wie sie bestimmen die
öffentliche Meinung durch die Medien. Was ist ihnen gemeinsam?
Abgestumpfte Gefühllosigkeit gegenüber jedem, der nicht
jüdisch/israelisch ist. Hier liegen die Ursachen für die
Unfähigkeit, die Psychologie der andern Seite und dann die Folgen
ihrer Worte und Taten zu erkennen.
Dies drückt
sich auch in der Unfähigkeit aus, zu verstehen, warum die Hamasleute
behaupteten. im Fünf-Tage-Krieg gesiegt zu haben. Was für einen
Sieg? Schließlich wurden nur zwei israelische Soldaten und ein
israelischer Zivilist getötet - aber 120 Palästinenser, Kämpfer
sowie Zivilisten.
Aber diese
Schlacht wurde zwischen einer der stärksten Armeen der Welt
ausgefochten, die mit den modernsten Waffen der Welt ausgerüstet ist
und ein paar tausend Irregulären mit primitiven Waffen. Wenn die
Schlacht „unentschieden“ endet – und solch eine Schlacht endet
immer „unentschieden“, dann ist das ein großer Sieg für die schwache
Seite. So war es im 2. Libanonkrieg und nun im Gazakrieg.
(Binyamin
Netanyahu machte in dieser Woche eine der dümmsten Statements: er
forderte, die „israelische Armee müsste sich vom Abnützungskrieg zum
Entscheidungskrieg bewegen) In einem Kampf wie diesem gibt es aber
nie eine Entscheidung.)
Das wirkliche
Resultat wird nicht in materiellen und quantitativen Fakten
gemessen: so und so viele Tote, so und so viele Verletzte, so und so
viel zerstört. Die Resultate sind psychologischer Natur, die nicht
gemessen werden können und die daher für die Generäle vollkommen
unverständlich sind: wie viel Hass wurde dem so wie so schon
brodelnden Topf hinzugefügt, wie viel neues Potential an
Selbstmordattentätern wurde geschaffen, wie viele Leute haben Rache
geschworen und werden zu tickenden Bomben – wie der Jerusalemer
junge Mann, der an einem strahlenden Morgen dieser Woche aufwachte,
eine Waffe ergriff und zur Merkaz-Harav-Yeshiva ging, der Mutter
aller Siedlungen, und so viele tötete, wie er konnte.
Nun setzt sich
die politische und militärische Führung Israels zusammen und
diskutiert, was man tun sollte, wie „antworten“. Keine neue Idee
kam bis jetzt oder wird kommen, weil keiner dieser Politiker und
Generäle in der Lage ist, eine neue Idee hervorzubringen. Sie
können nur zu den hundert Dingen zurückkehren, die sie schon immer
getan haben und die hundert Male misslungen sind.
DER ERSTE
Schritt aus diesem Wahnsinn wäre, all unsere Vorstellungen und
Methoden der letzten 60 Jahre zu hinterfragen und mit dem Denken neu
zu beginnen, und zwar von Grund auf.
So etwas ist
immer schwierig. Es ist sogar schwieriger für uns, weil unsere
Führung keine Gedankenfreiheit hat – ihr Denken ist sehr eng mit dem
Denken der amerikanischen Führung verquickt.
In dieser Woche
wurde ein schockierendes Dokument veröffentlicht: David Roses
Artikel in Vanity Fair. Er beschreibt, wie US-Beamte in den
letzten Jahren der palästinensischen Führung jeden einzelnen Schritt
diktierten, ja, bis zum kleinsten Detail. Obwohl der Artikel die
israelisch-amerikanischen Beziehungen nicht berührt (an sich schon
eine überraschende Auslassung), ist es klar, dass der amerikanische
Kurs, einschließlich der kleinsten Dinge, mit der israelischen
Regierung abgesprochen war.
Warum
schockierend? Die Dinge waren im Großen und Ganzen schon bekannt.
Diesbezüglich brachte der Artikel nichts Neues: a) Die Amerikaner
befahlen Mahmoud Abbas, parlamentarische Wahlen abzuhalten, um
darzustellen, dass Bush dem Nahen Osten die Demokratie bringe; b)
Hamas gewann überraschend die Wahlen; c) die Amerikaner verhängten
über die Palästinenser einen Boykott, um die Wahlergebnisse zu
annullieren, d) Abbas wich einen Augenblick von der ihm diktierten
Politik ab und schloss unter der Schirmherrschaft (und unter Druck)
der Saudis ein Abkommen mit der Hamas; e) die Amerikaner machten dem
ein Ende und zwangen Abbas, alle Sicherheitsdienste an Muhammad
Dahlan abzutreten, den sie für die Rolle eines starken militärischen
Herrschers über Palästina ausgewählt hatten, f) die Amerikaner
lieferten Dahlan eine Menge Geld und Waffen, trainierten seine
Männer und befahlen ihm, einen Militärschlag gegen die Hamas im
Gazastreifen auszuführen, g) die gewählte Hamasregierung kam diesem
zuvor und führte selbst einen bewaffneten Gegenschlag aus.
All dies war im voraus bekannt. Neu daran
ist, dass die bisherige Mischung von Nachrichten, Gerüchten und
intelligenten Vermutungen jetzt zu einem zuverlässig
dokumentierten Bericht geworden ist, der sich auf offizielle
US-Dokumente gründet. Er ist ein Zeichen für die erschreckende
amerikanische Ignoranz, die sogar die israelische Unwissenheit über
den internen palästinensischen Prozess übertrumpft.
George Bush,
Condoleezza Rice, der zionistische Neokonservative Elliot Abrams und
das Sortiment amerikanischer Generäle konkurrieren - was Wissen und
Erkenntnisse betreffen - mit Ehud Olmert, Zipi Livni, Ehud Barak
und unsern Generälen, deren Verständnis gerade bis ans Ende der
Kanonenrohre ihrer Panzer reicht.
Die Amerikaner
haben inzwischen Dahlan vernichtet, indem sie ihn als ihren Agenten
öffentlich gemacht haben – im Sinne von „er ist ein Hurensohn aber
er ist unser Hurensohn“. In dieser Woche verabreichte
Condoleezza auch Abbas einen tödlichen Schlag. Er hatte am Morgen
verkündet, dass er die (bedeutungslosen) Friedensgespräche mit
Israel suspendiere – es war das Mindeste, was er als Antwort auf die
Grausamkeiten im Gazastreifen hatte machen können. Rice erhielt
diese Nachricht, während sie ein Frühstück in anregender
Gesellschaft mit Livni hatte; sie rief sofort Abbas an und befahl
ihm, diese Ankündigung zurückzunehmen. Abbas gab auf und zeigte sich
so seinem Volk in voller Blöße.
LOGIK WAR
nicht dem israelitischen Volk auf dem Sinai, sondern den alten
Griechen auf dem Olymp gegeben worden. Wollen wir sie trotzdem
anwenden?
Was versucht
unsere Regierung im Gazastreifen zu erreichen? Sie will die
Hamasherrschaft stürzen (und damit nebenbei auch ein Ende des
Raketenbeschusses gegen Israel ).
Sie versuchte
dies durch die Verhängung einer totalen Blockade über die
Bevölkerung in der Hoffnung, dass sie sich gegen die Hamas erhebe
und sie stürze. Dies misslang. Der alternative Weg wäre eine
Wiederbesetzung des ganzen Gazastreifens. Dies würde viele
Soldatenleben kosten, vielleicht mehr, als die israelische
Öffentlichkeit zu bezahlen bereit ist. Es würde auch nicht helfen,
weil die Hamas in dem Moment des israelischen Rückzuges
zurückkehren würde, wenn sich Israel zurückziehen würde. (Nach Mao
Tse-Tungs Rat an Guerillas: „Wenn der Feind vordringt, zieht euch
zurück. Wenn der Feind sich zurückzieht, dann dringt vor!“) .
Das einzige
Ergebnis des Fünf-Tage-Krieges ist die Stärkung der Hamas und
dass das Volk sich hinter sie stellt – nicht nur im Gazastreifen,
sondern auch in der Westbank und in Ostjerusalem. Die Siegesfeiern
der Hamas waren gerechtfertigt. Der Raketenbeschuss ging weiter. Die
Reichweite der Raketen wird größer.
Aber nehmen wir
einmal an, Israel hätte Erfolg gehabt und Hamas wäre besiegt worden.
Was dann? Abbas und Dahlan hätten nur auf israelischen Panzern als
Subunternehmer der Besatzung zurückkehren können. Keine
Versicherungsgesellschaft würde mit ihnen eine Lebensversicherung
abschließen. Und wenn sie nicht zurückkämen, dann entstünde ein
Chaos, aus dem dann wiederum extreme Kräfte entstehen würden, wie
wir sie uns nicht einmal vorstellen können.
Schlussfolgerung: Die Hamas ist hier. Sie kann nicht ignoriert
werden. Wir müssen mit ihr eine Waffenpause erreichen. Kein
Scheinangebot nach dem Motto: „wenn sie mit dem Schießen zuerst
aufhören, werden wir auch mit dem Schießen aufhören.“ Ein
Waffenstillstand ist wie ein Tango, dazu sind zwei nötig. Er muss
sich aus einem detaillierten Abkommen ergeben, das das Ende von
bewaffneten und anderen Feindseligkeiten einschließt – und zwar in
allen besetzten Gebieten.
Die Waffenpause
wird nicht halten, wenn sie nicht von beschleunigten Verhandlungen
für eine langfristige Waffenpause (Hudna) und Frieden begleitet
wird. Solche Verhandlungen können nicht mit der Fatah ohne Hamas
abgehalten werden, auch nicht mit der Hamas ohne Fatah. Was jetzt
also dringend nötig ist, ist eine palästinensische Regierung, die
beide Bewegungen einschließt. Sie muss Persönlichkeiten
einschließen, die das Vertrauen des ganzen palästinensischen Volkes
haben, wie z.B. Marwan Barghouti.
Das ist genau
das Gegenteil der gegenwärtigen israelisch-amerikanischen Politik,
die Abbas sogar verbietet, mit der Hamas zu reden. In der ganzen
israelischen Führung, genau wie in der amerikanischen Führung gibt
es niemanden, der das offen auszusprechen wagt. Deshalb wird es so
weiter gehen, wie es bis jetzt gegangen ist.
Wir werden
hundert Türken töten und dann ausruhen. Und ab und zu wird ein Türke
kommen und einige von uns töten.
Warum um Gottes
willen? Was haben wir ihnen denn getan?
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs/ Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
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