Für wen läuten die Glocken?
Uri Avnery, 23.4.05
Einem
iranischen Techniker mit Namen Jalal-a-Din Taheri, der im
Atomreaktor in Bushehr gearbeitet hatte, ist es gelungen, nach
Europa zu fliehen, wo er die Pläne der Ayatollahs, Atombomben zu
produzieren, preisgibt.
Taheri wurde
daraufhin von aller Welt zum Helden erklärt.
Friedensorganisationen nominierten ihn für den Nobelpreis.
Präsident Bush lobte seinen Mut. Ariel Sharon lud ihn ein, nach
Israel zu kommen und hier zu leben, ja, nannte ihn einen
Gerechten der Nationen. Die Ayatollahs denunzierten ihn als
Verräter, Ungläubigen, Kreuzfahrer und Zionisten.
Dies ist
natürlich eine völlig fiktive Geschichte. Aber sie entspricht
genau der Geschichte von Mordechai Vanunu, der von fast allen
Israelis als verachtenswerter Verräter betrachtet wird – was
beweist, dass Verrat genau wie Pornographie ein geographisches
Problem ist.
In dieser Woche
nützte ich mein Privileg als früheres Mitglied der Knesset, um
an einer Sitzung des Knessetkomitees für „Verfassung, Gesetz und
Justiz“ teilzunehmen, in dem die Vanunu-Affäre diskutiert wurde.
Im Laufe der Sitzung beschimpften Knesset-Mitglieder einander in
der Sprache von Fischhändlern (wobei ich die Fischhändler nicht
beleidigen will). Zwei Likudmitglieder, Ronie Bar-On ( der
einmal für ein paar Stunden als Staatsanwalt fungierte, bevor
er schmachvoll abgesetzt wurde) und Yechiel Hazan, schrieen,
dass Vanunu keine Menschenrechte habe, da er kein Mensch sei. Es
muss gerechterweise erwähnt werden, dass der Vorsitzende des
Komitees, Michael Eytan, auch ein Likudmitglied, diese
Äußerungen heftig verurteilte.
Vanunu, der
1986 in einer britischen Zeitung einige Nukleargeheimnisse
Israels enthüllt hatte, wurde bald danach vom Mossad entführt,
nach Israel geschmuggelt und vor Gericht gebracht. Er hat seine
Strafe von 18 Jahren Gefängnis abgesessen. Die meiste Zeit wurde
er in totaler Isolation gehalten. (Er sagte mir, um psychisch
gesund zu bleiben, las er immer wieder laut das Neue Testament
auf Englisch und verbesserte so seine Kenntnisse dieser Sprache,
auf der er jetzt anstelle von Hebräisch zu sprechen besteht.
Bei seiner
Entlassung wurden ihm strenge Einschränkungen auferlegt: es
wurde ihm verboten, ins Ausland zu reisen, ohne vorherige
Mitteilung an die Behörden sich innerhalb des Landes zu bewegen,
mit Ausländern zu sprechen, Interviews zu geben. Der Oberste
Gerichtshof hat diese Beschränkungen bestätigt. Vanunu hat die
meisten übertreten – und vor einigen Wochen wurde er dafür
angeklagt.
Die
Einschränkungen waren ihm zunächst für ein Jahr auferlegt
worden, das in dieser Woche zu Ende ging.
Das
Knessetkomitee war dabei, die Möglichkeit zu diskutieren, sie zu
verlängern. Aber ein paar Stunden vor der Sitzung unterzeichnete
der Innenminister Ophir Pines (Labor-Partei) eine Order, die das
Verbot, das Land zu verlassen, auf ein weiteres Jahr
verlängerte. Und der Armee-Kommandeur der Heimatfront
unterzeichnete eine Order, die die anderen Beschränkungen
verlängerte ( nach den Notstandgesetzen).
Bei der
Komitee-Sitzung legte der Vertreter des Staatsanwalts die
Regierungsargumente für die Verlängerung dar: a) Vanunu hat noch
immer gefährliche Geheimnisse „in seinem Kopf“, b) Er hat ein
„phänomenales“ Gedächtnis; c) wenn ihm die Gelegenheit gegeben
wird, wird er diese Geheimnisse im Ausland preisgeben.
Welche Beweise
gibt es dafür?
a)
in einem der Briefe an
seinen Briefpartner im Ausland schrieb Vanunu aus dem Gefängnis,
dass er noch im Besitz vieler Geheimnisse sei, die er noch nicht
enthüllt habe. Er kündigte an, dass er beabsichtige, diese
Geheimnisse bei der nächst besten Gelegenheit zu enthüllen.
b)
Zwei Jahre vor seiner
Entlassung – d.h. 16 Jahre nach seiner Arbeit in der
Nuklear-Anlage – zeichnete er in seiner Zelle nur nach seinem
Gedächtnis detailliert und bewundernswert genau Skizzen des
Produktionsprozesses auf. Diese Zeichnungen wurden unter mehr
als tausend Dokumenten in seiner Zelle gefunden und
beschlagnahmt.
Diese Fakten sind mehr als seltsam.
Ein Gefängnisinsasse, der vom Gefängnis aus Briefe verschickt,
weiß natürlich, dass sie zensiert werden. Vanunu musste wissen,
dass nicht nur die Gefängnisbehörde, sondern auch der
Geheimdienst sie lesen werde. Als er diese Zeichnungen
anfertigte, wusste er sicher, dass man sie beschlagnahmen
werde.
All dies macht deutlich, dass er von
Anfang an seine Peiniger provozieren und ihnen zeigen wollte,
dass er nicht gebrochen wurde. Es ist schwierig, diese Dokumente
ernst zu nehmen, wie es der Oberste Gerichtshof vor acht
Monaten tat, als er die Einschränkungen bestätigte. Eine Person,
die schreckliche Geheimnisse enthüllen will, verkündet dies den
Behörden nicht im voraus und fertigt seinen Verfolgern keine
Zeichnungen an
Und nun zur Sache selbst:
Hat er in
seinem Kopf noch Geheimnisse, die er in der Vergangenheit noch
nicht enthüllt
hat? Das
ist unwahrscheinlich.
Zunächst beziehen sich
Vanunus Kenntnisse auf Prozesse, die 19 Jahre zurückliegen.
Können solche Kenntnisse heute noch von Nutzen sein? Das ist
kaum zu glauben. Wie das Knessetmitglied Zehava Galon (Yahad-Partei)
bei der Sitzung bemerkte: „ Allein der Gedanke, dass sich seit
19 Jahren nichts an der Technik von Israels Nuklearanlage
verändert hat, jagt mir großen Schrecken ein!“
Zweitens: bevor die britische
Zeitung Vanunus Enthüllungen veröffentlichte, war er zwei volle
Tage von einem der führenden Atomwissenschaftler ins
Kreuzverhör genommen worden. Man kann sich kaum vorstellen,
dass er danach noch Geheimnisse hat.
Drittens grenzt es an
Paranoia, daran zu denken, dass er so raffiniert war, vor 18
Jahren zu entscheiden, Geheimnisse zurückzuhalten, um sie 20
Jahre später zu veröffentlichen.
Viertens: Vanunu ist kein
Wissenschaftler. Er arbeitete als Techniker im Reaktor. Selbst
wenn er ein „phänomenales“ Gedächtnis hat und seine Zeichnungen
unheimlich genau sind, ist kaum anzunehmen, dass sie heute noch
von Relevanz sind.
Wenn dem so ist, wie soll man die
noch einmal auferlegten Beschränkungen erklären ?
Der Vertreter des Staatsanwalts
bestand darauf, dass es nicht die Absicht sei, ihn für Dinge zu
bestrafen, die er in der Vergangenheit getan habe, das wäre
illegal ( da er schon verurteilt worden war und seine ganze
Gefängnisstrafe abgebüßt hatte) sondern, um ihn daran zu
hindern, neue Verbrechen zu begehen ( weitere Geheimnisse zu
enthüllen).
Das bezweifle ich. Man kann Vanunu
nicht zum Schweigen bringen. Die ganze Welt ist an ihm
interessiert. Und je mehr er verfolgt wird, um so größer wird
das Interesse. Vanunu kann nicht abgeschreckt werden – er ist
einfach nicht abschreckbar ( um ein neues Wort zu prägen). Ganz
im Gegenteil Es ist auch unmöglich, ihn daran zu hindern,
Kontakt mit Ausländern aufzunehmen.
(Vor ein paar Monaten saß ich am
Abend im Garten des Amerikanischen Koloniehotels in
Ostjerusalem und unterhielt mich mit der englischen
Schauspielerin Vanessa Redgrave, einer unermüdlichen
Mitstreiterin für israelisch-palästinensischen Frieden. Auf
einmal sah ich, Vanunu vorbeigehen. Ich lud ihn ein, sich zu uns
zu setzen. Vanessa Redgrave war sehr daran interessiert, von
seinen Gefängniserlebnissen zu erfahren. Wie kann man so etwas
verhindern?)
Da gibt es eigentlich nur eine
Absicht: Rache. Yechiel Horev, der Chef der Inneren
Sicherheitsabteilung des Verteidigungsministeriums kann Vanunu
nicht vergeben, dass er seine Sicherheitsvorkehrungen lächerlich
gemacht hat, indem er durch Teile der Anlage strolchte, in denen
er nichts zu suchen hatte, und in Israels geheimster Anlage
ungestört Fotos machte und sie ins Ausland schmuggelte. Das ist
tatsächlich ärgerlich. Aber auch Rache muss ihre Grenzen haben.
Um so mehr als der Staatsanwalt auf
eine Frage von Knessetmitglied Etti Livni hin zugeben musste,
dass dieselben Argumente, die jetzt gemacht wurden, auch nach
einem weiteren Jahr, und ebenso auch nach fünf oder zehn Jahren
Gültigkeit haben. Mit andern Worten heißt dies, die
Beschränkungen gelten lebenslang.
Meine persönliche Meinung zum
Wesentlichen dieser Sache:
Atomwaffen sind eine Bedrohung für
uns alle. Es ist auf Dauer unmöglich, die nukleare Aufrüstung in
mehr Ländern des Nahen Ostens zu verhindern – Iran zuerst.
Andere Arten von Massenvernichtungswaffen ( chemische und
biologische) gibt es schon in den Nachbarländern.
Seit Jahren hatte Israel das
nukleare Monopol in der Region. Meine Freunde und ich warnten
davor, dass dieses Monopol zeitbegrenzt sein werde und dass wir
die Zeit nützen müssten, um Frieden zu erreichen. Die Hybris
unserer Führer hat dies verhindert.
Jetzt müsste es das Ziel sein, die
ganze Region unter strenger internationaler und wechselseitiger
Inspektion - als Teil eines umfassenden Friedensabkommens - von
Massenvernichtungswaffen zu befreien. Das wäre möglich und
ausführbar. Wenn Vanunu die Glocken läutet, dann hilft er mit,
die Öffentlichkeit aufzuwecken.
Seine Aktion ist auch aus anderen
Gründen wichtig: er hat das erste Mal die Aufmerksamkeit der
israelischen Öffentlichkeit auf die reale Gefahr gelenkt, die
in dem 40 Jahre alten Reaktor steckt. Mehrere Angestellten
dieser Anlage haben die Regierung jetzt gerichtlich verklagt.
Sie behaupten, dass sie Krebs bekommen haben – und einige sind
schon gestorben – weil es an Sicherheit mangelt. Was würde im
Falle eines tschernobylartigen Unfalls passieren? Oder bei
einem Erdbeben oder einem Raketenangriff? Wer denkt darüber
nach? In wessen Verantwortung liegt dies? Wer überwacht diese
Verantwortlichen?
Vanunu läutet die Glocken, um auf
die wirkliche Gefahr aufmerksam zu machen. Es geht nicht darum,
ob er eine freundliche Person ist, ob seine Ansichten populär
sind oder was er nach 12 Jahren Einzelhaft über den Staat
Israel denkt. Die Frage ist, ob er einen guten Job tut.
Für dieses Mal meine ich, ja.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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