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Hundert
Jahre später
Uri
Avnery, 22.3.14
ES GIBT einen
chinesischen Fluch: „mögest du in historischen Zeiten leben!“
(Falls es ihn nicht gibt, sollte es einen geben.)
Die vergangene Woche
war eine historische Zeit. Die Halbinsel Krim trennte sich von der
Ukraine - Russland annektierte sie.
Eine gefährliche
Situation. wurde geschaffen. Keiner weiß, wie es weitergehen wird.
NACH MEINEM letzten
Artikel über die ukrainische Krise wurde ich von leidenschaftlichen
E-Mail-Botschaften überflutet.
Einige waren über ein
oder zwei Sätze empört, die so ausgelegt werden konnten, als würden
sie die russischen Aktionen rechtfertigen. Wie konnte ich den
früheren KGB-Aparatchic, den neuen Hitler, den Führer entschuldigen,
der dabei war, ein neues Sowjetempire aufzubauen, in dem er
Nachbarländer zerstört und unterwirft?
Andere waren mit
derselben Leidenschaft empört: meine vermutete Unterstützung der
faschistischen Bande, die in Kiew an die Macht gekommen war, die
Antisemiten in Nazi-Uniformen und die amerikanischen Imperialisten,
die sie für ihre eigenen unheimlichen Zwecke ausnützen.
Ich bin etwas
verblüfft von den starken Emotionen auf beiden Seiten, Der kalte
Krieg – so scheint es – ist noch nicht vorüber. Er machte nur ein
Schläfchen. Die gestrigen Krieger eilen zu ihren Flaggen, zur
Schlacht bereit.
Tut mir leid, aber
ich habe weder mit der einen noch mit der andern Seite Sympathie.
Beide Seiten – so scheint mir – haben etwas Gerechtigkeit auf ihrer
Seite. Viele Schlachtrufe sind einfach Schwindel.
DIEJENIGEN, die gegen
die Annexion der Krim an die russische Föderation sind und dies mit
Hitlers „Anschluss“ von Österreich vergleichen, mögen in gewissem
Sinn Recht haben. Ich erinnere mich an die Wochenschau, wie die
Österreicher die Soldaten des Führers, der schließlich selbst
Österreicher war, begeistert willkommen hießen. Zweifellos haben
die meisten Österreicher die „Rückkehr ins Reich“ willkommen
geheißen.
Das scheint nun mit
der Krim auch der Fall zu sein. Lange Zeit war die Krim ein Teil
Russlands gewesen. Dann gab der damalige Führer der Sowjet-Union,
Nikita Chruschtschow, selbst ein Ukrainer,1954 die Krim als Geschenk
an die Ukraine. Es war vor allem eine symbolische Geste, da beide,
Russland und die Ukraine, zum selben Sowjet-Staat gehörten und
derselben Unterdrückung unterworfen waren.
Aber der Hauptpunkt
ist, die Leute der Krimhalbinsel wurden nicht gefragt. Da gab es
kein Referendum. Die Mehrheit der Bevölkerung ist russisch und
wünscht zweifellos nach Russland zurückzukehren. Sie drückte diesen
Wunsch in einem Referendum aus; im Großen und Ganzen scheint es echt
zu sein. Also mag die Annexion gerechtfertigt zu sein.
Vladimir Putin selbst
brachte den Präzedenzfall Kosovo, das sich von Serbien vor nicht
langer Zeit trennte. Dies mag ein bisschen zynisch klingen, da
Russland streng gegen diese Abtrennung war. Alle russischen
Argumente damals stehen jetzt im Widerspruch zu Putin selbst.
Wenn wir den
Zynismus, die Heuchelei und die Großmacht- Politik zurückweisen und
uns nur an die einfachen moralischen Prinzipien halten: was für den
einen recht ist, ist für den andern billig. Eine beträchtliche
nationale Minderheit, die in ihrer Heimat lebt, hat ein Recht, sich
von einem Staat zu trennen, den es nicht liebt.
Aus diesem Grund
unterstütze ich die Unabhängigkeit des Kosovo und glaube, dass
dasselbe Prinzip jetzt auch für Katalonien, Schottland, Tibet und
Tschetschenien gilt.
Es gibt immer eine
Möglichkeit, die Trennung ohne Gewaltanwendung durchzuführen:
Bedingungen zu schaffen, die die Minderheit wünschen lässt, im Staat
der Mehrheit zu bleiben. Großzügige wirtschaftliche, politische und
kulturelle Politik kann dies erreichen. Aber dafür benötigt man die
Weisheit von weitsichtigen Führern, und die ist überall eine
Seltenheit.
EBENSO HATTEN die
Ukrainer vollkommen Recht, einen Präsidenten hinauszuwerfen, der
sie gegen ihren Willen in den russischen Machtbereich bringen will.
Seine goldene Badezimmereinrichtung ist irrelevant.
Eine Frage für sich
ist, welche Rolle spielen Faschisten in dem Prozess? Darüber gibt
es widersprüchliche Berichte, aber israelische Reporter vor Ort
bezeugen ihre auffällige Präsenz im Zentrum von Kiew.
Diesem Problem
standen wir schon seit dem „tunesischen Frühling“ gegenüber: in
vielen dieser „Frühlings“ -Länder bringen die Aufstände Elemente in
den Vordergrund, die schlimmer sind als die Tyrannen, die sie
ersetzen wollen. Die Revolutionen sind von Idealisten begonnen
worden, die nicht in der Lage waren, sich zu einigen und ein
effektives Regime aufzubauen; und dann wurden die Revolutionen von
intoleranten Fanatikern übernommen, die bessere Kämpfer und bessere
Organisatoren sind.
Dies ist das
Geheimnis des Überlebens des abscheulichen Bashar al-Assad. Wenige
Leute wollen, dass Syrien in die Hände einer Taliban-ähnlichen
islamischen Tyrannei fällt. Dies ist auch das Schicksal Ägyptens:
Die liberalen Demokraten begannen die Revolution, aber verloren die
demokratischen Wahlen an eine religiöse Partei, die in großer Hast
dem Volk ihren Glauben überstülpen wollte. Sie wurden von einer
militärischen Diktatur besiegt, die noch schlimmer als das Regime
ist, von der die ursprüngliche Revolution besiegt wurde.
Das Auftauchen der
Neo-Nazis in Kiew ist Besorgnis erregend, selbst wenn Putin ihre
Gegenwart für seine eigenen Zwecke ausnützt. Wenn sie vom Westen -
offen oder verdeckt – unterstützt werden, so ist das noch
beunruhigender.
GENAU SO Besorgnis
erregend ist die Unsicherheit von Putins Absichten.
In vielen Ländern,
die Russland umgeben, lebt eine große Anzahl von Russen, die auch
schon in sowjetischen Zeiten dort hingezogen sind: Ukraine,
Lettland, Estland , Moldawien, Kasachstan und andere Länder haben
große russische Minderheiten, und sogar Mehrheiten, die sich danach
sehnen, vom Mutterland annektiert zu werden .
Keiner kennt Putin
wirklich. Wie weit wird er gehen? Kann er seinen Ehrgeizig bändigen?
Wird er von seinen Erfolgen fortgerissen.
Während er seinem
Parlament die Annexion der Krim mitteilte, schien er sich maßvoll zu
verhalten, aber es gab viel imperiales Drum und Dran bei dem
Ereignis. Er wäre nicht der erste Führer in der Geschichte, der
seine Erfolge überschätzt und seine Gegner unterschätzt.
Auf der andern Seite
– gibt es genug Weisheit in Washington und in den andern westlichen
Hauptstädten, um die richtige Mischung von Entschlossenheit und
Zurückhaltung, um ein Abgleiten in einen Krieg zu vermeiden?
IN DREI Monaten wird
die Welt den 100. Jahrestag des Schusses in Sarajewo „feiern“ – den
Schuss, der einen weltweiten Brand auslöste
Es wäre ratsam , noch
einmal die Kette von Ereignissen aufzuzählen, die einen der
zerstörendsten Kriege der menschlichen Geschichte verursacht haben,
einen Krieg, der Millionen von Menschenleben gekostet hat und eine
ganze Kultur
Der Schuss, mit dem
alles begann, war rein zufällig. Der Attentäter, ein serbischer
Nationalist, verfehlte den ersten Versuch, einen ganz unbedeutenden
österreichischen Erzherzog zu töten. Aber nachdem er schon
aufgegeben hatte, begegnete ihm sein beabsichtigtes Opfer zufällig
noch einmal und er erschoss es.
Die inkompetenten
österreichischen Politiker und ihr seniler Kaiser sahen eine leichte
Möglichkeit, die Fähigkeit ihres Landes zu zeigen und stellten dem
kleinen Serbien ein Ultimatum. Was konnte es schon verlieren?
Außer, dass Serbien
Russlands Schützling war. Um die Österreicher abzuschrecken, befahl
der Zar und seine ebenso inkompetenten Minister und Generäle eine
allgemeine Mobilisierung ihrer großen Armee. Sie waren sich gar
nicht der Tatsache bewusst, dass dies einen unvermeidbaren Krieg
auslöste, weil ….
Das Deutsche Reich,
das erst 43 Jahren vorher zustande gekommen war, lebte in tödlicher
Angst vor einem „Zweifrontenkrieg“. Mitten in Europa liegend,
zwischen zwei großen Militärmächten, Frankreich und Russland,
schmiedete es einen Plan, um dieser Eventualität zuvor zu kommen.
Der Plan veränderte sich jedes Jahr im Laufe der Kriegsspiele, aber
im Wesentlichen g ründete er sich auf der Voraussetzung, dass erst
der eine Feind besiegt werden müsse, bevor der andere Feind Zeit
hatte, sich der Schlacht anzuschließen.
Der Plan von 1914
war, Frankreich zu vernichten, bevor die schwerfällige russische
Mobilisierung abgeschlossen gewesen wäre. Als der Zar seine
Mobilisierung verkündete, fiel die deutsche Armee in Belgien ein und
erreichte in wenigen Wochen die Außenbezirke von Paris. Es gelang
ihr fast, Frankreich zu besiegen, bevor die Russen fertig waren.
( 25 Jahre später
hatte Adolf Hitler eine andere Lösung des Problems: er machten
einen falschen Vertrag mit Stalin, schlug Frankreich und griff dann
Russland an.)
1914 war
Großbritannien von der Invasion in Belgien geschockt, hastete
seinem französischen Verbündeten zu Hilfe. Italien, Japan und andere
schlossen sich dem Kampf an. So machte sich auch das Ottomanische
Reich auf, das über Palästina regierte. Der 1. Weltkrieg war auf
den Weg.
Wer wünschte diesen
schrecklichen Krieg? Keiner. Wer machte die kaltherzige
Entscheidung, mit ihm zu beginnen? Keiner. Natürlich waren viele
nationale und internationale Interessen damit verbunden, aber keine
war so wichtig, um solch eine Katastrophe zu rechtfertigen.
Nein, es war ein
Krieg, den keiner wollte oder sich sogar vorstellte. Die Blüte der
Jugend Europas wurde durch die reine Dummheit der zeitgenössischen
Politiker und danach durch die kolossale Dummheit der Generäle
vernichtet.
Und am Ende wurde ein
Friedensvertrag ausgeheckt, der praktisch noch einen weiteren
Weltkrieg unvermeidbar machte. Erst nach einem weiteren Weltkrieg
kamen die Politiker zur Besinnung und machten einen neuen
Bruderkrieg in West-Europa unmöglich
Hundert Jahre,
nachdem alles anfing, ist es gut, sich daran zu erinnern.
KANN SO ETWAS wie
dieses noch einmal geschehen? Kann eine unbeabsichtigte Kette
törichter Handlungen zu einer neuen Katastrophe führen? Kann eine
Sache zu einer andern in einer Weise führen, dass inkompetente
Führer nicht in der Lage sind, sie zu stoppen?
Ich hoffe nicht.
Schließlich sollten nach diesen hundert Jahren einige Lektionen
gelernt und zu Herzen genommen worden sein.
Oder
? (Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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