Der Fluch der
Götter
Uri Avnery, 10.12.05
IN DER
vergangenen Woche ging ich in den Gassen Athens, am Fuße der
Akropolis, spazieren. Da stieß ich auf ein Schild mit einem
einzigen Wort in griechischen Buchstaben: Sisyphus. Es war der Name
einer Taverne.
Vielleicht
wollten mich die Götter an einen Artikel erinnern, den ich vor 14
Jahren geschrieben habe: „Die Rache der Götter“. Sein tragischer
Held war der Mann, den ich „Shimon Sisyphus“ nannte.
Der
ursprüngliche Sisyphus war natürlich der König von Korinth, ein
sündiger, intriganter Mann. Er verriet Zeus, den obersten Gott, der
es gewohnt war, mit menschlichen Schönheiten sich die Zeit zu
vertreiben.
Zur Strafe
wurde Sisyphus in den Hades geschickt und dazu verurteilt, einen
schweren Stein einen Hügel hoch zu rollen. Doch immer, wenn er nahe
am Ziel war, rollte er wieder hinunter. Und so geht es bis ans Ende
der Zeiten.
Das war das
Schicksal von Shimon Peres, bis ich den Artikel schrieb – und das
ist sein Schicksal bis heute
gewesen. Ich
weiß nicht, warum die griechischen Götter sich diese Strafe
ausgedacht haben, aber während all der Jahre hat Peres bewiesen,
dass er sie verdient.
Wenn es
irgendeinen Zweifel darüber gibt, so sind die letzten Tage eine
weitere Bestätigung. Peres beging einen Akt politischer
Prostitution. Wenn er die Laborpartei vor den Vorwahlen verlassen
und sich der Konkurrenz angeschlossen hätte – nun gut. Schließlich
hat Ariel Sharon dasselbe getan. Aber Peres wollte
Parteivorsitzender werden, und erst als er völlig besiegt worden
war, ging er in Sharons neue Partei.
Kein Zweifel,
Peres brachte den Fluch der Götter selbst auf sich. Er wird weiter
den Stein nach oben rollen, und der Stein wird jedes Mal wieder nach
unten rollen – kurz bevor er oben ist.
SCHON 1953, als
er kaum 30 war, wurde er zum Generaldirektor des mächtigen
Verteidigungsministeriums ernannt. Das war eine erstaunliche
Beförderung. Er war der Protégé des allmächtigen David Ben Gurion,
des Ministerpräsidenten und Verteidigungsministers, der ihm die
Kontrolle über das riesige Verteidigungs-establishment überließ. Er
hatte damit rechnen können, dass der alte Mann ihm im Lauf der
Jahre das Büro des Ministerpräsidenten übergeben werde. In der
Zwischenzeit, 1959,wurde er in die Knesset gewählt und zum
stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt.
Und dann wurde
er vom Unglück verfolgt: 1963 wurde Ben Gurion aus dem Amt des
Ministerpräsidenten – buchstäblich – in die Wüste geschickt. Peres
blieb hängen. Er machte sich beim Nachfolger Levy Eshkol beliebt,
der Ministerpräsident und Verteidigungsminister wurde. Er war eifrig
darum bemüht, seine Stellung zu halten - als der Stein wieder aus
seinen Händen entwischte. Ben Gurion kehrte plötzlich aus der Wüste
zurück und gründete eine neue Partei, Rafi. Peres konnte sich nicht
weigern, sich ihr anzuschließen. Offensichtlich widerwillig gab er
seinen Posten auf und verließ die Laborpartei ( damals Mapai
genannt) . Aber er hoffte, dass er mit Ben Gurions Sieg die Spitze
erreichen werde.
Er stürzte sich
in die Arbeit, um die neue Partei aufzubauen, errichtete lokale
Filialen und führte die Wahlkampagne. Er war sich sicher, dass eine
Partei, die von dem legendären alten Mann angeführt wurde, unter
Teilnahme des ruhmreichen Moshe Dayan und mehrerer anderer Generäle
einen großartigen Sieg erringen werde. Wie könnte es anders sein?
Aber der Wahltag im November 1965 brachte eine bittere Enttäuschung:
Rafi gewann nur 10 von 120 Knessetsitzen. Und ihre Platzierung auf
der politischen Karte verurteilte sie zur Irrelevanz. ( Dieses
Beispiel erscheint nun in Träumen von Likudfunktionären, die hoffen,
dass Sharon dasselbe passieren würde, der ein ähnliches Abenteuer
begonnen hat.)
Nach zwei
Jahren wurde Rafi ein Rettungsring zugeworfen. Der Retter war
niemand anderes als der ägyptische Führer Gamal Abd-al-Nassar, der
seine Armee in der Sinaiwüste aufmarschieren ließ und Israel
bedrohte. Das Land wurde von Panik ergriffen. Rafi wurde darum
gebeten, sich einer Notstandsregierung anzuschließen, und
sein Vertreter
wurde Verteidigungsminister. Aber es war nicht Peres, der sich so
hart für Rafi eingesetzt hatte, sondern Moshe Dayan, der keinen
Finger für sie gerührt hatte. Der phantastische Sieg im
Sechstagekrieg machte Dayan zum Idol der Massen, während Peres an
den Rand gedrängt wurde. Der Stein war wieder vom Hügel
hinuntergerollt.
Peres wurde
klar, dass er als Mitglied in einer kleinen Partei keine Chance
hat, die Spitze zu erreichen. Er führte Rafi wieder in die
Laborpartei zurück – die jetzt Ma’arach genannt wurde – und er
erhielt als Trostpreis das unwichtige Ministerium des
Transportwesens. Ben Gurion betrachtete diesen Akt als Verrat
seines Protégé und gründete eine neue kleine Partei: „die
Staatsliste“.
1974 KAM eine
große Gelegenheit, ein paar Monate nach dem Yom-Kippur-Krieg. Der
Krieg sah wie ein großes nationales Unglück aus, und die beiden
dafür verantwortlichen Personen, Golda Meir und Moshe Dayan, - bis
dahin die beiden Nationalikonen - wurden verabschiedet. Der Weg
war frei für einen neuen Ministerpräsidenten, und es schien, als ob
das Amt wie eine reife Frucht in Peres’ Schoß fallen würde. Aber
im letzten Augenblick tauchte aus dem Nirgendwo Yitzhak Rabin auf,
ein politisch völlig unerfahrenes Greenhorn, und pflückte die
Frucht. Er war von der Partei gewählt worden.
Peres, bis ins
Innerste verletzt, war gezwungen, sich mit dem
Verteidigungsministerium zufrieden zu geben. Er verbrachte die
nächsten drei Jahre damit, Rabin schonungslos zu unterminieren, der
ihn später einen „unermüdlichen Verschwörer“ nannte. Zu diesem Zweck
und um die Sympathien derjenigen vom rechten Flügel zu gewinnen,
gründete Peres Kedumim, die erste Siedlung mitten in der arabischen
Bevölkerung der Westbank.
Die grausamen
Götter entschieden sich, sich noch einmal über ihn lustig zu machen.
Rabin wurde in eine unbedeutende Affäre verwickelt - im
Widerspruch zum bestehenden Gesetz hatte seine Frau vergessen, ein
Bankkonto aufzulösen, das er inne hatte, während er als Botschafter
in Washington war – und legte sein Amt nieder. Endlich wurde Peres
Parteivorsitzender. Zu Beginn der Wahlkampagne 1977 war sein Sieg so
gut wie sicher. Er war schon dabei, seine Minister auszusuchen, als
das Unvorstellbare geschah: Menachem Begin, der ewige
Oppositionsführer, der in einer Wahlkampagne nach der anderen
besiegt wurde, gewann und wurde Ministerpräsident. Peres musste die
Verantwortung tragen, Rabin blieb sauber. Der Stein war wieder nach
unten gerollt.
Bei den
nächsten Wahlen, 1981, spielten die Götter einen noch sadistischeren
Trick. Als die Wahlurnen geschlossen waren, verkündeten die
Meinungsforscher, dass Labor gewonnen habe. Vor Glück strahlend,
erklärte sich Peres als der nächste Ministerpräsident. Und dann
wurde klar, dass Begin doch gewonnen hatte.
Die Fortsetzung
wurde bitter. Begin nahm den Rat seines neuen Verteidigungsministers
Ariel Sharon an und überfiel den Libanon. Am Tag bevor die Panzer
rollten, verkündete Peres öffentlich seine Unterstützung der
Invasion. Dann folgten die Besetzung von Beirut, die Massaker von
Sabra und Shatila, die Entlassung von Sharon, der psychische
Zusammenbruch von Begin. Die Öffentlichkeit begann, den Krieg zu
hassen. Peres war sich sicher, dass er dieses Mal gewinnen würde.
Aber der Gewinner wurde Begins Nachfolger Yitzhak Shamir.
IN DEN NÄCHSTEN
JAHREN ging es auf und ab. Immer wieder erreichte Peres beinahe die
Spitze. Einmal wurde er sogar für eine Zeitlang Ministerpräsident,
aber nur dank einer besonderen israelischen Erfindung, der Rotierung
des Amtes des Ministerpräsidenten in einer „Regierung der nationalen
Einheit“, nach einem unentschiedenen Wahlergebnis. Als
Ministerpräsident hatte er zusammen mit einem begabten
Finanzminister Ytzhak Moida’i einen wirklichen Erfolg: er brachte
die Inflation von 400% auf normale Höhe hinunter.
Aber der Drang,
mit eigener Anstrengung Ministerpräsident zu werden, war zu stark:
er organisierte einen Putsch in der Regierung der nationalen
Einheit, um Shamir zu ersetzen, und war schon dabei, mit Hilfe der
religiösen Minister die Macht zu ergreifen. Aber im letzten
Augenblick verrieten sie ihn, sodass er die Regierung ganz
verlassen musste. Rabin nannte die Episode in seinem
unnachahmbaren Stil „Peres’ Stinkübung“.
Am Abend der
1992-Wahlen sahen Peres’ Aussichten gut aus. Die Öffentlichkeit
hatte von der Likud die Nase voll. Der Laborpartei winkte der Sieg.
Wieder wurde ihm die Frucht weggeschnappt: die Partei nominierte
Rabin. Peres musste sich mit dem 2. Posten zufrieden geben, mit dem
Außenminister, der in Israel weniger wichtig ist als der
Verteidigungs- und der Finanzminister.
Leute, die
damals mit Peres sprachen, hatten den Eindruck, dass er es
schließlich aufgegeben habe, auf der Höhe des Hügels anzukommen. Es
war das erste Mal, dass er wirklich mit Rabin kooperierte – und
beide schafften zusammen das Wunder von Oslo. Beide hatten lange
Zeit die „Jordanische Option“ verfolgt – aber die Intifada
überzeugte sie schließlich davon, dass man das palästinensische
Volk anerkennen und mit der PLO ein Abkommen schließen müsse. Als
entschieden worden war, dass Yitzhak Rabin und Yasser Arafat den
Friedensnobelpreis erhalten sollten, bewegte Peres Himmel und Erde,
um mit eingeschlossen zu werden. Da der Preis höchstens an drei
Personen gegeben werden konnte, blieb der vierte Partner, Mahmoud
Abbas, ungerechterweise ausgeschlossen.
ABER DIE
GÖTTER waren unbarmherzig. Im November 1995 wurde Rabin ermordet.
Der Mörder wartete am Fuße der Treppe und ließ Peres an sich
vorbeigehen. Er wurde von der Partei als Nachfolger Rabins zum
Ministerpräsidenten bestimmt.
Das war die
Gelegenheit seines Lebens. Er konnte neue Wahlen ausrufen und auf
der Woge der öffentlichen Wut über den Mord sicherlich einen
überwältigenden Sieg erlangen. Aber Peres wollte nicht dank des
Gedenkens an Rabin gewählt werden. Er schob die Wahl um einige
Monate hinaus, während dieser er einen
kleinen Krieg
im Libanon anfing, der in einer Katastrophe endete – in dem Massaker
der Flüchtlinge durch ein Versehen. Dann genehmigte er den Mord an
einem Hamasmilitanten, dem legendären Bombeningenieur Yihyeh Ayash,
und provozierte so eine Serie von Racheselbstmordangriffen, die
Peres’ Chancen ruinierten.
Am Wahltag
wiederholten die Götter ihren sadistischen Trick: es sah aus, als
ob Peres gewinnen würde. Spät am Abend wurde klar, dass das
Gegenteil eingetreten war: Ein neuer Slogan war entstanden: „Wir
gingen mit Peres schlafen und wachten mit Netanyahu auf!“
Bei einem
Parteitreffen stellte Peres das, was man eine rhetorische Frage
nennt: „Was, bin ich ein Verlierer?“ und war entsetzt darüber, als
ihm ein Chor einstimmig zurückrief: „Ja! Ja!“
Es sah so aus,
als hätten die Götter das Interesse verloren. Binyamin Netanyahu kam
zur Macht und wurde bald von der Öffentlichkeit verabscheut. Die
Regierung fiel, und Labor gewann die Wahlen. Aber der Held war nicht
Peres, sondern Barak, ein früherer Generalstabschef, dessen Wahl
große Begeisterung auslöste, die sich schnell in große Enttäuschung
wandelte, in Hoffnungslosigkeit und den Kollaps der Linken. 2001
wurde Barak von Sharon mit einem überwältigenden Sieg geschlagen.
Die Parteileuchten konnten sich über einen Nachfolger nicht einig
werden und baten Peres, die Parteiführung „vorübergehend“ als
Notlösung zu übernehmen. Wie gewöhnlich begann er sofort, das
„vorübergehend“ in ein „permanent“ zu verwandeln.
Unterdessen
geschah etwas anderes Unvorhergesehenes. Die Stelle des
Staatspräsidenten wurde vakant. Peres gierte nach dem Posten, der
praktisch ohne Inhalt ist, aber voller Prestige. Der Präsident wird
vom Parlament geheim abgestimmt. Die meisten Mitglieder sicherten
Peres ihre Unterstützung zu. Der Gegenkandidat war einer aus der 2.
Reihe der Likudfunktionäre, Moshav Katzav. Aber als die Umschläge
geöffnet wurden, kam heraus, dass das Unmögliche geschehen war:
Peres hatte auch diesen Wettbewerb verloren.
Um seinen
internationalen Stand zu halten, führte Peres seine Partei in die
Sharon-Regierung – und erhielt einen neu erfundenen Titel:
„Vize-Ministerpräsident“. Für diese leere Benennung verkaufte er
die Seele der Partei. Er nutzte sein internationales Prestige, um
rund um die Welt den Mann - Sharon - salonfähig zu machen, den man
als Mann von Sabra und Shatila in Erinnerung hatte. Für dies allein
verdient Peres alles, was ihm geschah.
Die Minister
von Labor unterstützten nicht nur den Abzug aus dem Gazastreifen –
an sich eine gute Sache – sondern auch alle Unterdrückung in der
Westbank: die Landenteignung, die Ausdehnung der Siedlungen, das
Festhalten an den „Außenposten“ ( statt sie aufzulösen) , den Bau
der monströsen Mauer und die Kampagnen der gezielten Tötungen,
während die Palästinensische Behörde boykottiert wird. Peres selbst
verurteilte die thatcheristische Wirtschaftspolitik der Regierung
als „schweinischen Kapitalismus“, während er sie praktisch weiter
uneingeschränkt unterstützte.
Das Ende - bis
jetzt – kam vor ein paar Wochen. In der Vergangenheit hatte Amir
Peretz die Laborpartei verlassen und seine eigene kleine
Arbeiterpartei gegründet. Peres selbst überzeugte ihn, in den Schoß
der Partei zurückzukommen. Nun bewarb er sich um den Posten des
Parteivorsitzenden – und gewann. Um Rache an der Partei zu nehmen,
verließ Peres sie zum 2. Male in seinem Leben und schloss sich
Sharon an, so wie er sich damals Ben-Gurion angeschlossen hatte.
JETZT BENUTZT
Sharon Peres als Köder, um Leute aus der Laborpartei zu fischen,
denkt aber nicht daran, ihn auf seine Liste der Parteikandidaten für
die Knesset zu setzen. Das würde eine Menge Likudmitglieder daran
hindern, sich ihm anzuschließen. Es ist zweifelhaft, ob er an
seinem Versprechen gegenüber Peres festhalten wird, ihm einen
respektablen Job zu geben, wenn er die Wahlen gewinnt – vielleicht
den Posten des Präsidenten, wenn die Amtszeit von Katzav beendet
ist.
In dieser Geschichte liegt etwas Tragisches.
Sein Leben lang hat Peres nach Anerkennung der Öffentlichkeit
geschmachtet – und jedes Mal wurde er verschmäht. Dieser Mann, der
seit seinem 18.Lebensjahr ein professioneller und unglaublich
fleißiger Politiker war, hat niemals eine Wahl gewonnen. Die
Israelis wundern sich, warum er sich in aller Welt so viel Ansehen
erwerben konnte. Der Rest der Welt fragt, warum er in Israel keine
Wahl hat gewinnen können. War es, weil er ein Immigrant in einer
Zeit der Sabras war, die hier im Land geboren wurden? War es sein
polnischer Akzent, den er nie loswerden konnte? Irgendetwas in
seinem Charakter? Fehlt es ihm an Charisma? Die Tatsache, dass er
nie bei der Armee diente? Vielleicht alles zusammen.
Die Götter
wissen es sicherlich.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Ver
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