Es kann hier geschehen?
Uri Avnery, 27.9.08
ES
GIBT Namen, die einfach zu ihrem Besitzer passen. Professor Ze’ev
Sternhells Position hebt sich tatsächlich scharf gegen den dunklen
Himmel ab. Er warnt vor israelischem Faschismus. In dieser Woche
legten israelische Faschisten eine Rohrbombe an den Eingang seiner
Wohnung, und er wurde bei der Explosion leicht verletzt.
Die Wahl des Opfers scheint zunächst überraschend. Aber die Täter
wussten, was sie taten.
Sie griffen nicht die Aktivisten an, die jede Woche gegen die
Trennungsmauer in Bil’in und Na’alin demonstrieren. Sie griffen
nicht die Linken an, die jedes Jahr – auch dieses Jahr – die Hilfe
für die Palästinenser bei der Olivenernte in der Nähe der
gefährlichsten Siedlungen organisieren. Sie griffen nicht „die
Frauen in Schwarz“ an, die jeden Freitag gegen die Besatzung
demonstrieren oder die Frauen von Machsom Watch, die an den
Checkpoints ein aufmerksames Auge auf das, was dort durch das
Militär geschieht, werfen. Sie griffen eine Person an, deren ganze
Aktivität auf akademischem Feld liegt.
Die Kämpfe der Aktivisten vor Ort sind wichtig. Aber ihr Hauptzweck
ist der Einfluss auf die öffentliche Meinung. Dies ist das
Hauptschlachtfeld, und dort hat der Wissenschaftler eine wichtige
Rolle zu spielen.
Auf diesem Schlachtfeld stehen sich zwei Visionen gegenüber, zwei
Visionen, die so weit von einander entfernt liegen wie der Westen
vom Osten. Auf der einen Seite das fortschrittliche Israel, modern,
säkular, liberal und demokratisch, das in Frieden und in
Partnerschaft mit Palästina lebt und ein integraler Teil der Region
ist. Auf der andern Seite: ein fanatisches Israel, religiös,
faschistisch, abgeschnitten von der Region und der zivilisierten
Welt, ein Volk, das „abgesondert wohnt und sich nicht zu den Völkern
rechnet“ (4. Mose 23,9) und „wo das Schwert ohne Ende fressen soll?“
(2. Samuel 2,26)
Ze’ev Sternhell ist einer der herausragenden Vertreter der
fortschrittlichen Vision. Seine Positionen sind klar wie die Sterne,
entschlossen und scharfsinnig. Kein überraschendes Ziel für die
Neo-Nazi- Rohrbombenleger.
DAS FELD von Sternhells akademischer Forschung sind die Ursprünge
des Faschismus, ein Thema, das auch mich mein ganzes Leben lang
beschäftigt hat. Die Gründe unseres Interesses sind ähnlich: der
Nazismus hat unserer Kindheit und unserm Schicksal einen
unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Als Kind war ich Zeuge, wie
der Aufstieg des Nazismus in Deutschland hoch kam. Als Kind erlebte
Sternhell dies in Polen, als er – nach dem Tod seines Vaters –
seine Mutter und die Schwester im Holocaust verlor.
„Derjenige, der von kochendem Wasser verbrüht worden ist, ist auch
mit kaltem Wasser vorsichtig,“ sagt ein hebräisches Sprichwort.
Diejenigen, die erlebten, wie der Faschismus in das Leben ihrer
Kindheit einbrach, sind sensibel für die kleinsten Anzeichen des
Ausbruches dieser Krankheit. 1961 schrieb ich ein Buch „ Das
Hakenkreuz“ (das es nur auf Hebräisch gibt). In diesem Buch
versuchte ich, den Code der Ursprünge des Nazismus zu knacken. Am
Ende des Buches stellte ich die Frage: kann dies auch hier
geschehen? Meine eindeutige Antwort war: Ja.
Genau deshalb bin ich sensibel gegenüber jedem warnenden Anzeichen
in unserer Gesellschaft. Als Journalist und Magazinherausgeber
drehte ich den Scheinwerfer auf alle derartigen Anzeichen. Als
politischer Aktivist kämpfte ich gegen sie, in der Knesset und auf
der Straße.
Sternhell seinerseits ist - nach einer militärischen Karriere - ein
reiner Akademiker. Er gebraucht die Instrumente der Wissenschaft:
forschen, lehren und veröffentlichen. Er sucht nach exakten
Definitionen und schert sich nicht um Beliebtheit oder darum,
Provokation zu vermeiden. Vor Jahren behauptete er in einem seiner
Artikel, dass die gewalttätige Reaktion der Palästinenser auf die
Siedlungen ganz normal sei. Dadurch zog er sich die anhaltende Wut
der Siedler und der extremen Rechte zu, die sich darum bemühte, ihn
daran zu hindern, den Israel-Preis, Israels höchste Auszeichnung,
entgegen zu nehmen.
Jetzt sprechen die Rohrbomben.
WER LEGTE die Bombe? Ein einzelner Täter? Eine Gruppe? Ein neuer
Untergrund? Die Terroristen aus den Siedlungen? Das ist Sache der
Polizei und des Shin Bet.
Vom öffentlichen Gesichtspunkt aus ist die Sache viel einfacher: es
ist ganz klar, in welchem Blumenbeet dieses giftige Unkraut wächst,
welche Ideologie als Düngemittel dient, und wer sie verbreitet.
Israelischer Faschismus ist quicklebendig. Er wächst in einem
Saatbeet, das schon in der Vergangenheit verschiedene
national-religiöse Untergrundgruppen hervorbrachte: die Gruppe, die
die Heiligen Stätten des Islam auf dem Tempelberg zu zerstören
versuchte, der Untergrund, der die palästinensischen Bürgermeister
umzubringen versuchte, die „Kach“-Bande, den Täter des
Hebron-Massakers Baruch Goldstein, den Mörder des Friedensaktivisten
Emil Gruenzweig, den Mörder von Yitzhak Rabin und all die
Untergrundgruppen, die rechtzeitig entdeckt wurden und deshalb gar
nicht in der Öffentlichkeit bekannt wurden.
All diese Akte können nicht einfach Einzeltätern oder
„Außenseitergruppen“ zugeordnet werden. In der israelischen
politischen Gesellschaft existiert eindeutig ein faschistischer
Sektor. Seine Ideologie ist religiös-nationalistisch, und seine
spirituellen Führer sind meistens „Rabbiner“ , die das entsprechende
Weltbild und die praktische Anwendung formulieren. Diese jüdischen
Götzendiener arbeiten nicht im Geheimen - im Gegenteil. Sie bieten
ihre Waren offen auf dem Markt an.
Dieser Sektor ist in den ideologischen Siedlungen konzentriert. Das
heißt nicht, dass alle Siedler Faschisten sind. Aber die meisten
Faschisten sind Siedler. Sie sind konzentriert in bestimmten wohl
bekannten Siedlungen. Zufällig - oder auch nicht zufällig - liegen
alle diese Siedlungen mitten in der Westbank, jenseits der
Trennungsmauer. Die ersten von diesen wurden mit Hilfe des „Linken“
Yigal Allon im Raum Hebron und im Raum Nablus mit Hilfe des
„Linken“ Shimon Peres errichtet.
WÄHREND der letzten Monate haben sich die Vorfälle stark vermehrt,
bei denen die Siedler Palästinenser, Soldaten, Polizisten und
„Linke“ angreifen.
Diese Taten werden ganz offen begangen, um zu terrorisieren und
abzuschrecken. Siedler randalieren in palästinensischen Dörfern,
deren Land sie begehren, oder aus Rache. Es sind „Pogrome“ im
klassischen Sinn des Wortes: Ausschreitungen durch einen bewaffneten
Mob, der von Hass gegen hilflose Leute erfüllt ist, während die
Polizei und die Armee zusieht. Die Aufrührer zerstören, verletzen
und töten. In diesen Tagen geschieht dies immer häufiger.
In
den wenigen Fällen, bei denen die Armee oder die Polizei
einschreitet, wenden sie sich nicht gegen die Siedler, sondern gegen
den belagerten palästinensischen Bauern und die israelischen
Friedensaktivisten, die ihnen zu Hilfe kommen. Die Sprecher des
Sicherheitsestablishments und die Kommentatoren versuchen,
ausgewogen zu klingen und sprechen über „Aufrührer von Links und
Rechts“. Das ist ein Beispiel für Pseudo-Objektivität, das selbst
wiederum aus dem faschistischen Trickarsenal stammt.
Die Siedlerpogrome sind von Natur gewalttätig, und zwar in Gedanken
und Taten, während die Friedensaktivisten im Prinzip gewaltlos sind.
Wenn es Gewalt gibt, dann kommt sie von der Armee und der
Grenzpolizei unter dem Vorwand, dass einheimische Jugendliche
Steine geworfen hätten. Was nicht erwähnt wird, ist, dass die
Soldaten und Grenzpolizisten in schwerer Schutzkleidung und in
gepanzerten Jeeps die palästinensischen Demonstranten bis in die
Gassen ihrer Dörfer verfolgen.
Die „Kühnheit“ der rechtsextremen Schlägertypen – oder „rechte
Aktivisten“ wie die Medien sie höflicherweise nennen – nimmt täglich
zu. Sie tun, was ihnen gefällt, da sie genau wissen, dass ihnen kein
Leid angetan wird, die Polizei geht nicht weiter gegen sie vor, da
sie weiß, dass die Gerichte sie nicht entsprechend bestrafen werden.
JEDER, DER die Geschichte des Nazismus kennt, kennt auch die
schändliche Rolle, die die Gerichte und Polizeibehörden in der
deutschen Republik gegenüber Gesetzesübertretern gespielt haben,
deren erklärtes Ziel es war, dem demokratischen System ein Ende zu
bereiten . Die Richter verhängten lächerlich leichte Strafen für
Nazi-Aufrührer, die sie als „fehlgeleitete Patrioten“ betrachteten,
während kommunistische Aufrührer als ausländische Agenten und
Verräter bestraf t wurden.
Nun erleben wir dieses Phänomen hier. Die das Gesetz-übertretenden
Siedler erhalten symbolische Strafen, während die Palästinenser, die
wegen viel geringerer Straftaten angeklagt werden, harte Strafen
erhalten. Selbst ein Siedler, der seinen Hund auf einen
Kompaniekommandeur ansetzt, oder ein Siedler, der einem
Bataillonchef die Knochen bricht, geht heutzutage straffrei aus.
Das interne Armee-Justizsystem kann nur noch als monströs
bezeichnet werden: Der Kommandeur, der eine blutende, in starken
Wehen befindliche Frau am Kontrollpunkt aufhielt, was den Tod des
Neugeborenen verursachte, wurde nur mit zwei Wochen Arrest bestraft.
Der Kommandeur, der einem Soldaten befahl, einem gefesselten
palästinensischen Gefangenen ins Bein zu schießen, wurde „versetzt“,
was bedeutet, dass dieser Kriegsverbrecher in einer andern Einheit
dienen kann.
WEIST DAS Anwachsen und die Schwere der Vorfälle auf ein Anwachsen
des israelischen Faschismus hin? Auf den ersten Blick könnte man
diesen Eindruck bekommen.
Doch nach längerem Nachdenken glaube ich, dass das Gegenteil der
Fall ist
Die fanatischen Siedler wissen schon, dass sie die öffentliche
Meinung in Israel nicht mehr hinter sich haben und dass die normalen
Bürger sie als gefährliche Schlägertypen ansehen. Ihre Aktionen,
die man im Fernsehen sieht, erzeugen Widerwillen, ja sogar Abscheu.
Die Vision „ das ganze Land Erez Israel“ hat nicht nur an Höhe
verloren – sie zerschmettert auf dem Boden der Realität . Die
Zeloten handeln aus Schwäche und Frustration.
So
wie die Nazis die deutsche Republik hassten, beginnen diese
Fanatiker, den Staat Israel zu hassen. Und aus gutem Grund. Sie
sehen, dass sie keinen Platz im nationalen Konsens haben, der sich
um das Konzept „Zwei Staaten für zwei Völker“ festigt, ob dies nun
aus negativen Gründen akzeptiert wird - aus demographischen
Befürchtungen oder wegen der Last der Besatzung - oder aus
positiven Gründen, wie der Hoffnung auf Frieden und Wohlstand nach
dem Rückzug aus den besetzten Gebieten.
Die Diskussion über die Grenzen geht weiter, aber die Mehrheit sieht
die Trennungsmauer als die zukünftige Grenze (wie wir das von Anfang
an klar machten: die Mauer war nicht gebaut worden, um die
palästinensischen Selbstmordattentäter fern zu halten – wie
behauptet wurde - sondern als zukünftige Grenze zwischen den beiden
Staaten).
Das israelische Establishment wünscht das Land zwischen der Mauer
und der Grünen Linie zu annektieren und ist bereit, den
Palästinensern israelische Gebiete dafür zu geben. Was bedeutet
dies für die Siedler?
Die meisten Siedler leben in Siedlungen nahe der Grünen Linie, die
nach diesem Konzept Israel angeschlossen werden sollen. Dies sind –
nicht zufällig - die nicht ideologisierten Siedler. Ihnen
ging es um billige Wohnungen und um „Lebensqualität“ - nicht weit
von Tel Aviv oder Jerusalem entfernt. Diese Siedler werden
wahrscheinlich einem Frieden zustimmen, der sie innerhalb Israels
belässt.
Die große Mehrheit der extremen Siedler, die von einer
religiös-faschistischen Ideologie motiviert sind, leben in kleinen
Siedlungen östlich der Mauer, die aufgelöst werden müssen, wenn
Frieden einkehrt. Dies ist sogar unter den Siedlern eine kleine
Minderheit, die von einer radikalen Minderheit der extremen Rechten
unterstützt wird. Es ist dort, wo der israelische Faschismus wächst.
ES
GAB einmal eine Zeit, da schien es, als gäbe es eine rote Linie,
die parallel zur Grünen Linie lief – der national-religiöse
Terrorismus würde „nur“ Palästinenser treffen und keine Israelis.
Sogar Rabbi Meir Kahane, ein geborener Faschist, sprach so.
Diese Illusion wurde mit dem Mord an Yitzhak Rabin zunichte
gemacht. Israelischer Faschismus wurde wie jeder andere klassische
Faschismus befunden, der gegen den „fremden Feind“ wettert, aber
seinen Terrorismus gegen den „Feind von innen“ anwendet. Die
Rohrbombe am Eingang von Sternhells Wohnung müsste alle roten
Warnlampen aufleuchten lassen, da sie sich dem Mord an Emil
Gruenzweig anschließt und das Leben anderer bekannter
Friedensaktivisten gefährdet.
Die entscheidende Schlacht, die Schlacht für Israel, tritt in eine
neue Phase – viel gewalttätiger und viel gefährlicher. Aber
schlimmer als die Gefahr für einzelne ist die Gefahr für die
israelische Gesellschaft als Ganze. Besonders, wenn sie jetzt nicht
alle Ressourcen - Regierung, Polizei, Sicherheitsdienste, das
Gesetz, die Gerichte, die Medien und das Bildungssystem – für den
entscheidenden Einsatz gegen diese Gefahr mobilisiert.
Ich glaube nicht, dass Faschismus in unserer Gesellschaft die
Oberhand bekommt. Ich bin von der Stärke unserer israelischen
Demokratie überzeugt. Aber wenn ich in eine Ecke gestoßen und
gefragt werden würde: „Kann dies auch uns passieren?“ Dann bin ich
verpflichtet zu sagen: „Ja, es ist möglich.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert)
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