Grossmans Dilemma
Uri Avnery, 18.11.06
DAS SCHLÜSSELWORT war „Hamas“.
Es wurde auf der Tribüne ausgesprochen und unter
der Zuhörerschaft gedruckt verteilt – doch unter
unterschiedlichen Aspekten.
Auf der Tribüne der großen
jährlichen Gedenkfeier für Yitzhak Rabin vor zwei
Wochen hielt der Schriftsteller David Grossman, der
einzige Sprecher dieser Veranstaltung, eine
wichtige Rede. Als er zum Höhepunkt der Rede kam,
empfahl er dem Ministerpräsidenten: „ Reden Sie mit
den Palästinensern, Herr Olmert. Reden Sie mit ihnen
über die Köpfe der Hamas hinweg. Reden Sie mit den
Moderaten unter ihnen, zu denen, die, wie Sie und
ich, gegen Hamas und deren Ideologie sind!“
Zur selben Zeit hatten sich
Dutzende von Gush Shalom-Aktivisten unter die
Menge von 100 000 Teilnehmern der Rallye gemischt
und verteilten Sticker, die ganz einfach sagten:
„Frieden macht man mit Feinden – redet mit der
Hamas!“. Später wurde berichtetet, dass einige der
Leute sich weigerten, die Sticker zu nehmen, aber
der größte Teil nahm sie bereitwillig an.
Diese beiden Haltungen
illustrieren das Dilemma, in dem sich das
israelische Friedenslager jetzt befindet.
GROSSMANS Rede hat großes Echo
hervorgerufen. (Sie wurde sogar in der deutschen
Zeitung „Die Zeit“ abgedruckt.) Es war eine
brillante Rede, die Rede eines Schriftstellers, der
mit Worten umzugehen weiß. Die Rede erfüllte und
hob die Gemüter der Anwesenden und wurde von den
Medien als ein besonderes Ereignis gefeiert.
Grossman hat zwar nicht erwähnt, dass er den Krieg
anfangs befürwortete und seine Ansicht im Verlauf
des Krieges änderte, aber diese Tatsache verlieh
seiner eindringlichen Kritik an der Regierung sogar
noch mehr Glaubwürdigkeit.
Er erwähnte die persönliche
Tragödie, die ihn getroffen habe: in den letzten
Stunden des Krieges wurde sein Sohn Uri getötet:
„Das Unglück, das meine Familie und mich getroffen
hat, … gibt mir kein besonderes Privileg bei
unserer nationalen Debatte… Aber es scheint mir,
wenn man sich mit Tod und Verlust auseinander
setzen muss, dann ist dies auch mit mehr
Nüchternheit und Klarheit verbunden.“
Er prägte einen neuen Satz, der
sofort die Phantasie der Leute packte und den
öffentlichen Diskurs bestimmte. „Unsere Führung, die
politische wie die militärische, ist hohl“ erklärte
er. Und dies ist seit dem Krieg tatsächlich das
allgemeine Gefühl: die Führung ist bar jedes
Gehaltes, ohne jeden Plan, ohne Werte – sie hat nur
ein Ziel, nämlich zu überleben. Er sprach über die
„Führung“ – nicht über Ehud Olmert persönlich. Aber
dieses Adjektiv beschreibt genau diesen Mann selbst:
ein Parteifunktionär, dessen ganzes Talent darin
besteht, sich Komplotte und PR auszudenken, ohne
jede intellektuelle Tiefe, ohne Vision, ohne
inspirierende Persönlichkeit.
Eine andere Wortprägung wurde
auch gleich aufgegriffen. Als er über den Eintritt
von Avigdor Liberman als Minister für Strategie in
die Regierung sprach, sagte er: „Dies ist die
Ernennung eines zwanghaften Pyromanen, der nun zum
Chef der Feuerwehr des Landes gemacht wurde.“
Ich konnte mich mit 90% der
Rede vollkommen identifizieren. Ich konnte ihr in
allem zustimmen, was sie über den Zustand des
Staates aussagte, über die moralische und soziale
Krise, über das Format unserer Führer und die
nationale Notwendigkeit, Frieden zu erlangen. Wenn
ich auf der Tribüne gestanden hätte. (Was ganz
unmöglich ist, und wie ich später erklären werde),
dann hätte ich ganz ähnliche Dinge wie meine
Kollegen ausgesprochen, Dinge, die ich tatsächlich
seit Jahrzehnten gesagt habe.
Der Unterschied zwischen uns –
und es ist ein tief greifender Unterschied –
betrifft die übrigen 10 % seiner Rede - und noch
mehr das, wovon er nicht sprach..
Ich meine nicht Taktisches.
Z.B. erwähnte er in seiner ganzen Rede nicht die
Rolle der Labor-Partei in der Regierung während des
Krieges und bei der Ernennung von Liberman. Olmert
ist an allem schuld. Amir Peretz tauchte gar nicht
erst auf.
Nein, ich meine Wesentlicheres.
NACH DEN Frontalangriffen auf
die „hohle“ Führung, der es an Vision und Plänen
fehlt, hätte man erwarten können, dass Grossman den
auf dem Platz versammelten zehntausenden Peaceniks
seine eigene Vision und seinen Plan für die Lösung
des Problems vorlegt. Aber so klar und deutlich
seine Kritik war – so vage und banal waren seine
Vorschläge.
Was schlug er vor? Mit den
„Moderaten“ unter den Palästinensern zu reden „über
die Köpfe“ ihrer gewählten Regierung, um einen
Friedenprozess noch einmal zu beginnen. Das ist
nicht sehr originell. Das wurde schon von Ariel
Sharon gesagt (und nicht getan), das wurde auch von
Ehud Olmert gesagt (und nicht getan) und auch von
George Bush.
Diese Unterscheidung zwischen
„Moderaten“ und „Fanatikern“ auf der arabischen
Seite ist oberflächlich und irreführend. Im Grunde
ist es eine amerikanische Erfindung. Es trifft nicht
das wirkliche Problem. Es beinhaltet ein großes Maß
an Verachtung für die arabische Gesellschaft. Dies
führt in die Sackgasse.
Grossmans Vorschlag lenkt die
Diskussion in die Richtung „mit wem reden “ und „
mit wem nicht reden “, anstelle klar und deutlich
festzustellen worüber geredet werden muss:
über die Beendigung der Besatzung, über die
Errichtung des Staates Palästina mit Ost-Jerusalem
als seiner Hauptstadt, über den Rückzug zu den
Grenzen von vor 1967 und über die Lösung des
Flüchtlingsproblems.
Man könnte vernünftigerweise
erwarten, dass solch eine Rede auf solch einem Platz
und bei solch einer Gelegenheit klar und deutlich
diese Statements enthält, anstelle von den sich
immer wiederholenden, absichtlich verschwommenen
Formeln. „ Geh zu ihnen mit den kühnsten,
ernsthaftesten Plänen, die Israel vorzulegen in der
Lage ist. Ein Plan, bei dem alle Israelis und
Palästinenser mit Augen im Kopf die Grenzen unserer
und ihre Verweigerung und Konzessionen erkennen
können.“ Das klingt gut. Aber was bedeutet es?
Nun, es ist klar, dass man der
gewählten palästinensischen Führung – egal wie sie
zusammengesetzt ist - solche Vorschläge machen
muss. Die Idee, dass wir nur mit einem Teil des
palästinensischen Volkes (im Augenblick die
Minderheit) verhandeln und den andern Teil (jetzt
die Mehrheit) boykottieren, ist falsch und in die
Irre führend. Sie ist auch von der anmaßenden
Arroganz durchdrungen, die das Kennzeichen der
Besatzung ist.
Grossman hat viel Mitgefühl mit
den Armen und Unterdrückten in der israelischen
Gesellschaft, und er drückte dies in bewegenden
Worten aus. Offensichtlich versucht er, wirklich ein
ähnliches Mitgefühl für das Leiden der
palästinensischen Gesellschaft zu haben. Aber hier
versagte er. Es ist ein Mitgefühl ohne Pathos, ohne
wirkliche Gefühle.
Er sagt, dass dies ein Volk
sei, das „nicht weniger gequält“ sei, als wir. Nicht
weniger als wir? Gaza wie Tel Aviv? Rafah wie
Kfar Sava? Er bemühte sich, eine Symmetrie zwischen
den Besetzern und den Besetzten herzustellen, die so
typisch für einen Teil der Peaceniks geworden ist.
Das ist ein grundlegender Fehler. Das stimmt sogar,
wenn Grossman das unermessliche Leiden der Juden
während der Jahrhunderte meinte – selbst dies
rechtfertigt nicht das, was wir jetzt den
Palästinensern antun.
Über die Palästinenser, die in
einer bewiesenermaßen demokratischen Wahl Hamas
wählten, sagt Grossman, dass sie „Geiseln eines
fanatischen Islam“ seien. Er ist sich sicher, dass
sie sich in dem Augenblick vollkommen ändern würden,
wenn Olmert „mit ihnen spräche“. Das ist - milde
ausgedrückt - eine gönnerhafte, herablassende
Haltung. „Warum setzen wir nicht all unsere
Flexibilität, all unsere israelische Kreativität
ein, um unsern Feind aus der Falle zu ziehen, in die
er sich selbst begeben hat?“ Das heißt: wir sind die
denkende, kreative Partei, und wir müssen die armen
Araber aus ihrem blinden Fanatismus befreien.
Fanatismus? Ist dies vielleicht
ein genetischer Zug? Oder ist es der normale Wunsch,
sich von einer brutalen, erwürgenden Besatzung zu
befreien, einer Besatzung, aus deren verheerendem
Griff sie sich nicht befreien konnten, als sie eine
„moderate“ Regierung wählten?
Dasselbe trifft auch auf
Grossmans zweiten Vorschlag zu, der Syrien betraf.
Auf den ersten Blick ein positiver Vorschlag. Olmert
soll jeden Appell eines arabischen Führers
akzeptieren, der Frieden vorschlägt. Ausgezeichnet.
Aber was hat er Olmert tatsächlich vorgeschlagen?
„Biete ihm (Assad) einen Friedensprozess an, der
mehrere Jahre dauert; erst am Ende, wenn er alle
Bedingungen erfüllt und allen Anforderungen
entspricht, wird er die Golanhöhen erhalten d.h. er
wird ihn in einen Prozess eines fortdauernden
Dialogs zwingen.“ David Ben Gurion oder Ariel Sharon
hätten es nicht besser sagen können.
Bashar al-Assad ist sicher
nicht vor lauter Begeisterung von seinem Stuhl
gefallen, als er dies las.
UM GROSSMANS Worte zu
verstehen, muss man den Hintergrund kennen.
Es gibt nicht nur ein
israelisches Friedenslager, sondern zwei – und der
Unterschied zwischen ihnen ist groß.
Das 1. Friedenslager, zu dem
sich Grossman zählt, nennt sich selbst
„zionistisches Friedenslager“. Sein strategisches
Konzept: es sei falsch, vom sog. „nationalen
Konsens“ abzuweichen. Wenn man den Kontakt mit dem
Konsens verliert – so glaubt man – würde man die
Öffentlichkeit nicht gewinnen. Deshalb müssen wir
unsere Botschaft so zurechtschneidern, dass die
Allgemeinheit sie im Großen und Ganzen jederzeit
annehmen kann.
Die „Frieden-Jetzt“-Bewegung
befindet sich im Zentrum dieses Lagers und noch
einige andere Gruppen und Persönlichkeiten gehören
dazu. Es ist eine vollkommen legitime Strategie,
wenn sie nur Erfolg gehabt hätte, die Massen zu
gewinnen. Leider geschah dies nicht: „Frieden
Jetzt!“, das 1982 Hunderttausende bei einer
Protest-Demo gegen das Sabr- und Shatila-Massaker
mobilisieren konnte, gelang es letzte Woche, nur 150
Demonstranten gegen das Beit Hanun-Massaker auf die
Beine zu bringen. (Die anderen Bewegungen, die sich
der Demonstration anschlossen, brachten es auf eine
ähnliche Anzahl. Zusammen waren wir etwa 300). Etwa
dieselbe Anzahl kam in letzter Zeit bei anderen
Demonstrationen von Paece-Now zusammen, auch bei
denen, die mehr Zeit für Vorbereitungen hatten.
Dieses Lager hält engen Kontakt
mit zwei politischen Parteien, mit Meretz und mit
dem linken Flügel von Labor. Fast alle Gründer und
Führer von Peace Now waren Kandidaten dieser beiden
Parteien, und einige von ihnen wurden in die
Knesset gewählt. Eine der Gründerinnen ist jetzt die
Ministerin für Bildung in der
Olmert-Peretz-Kriegsregierung.
DAS ANDERE Lager, gewöhnlich
als das „radikale Friedenslager“ bezeichnet, führt
eine entgegen gesetzte Strategie durch: unsere
Botschaft auch dann laut und deutlich zu
verkündigen, wenn sie unbeliebt und weit entfernt
vom üblichen Konsens liegt. Die Hypothese ist, dass
der Konsens uns folgt, wenn unsere Botschaft sich in
der Realität als richtig erwiesen hat.
Dieses Lager, zu dem „Gush
Shalom“ gehört, (und in dem ich aktiv bin ) und
Dutzende anderer Organisationen, engagiert sich in
täglich tatkräftiger Weise: beim Kampf gegen die
Mauer und all die anderen schlimmen Dinge der
Besatzung bis zum Boykott gegen die Siedlungen und
die Unterstützung der Soldaten, die sich weigern, in
den besetzten Gebieten ihren Dienst zu tun.
Dieses Lager unterscheidet sich
auch vom anderen dadurch, dass es enge Kontakte zu
den Palästinensern pflegt, mit der Führung und mit
den einfachen Dorfbewohnern, die gegen die Mauer
kämpfen, die ihnen das Land raubt. Vor nicht langer
Zeit begann „Gush Shalom“ einen Dialog mit
Hamasführern. Diese Kontakte ermöglichen es uns, die
palästinensische Gesellschaft in all ihrer
Komplexität, ihren Gefühlen, Ansichten, Forderungen
und Hoffnungen besser zu verstehen.
Mit keiner Partei verbunden,
ist diesem Lager bewusst, dass es keine
Massenbewegung wird. Das ist der Preis, den es
zahlen muss. Es ist unmöglich, allgemein beliebt zu
werden, während man einen Standpunkt einnimmt und
Aktionen ausführt, die gegen den Konsens sind. Wie
kann sie dann noch Einfluss ausüben? Wie kann es
sein, dass im Laufe von Jahren viele ihrer
Standpunkte von der Allgemeinheit angenommen werden,
einschließlich solcher Leuchten wie Grossman?
Wir nennen dies den
„Zahnradeffekt“. Ein kleines Zahnrad mit seinem
eigenen Antrieb setzt ein größeres in Bewegung, das
wieder ein größeres bewegt usw. bis es das Zentrum
des Konsenses trifft. Was wir heute sagen, wird
„Peace Now“ morgen sagen und am Tag danach ein
großer Teil der Öffentlichkeit.
Dies wurde in der Vergangenheit
mehrfach bewiesen - auch in den vergangenen Wochen
während des 2. Libanonkrieges. Wir riefen am ersten
Kriegstag zu einer Demo gegen den Krieg auf, als die
überwiegende Mehrheit ihn noch offen und rückhaltlos
unterstützte, auch Amos Oz, David Grossman u.a. Aber
als die wirklichen Motive und die tödlichen Folgen
begannen, bekannt zu werden, änderte sich der
Konsens. Unsere Demonstrationen wurden größer, statt
200 kamen 10 000 Demonstranten. Sogar „Peace Now“,
das zunächst mit Meretz den Krieg unterstützte,
änderte seinen Standpunkt und rief gegen Ende des
Krieges gemeinsam mit Meretz zu einer eigenen
Anti-Kriegs-Demo auf. Schließlich bewegte sich der
ganze „nationale Konsens“.
Es mag stimmen, dass das
„radikale Friedenslager“ und das „zionistische
Friedenslager“ - während sie verschiedene Rollen
spielen – sich einander im entscheidenden Kampf um
die öffentliche Meinung ergänzen.
GROSSMANS REDE sollte in
diesem Geist beurteilt werden.
Es war eine bewegende Rede, ja
eine großartige Rede. Sie enthielt nicht alles, was
wir uns wünschten, aber für Grossman und das Lager,
zu dem er gehört, war es wirklich ein großer Schritt
in die richtige Richtung.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)