Hat man SIE einer Gehirnwäsche
unterzogen?
Uri Avnery - 9. Juni 2018
ES IST ERSCHRECKEND. Gewissenlose Psychologen setzen im Dienste
eines böswilligen Regimes ausgeklügelte Techniken ein, um aus der
Ferne das Denken eines Menschen zu steuern.
Der Ausdruck „Gehirnwäsche“ entstand 1950. Es ist ein chinesisches
Wort ("xinao", wörtlich: waschen Gehirn). Ursprünglich bezeichnete
das Wort eine Technik, die führende Köpfe Chinas erfunden hatten, um
das Denken amerikanischer Gefangener im Koreakrieg zu manipulieren –
jedenfalls wurde der Anspruch erhoben: Sie könnten die mentalen
Prozesse der Gefangenen verändern und sie zu Agenten finsterer
Mächte machen.
Viele Bücher und Filme stellten dar, wie das funktioniert. Zum
Beispiel zeigt der klassische Film Botschafter der Angst ("The
Manchurian Candidate", 1962), wie die Kommunisten den Geist eines
amerikanischen Offiziers in koreanischer Kriegsgefangenschaft
manipulieren und ihm den Auftrag geben, den Kandidaten für das
Präsidentenamt in den USA zu töten. Dem amerikanischen Offizier ist
nicht bewusst, dass er in einen kommunistischen Agenten umgedreht
worden ist. Er erinnert sich nicht daran, dass ihm unter Hypnose ein
Befehl gegeben wurde, und wenn er diesem Befehl gemäß handelt, weiß
er das nicht.
DIESER HANDLUNGSVERLAUF ist so lächerlich wie die meisten
pseudo-wissenschaftlichen Darstellungen. Tatsächlich kann man den
Geist von Menschen, von Einzelnen wie von Kollektiven, viel leichter
manipulieren. Zum Beispiel die Nazi”propaganda“. Adolf Hitler selbst
hat sie erfunden. In seinem Buch Mein Kampf stellt er dar, wie er
als Soldat im Ersten Weltkrieg an der Westfront Zeuge davon wurde,
wie erfolgreich die britische Propaganda war: Die Briten warfen
Flugblätter über den Schützengräben der Deutschen ab und
erschütterten auf diese Weise das Vertrauen der Soldaten in ihre
Führung.
Als Hitler in Deutschland an die Macht kam, betraute er seinen
treuen Handlanger, Joseph Goebbels, mit der Schaffung eines
Propaganda-Ministeriums. Goebbels machte Propaganda zu einer
Kunstform. Eines seiner Mittel war, alle deutschen Medien –
Zeitungen und das Radio – in ausführende Organe der Regierung zu
verwandeln. Das wurde „Gleichschaltung“ genannt: alle Bestandteile
wurden an eine einzige elektrischen Leitung angeschlossen. Dem war
zu verdanken, dass Nazi-Deutschland noch lange, nachdem schon klar
war, dass es den Zweiten Weltkrieg verlieren würde, weiterkämpfte.
Eines der Mittel war, die deutsche Öffentlichkeit von allen anderen
Informationsquellen abzuschneiden. Jedes Medium verkündete lauthals
die offizielle Propaganda. Deshalb war es ein Kapitalverbrechen,
ausländische Radiosender zu hören, und wurde dementsprechend streng
bestraft. So kam es, dass viele Deutsche selbst dann noch an den
„Endsieg“ glaubten, als die Sowjets im Osten und die Angelsachsen im
Westen bereits die deutschen Grenzen überschritten hatten.
IST TATSÄCHLICH ein diktatorisches Regime – ein Nazi- oder ein
kommunistisches Regime – notwendig, um die Medien in
Gehirnwäsche-Maschinen zu verwandeln? Der gesunde Menschenverstand
sagt, dass das in einer Demokratie unmöglich sei. Der gesunde
Menschverstand irrt. Wir sollten daran denken, dass Hitler mithilfe
demokratischer Mittel an die Macht kam. Auch heute gewinnen
fanatische Nationalisten in vielen Ländern die Wahlen. Alle ihre
Führer sind darauf aus, die Gerichte zu zerstören, die Parlamente
mit Idioten zu füllen und – insbesondere – die Medien in Instrumente
der Gehirnwäsche umzuwandeln. Auch in unserem Land ist das so.
Wie geschieht das? Es ist wirklich ganz einfach: Man muss nur alle
anderen Stimmen unterdrücken. Man muss sicherstellen, dass die
Bürger nur eine einzige Stimme hören. Eine Stimme, die einige wenige
Botschaften immer wieder und endlos wiederholt. Auf diese Weise wird
Lüge zur Wahrheit. In einer derartigen Situation gelangt der
einfache Bürger zu der Überzeugung, das, was die offizielle Linie
vertritt, sei tatsächlich seine eigene Meinung. Es ist ein
unbewusster Prozess. Wenn einer einem Mitbürger sagt, er sei einer
Gehirnwäsche unterzogen worden, ist der zutiefst beleidigt.
Gehirnwäsche wird in den letzten Jahren in Israel praktiziert. Der
Bürger ist sich nicht bewusst, dass das geschieht. Er liest
verschiedene Zeitungen, sieht die Sendungen verschiedener
Fernsehsender und hört Radio: alle diese Medien scheinen frei
miteinander zu diskutieren und sogar zu streiten. Die Bürger sind
sich der Tatsache nicht bewusst, dass bei dem einen, über unser
Leben entscheidenden Thema, nämlich Krieg und Frieden, alle Medien
miteinander in einer einzigen Linie der Gehirnwäsche
„gleichgeschaltet“ sind.
IN DEN letzten Wochen haben wir ein Musterbeispiel dieses
Mechanismus erlebt. Die Ereignisse an der Grenze zum Gazastreifen
haben den Mechanismus der Gehirnwäsche auf eine Weise belebt, um die
diktatorische Regime in aller Welt uns nur beneiden können.
Wir wollen uns einer Selbstprüfung unterziehen: Was haben wir im
Radio gehört? Was haben wir im Fernsehen gesehen? Was haben wir in
den Zeitungen gelesen? Innerhalb weniger Wochen wurden mehr als
hundert Palästinenser erschossen und viele Tausende wurden durch
scharfe Munition verwundet. Warum? „Wir mussten auf sie schießen,
weil sie den Grenzzaun gestürmt haben“. Und haben die Bewohner von
Gaza nicht schließlich selbst verkündet, sie „wollten nach Hause
zurückkehren“, womit sie meinten: in das Gebiet zurückkehren, das
heute Israel ist?
Am Montag, dem 14., dem „schwarzen Montag“, wurden 63 unbewaffnete
Demonstranten erschossen und mehr als 1500 durch scharfe Munition
verwundet. Jeder Israeli erfuhr, dass das notwendig gewesen sei,
weil Demonstranten den Zaun gestürmt hätten und im Begriff gewesen
seien, sich in Israel auszubreiten. Niemand achtete auf die einfache
Tatsache, dass es kein einziges Foto gab, das dieses Ereignis
zeigte. Kein einziges. Trotz der Tatsache, dass es auf beiden Seiten
des Zauns Hunderte Fotografen gab, darunter israelische
Armee-Fotografen, die jede Einzelheit festhielten. Zehntausende
stürmten und kein einziges Bild davon?
Man achte auf den Gebrauch des Wortes „Terror“. Es ist zu einem Wort
geworden, das jedem anderen Wort hinzugefügt werden kann. Es gibt
nicht einfach nur Tunnel, nein, sie sind alle immer „Terror-Tunnel“.
Es gibt „Terror-Aktivisten“. Jetzt gibt es „Terror-Drachen“. Merke:
nicht „Feuerbrand-Drachen“ oder „Zerstörungs-Drachen“, sondern
„Terror-Drachen“. Dasselbe kommt Tag für Tag in den Medien.
Irgendjemand hat diese Entscheidung über die Terminologie getroffen.
Natürlich ist jeder, dessen Namen das Wort „Terror“ hinzugefügt
wird, ein „Kind des Todes“, wie wir im biblischen Hebräisch sagen.
Das ist ein weiteres, ein stolzes Wort in der Gehirnwäsche.
Die Bewohner des Gazastreifens sind „Terroristen“. (Im Hebräischen
wurde ein besonderer Ausdruck erfunden: "Mechablim"). Alle?
Natürlich. Ohne jede Frage. Besonders die Mitglieder der Hamas. Aber
Hamas ist eine politische Partei, die die demokratischen Wahlen in
ganz Palästina gewonnen hat. Eine zivile Partei, die zwar einen
militärischen Flügel hat, aber in unseren Medien sind alle
Mitglieder und Unterstützer der Partei „Terroristen“, Kinder des
Todes. Natürlich.
Dass diese Ausdrücke Tag für Tag unzählige Male wiederholt werden,
stellt eindeutig eine Gehirnwäsche dar: Es ist ein Vorgang, den die
Bürger nicht bemerken. Sie gewöhnen sich daran zu glauben, alle
Bewohner Gazas seienTerroristen, mechablim. Das ist ein Prozess der
Entmenschlichung, im Nazijargon wurden Menschengruppen
„Untermenschen“ genannt. Es ist erlaubt, ja wünschenswert,
Entmenschlichte zu töten.
In einer solchen Atmosphäre wird nicht einmal bemerkt, dass manche
Sätze ganz und gar verabscheuungswürdig sind. Zum Beispiel habe ich
diese Woche in einer Fernsehsendung aus dem Mund eines
Militärkorrespondenten, der über eine bevorstehende Demonstration in
Gaza sprach, den folgenden Satz gehört: „Der Iran möchte tote
Demonstranten und es sieht so aus, als würde er die bekommen.“ Man
muss diesen Satz zweimal lesen, um zu verstehen, was er bedeutet:
Die israelischen Scharfschützen dienen den Interessen des Iran.
Oder ein Satz, der sogar von geachteten Kommentatoren immer aufs
Neue wiederholt wird: „Der Iran will den Staat Israel zerstören“.
Weder ich noch der Schreiber weiß, was 80 Millionen Iraner wollen.
Aber der Satz an sich ist schon lächerlich. Israel ist eine
Atommacht. Wie vernichtet man eine Atommacht (die Unterseeboote
besitzt, die in der Stunde der Not Atomwaffen einsetzen können)?
Sind die Iraner bereit, ihr Land – eine Wiege der Menschheitskultur
– in einen Friedhof und in eine Wüste zu verwandeln?
Oder eine Voraussage: „Am Freitag wird eine weitere Demonstration
mit Gewaltakten stattfinden“. „eine weitere“? „mit Gewaltakten“?
Unbestreitbar ist die Tatsache, dass alle Demonstrationen entlang
des Zauns zu Gaza vollkommen gewaltfrei waren. Die Demonstranten
gaben keinen einzigen Schuss ab, als Tausende von ihnen von scharfer
Munition verwundet und mehr als hundert getötet wurden. Und doch
wird die Lüge kommentarlos hingenommen.
In keiner einzigen von Hunderten von Fernseh-Nachrichten-Sendungen
werden derartige Behauptungen von Korrespondenten jemals korrigiert.
Der Grund dafür ist, dass Intendanten, Moderatoren, Kommentatoren
und Korrespondenten selbst einer sorgfältigen Gehirnwäsche
unterzogen wurden. Der Armeesprechen kennt natürlich die Wahrheit,
aber er ist ein wichtiges Zahnrad in der Gehirnwäsche-Maschine.
DIE EREIGNISSE erreichten ihren Höhepunkt, als die 21-jährige
Rettungssanitäterin Rasan Aschraf al-Najjar ermordet wurde. Sie
hatte versucht, einem verwundeten Demonstranten das Leben zu retten.
Der Scharfschütze, der sie in die Brust schoss, hat gesehen, dass
sie eine Sanitäterin war, die einen Verwundeten behandelte. Es war
eindeutig ein Kriegsverbrechen.
Gab es einen öffentlichen Aufschrei? Forderten die Medien eine
Untersuchung? War dieses Ereignis den Medien eine Schlagzeile wert?
Hielt die Knesset eine Schweigeminute ab? Nichts von alledem. Eine
kleine Nachricht in einigen – bei Weitem nicht allen – Zeitungen.
Ein ausgezeichneter Artikel der bewundernswerten Amira Hass in
Haaretz. Das war alles.
Ein paar Tage vergingen und dann gab es im Ausland Aufschreie. Das
argentinische Fußball-Team mit dem bewunderten Messi sagte ein
Freundschaftsspiel gegen das israelische Team ab, das in Jerusalem
stattfinden sollte.
Den Gehirnwäschern wurde klar, dass es ihnen unmöglich war, nicht zu
reagieren. Und so veröffentlichte ein Armeesprecher eine
Verlautbarung, in der es hieß, dass es eine Untersuchung gegeben
habe. Was hat sie aufgedeckt? Es sei eindeutig aufgeklärt worden,
niemand habe Razan erschossen. Sie sei von einem Querschläger
getroffen worden, der weit weg von ihr auf dem Boden aufgeschlagen
sei. Das ist eine krasse Lüge, für die sich sogar ein Armee-Lügner
schämen sollte. Die Öffentlichkeit, die ja einer Gehirnwäsche
unterzogen worden ist, schluckte das.
Ein Kennzeichen der Gehirnwäsche ist ein Phänomen, das alle
wahrnehmen können: die vollkommene Abwesenheit einer zweiten
Meinung. Bringt irgendjemand, wenn ein Kommentator die offizielle
Linie über ein Ereignis zum Ausdruck gebracht hat, eine alternative
Sichtweise zum Ausdruck? Gibt es eine Debatte zwischen dem
offiziellen Sprecher und einem Kommentator, der eine andere Meinung
vertritt? In demokratischen Medien wäre das selbstverständlich. Hier
bei uns ist es sehr, sehr selten.
WAS KANN man gegen solche Gehirnwäsche tun? Nicht viel.
Zuallererst gibt es die lebensentscheidende Notwendigkeit einer
zweiten Stimme. Gehirnwäsche kann nur dann wirken, wenn die
offizielle Stimme das vollständige Monopol besitzt. Das zu brechen
war eines der Ziele von HaOlam HaSeh, der Wochenschrift, die ich 40
Jahre lang herausgab. Sie trat jeder unwahren Darstellung der
Regierung mit einer entgegengesetzten Darstellung entgegen. Zwar war
unsere Stimme im Vergleich zur (selbst damals schon) mächtigen
Regierungsmaschinerie schwach, aber jedenfalls verhinderte die
Tatsache, dass es zwei Stimmen gab, wie ungleich an Macht sie auch
waren, eine vollkommene Gehirnwäsche. Der Bürger hört zwei Fassungen
einer Geschichte und fragt sich: „Welche ist die richtige?“
Wenn alle Friedens- und Menschenrechts-Gruppen in Israel ein
gemeinsames Informationszentrum, das sich Aufmerksamkeit verschaffen
kann, eröffnen würden, vielleicht könnte dann das Monopol der
offiziellen Propaganda gebrochen werden. Vielleicht.
Im Land gibt es eine winzige Gruppe von Kommentatoren, die sich
nicht davor fürchten, die Wahrheit zu sagen, auch wenn das als
Verrat betrachtet wird. Gideon Levy, Amira Hass und einige andere.
Wir müssen sicherstellen, dass ihre Stimmen gehört werden. Wir
müssen ihnen Mut machen.
Alle Medien müssen gedrängt werden, unterschiedliche Sichtweisen auf
Krieg und Frieden darzustellen, dazu, dass sie auch den „Feind im
Innern“ zu Wort kommen lassen, sodass der Bürger in der Lage ist,
sich eine eigene Meinung zu bilden.
Den ausländischen Medien muss der freie Zugang zu den
Informationsquellen gestattet werden, selbst auf die Gefahr hin,
dass sich diese Medien dann kritisch, „feindlich“ und
„antisemitisch“ äußern könnten. Freunde des Friedens zwischen
Israelis und Palästinensern im Ausland müssen ermutigt werden, die
Medien in ihren Ländern zu drängen, dass sie die Wahrheit über das
veröffentlichen, was hier bei uns geschieht. Ich mag das Wort
„müssen“ nicht. Aber in diesem Zusammenhang reicht kein anderes Wort
aus.
DIE MACHT, über die angesichts einer Gehirnwäsche-Maschinerie die
Wahrheit verfügt, ist immer eng begrenzt. Aber schließlich, auch
wenn es bis dahin einige Zeit dauern wird, wird die Wahrheit siegen.
Dazu bedarf es mutiger Menschen.
Der Film Botschafter der Angst endet überraschend: In letzter Minute
erschießt der Mann, der der Gehirnwäsche unterzogen wurde, nicht den
Präsidentschaftskandidaten, sondern den kommunistischen Agenten, der
dessen Platz einnehmen sollte.
Übersetzt von Ingrid von Heiseler