Ein
Treffen mit Hamas
Uri Avnery, 3.6.06
Scheich MUHAMMAD Hassan Abu-Tir hat etwas, nach dem sich
jeder Politiker sehnt: den unmittelbaren
Wiedererkennungseffekt. Sein langer mit Henna gefärbter
Bart in leuchtendem Rot-Orange ist wirklich sehr
aufsehenerregend. Tatsächlich ist es ein religiöses
Symbol: der Prophet, nach dem er genannt wurde, pflegte
sich in derselben Weise seinen Bart zu färben.
Der
rotbärtige Scheich ist bekannter in Israel als jede
andere Hamasführungspersönlichkeit. In der populärsten
Satireshow des israelischen Fernsehens - „Ein
wunderbares Land“ - wird er bereits von einem berühmten
Komiker verkörpert, dem es durch die Imitation seines
Stils, seiner Körpersprache und seines klugen Lächelns
gelingt, ihn in unsere Wohnzimmer zu bringen. Für viele
Israelis hat diese Imitation ihn schon fast zu einer
liebenswürdigen Person gemacht – auch wenn er davon gar
nicht erbaut ist. (So etwas Ähnliches war auch mit
Arafat geschehen. Eine ihn darstellende Marionette in
einer sehr beliebten TV-Show zeigte ihn als nette, auf
milde Weise komische Figur, völlig anders als das
dämonisierte Bild, das die offizielle israelische
Propaganda von ihm zu zeichnen sich bemühte.)
In
dieser Woche kam Abu-Tir aus einem viel schwerwiegenden
Grund in die Medien. Als ich ihn in seinem Hause traf,
schwebte eine unheilvolle Drohung über ihm: die
Ausweisung. Der Innenminister aus Olmerts Regierung
informierte ihn und seine drei Kollegen, alles
Hamas-Abgeordneten des palästinensischen Parlamentes,
dass sie sich innerhalb eines Monats entscheiden
müssten, entweder alle Posten in der Palästinensischen
Behörde aufzugeben oder auf den Status „Bewohner mit
dauerhaftem Wohnrecht“ in Jerusalem zu verzichten. Das
würde ihre Vertreibung in die besetzte Westbank
bedeuten.
WIE
KONNTE so etwas geschehen?
Nach
dem 6-Tage-Krieg 1967, als sich die israelische
Regierung beeilte, Ost-Jerusalem zu annektieren, zog es
neue Stadtgrenzen, viel weiter als die Stadtviertel
Jerusalems selbst. Es war die Absicht, ein Maximum an
Land mit einem Minimum palästinensischer Bewohner zu
annektieren. Aus diesem Grund gleicht die Stadt auf dem
Stadtplan einem prähistorischen Monster oder sieht wie
eine amerikanisch manipulierte Wahlbezirksabgrenzung
aus.
Doch
trotz aller Bemühungen und Tricks gab es keine
Möglichkeit, einen beträchtlichen palästinensischen
Bevölkerungsanteil – mittlerweile eine Viertel Million
Menschen - in der „vereinigten“ Stadt mit
einzuschließen. Das Dorf von Sur Baher, in dem Abu-Tir
lebt, liegt ganz nah an der Stadt und wurde kurzerhand
mitannektiert.
Als
die Annektierung durchgeführt wurde, erhob sich
natürlich die Frage nach dem Schicksal der Einwohner.
Wenn es möglich gewesen wäre, sie zu vertreiben, dann
hätte man dies sicher getan. Aber unter den damaligen
Umständen wäre es inakzeptabel gewesen. Es wäre das
Natürlichste der Welt gewesen, ihnen die israelische
Staatsbürgerschaft zu verleihen, wie es 1949 mit den
Bewohnern einiger arabischer Dörfer geschah, die nicht
von Israels Armee erobert worden waren, sondern von
König Abdallah von Jordanien beim Waffenstillstand mit
Israel übergeben wurden.
Aber
die israelischen Führer waren erschrocken über die Idee,
ein weiterer großer Block von Palästinensern würde zu
der sowieso schon großen Anzahl von Arabern in Israel
– 20% der Bürger Israels - hinzukommen. Sie fanden
einen trickreichen Weg: den Palästinensern
Ost-Jerusalems wurde ein besonderer Status gegeben:
“Einwohner mit dauerhaftem Wohnrecht“ in Israel – sie
blieben aber Bürger Jordaniens. Auf diese Weise konnten
sie nicht an den israelischen Wahlen teilnehmen –
erfreuten sich aber vieler anderer Privilegien (wie
z.B. israelische Steuern und soziale
Versicherungsbeiträge zu zahlen.).
Die
Regierung wusste natürlich, dass die Araber
Schwierigkeiten hätten, sich gegen diese Masche zu
wehren. Wenn sie israelische Staatsbürgerschaft verlangt
hätten, dann hätten sie die israelische Herrschaft über
Ost-Jerusalem anerkannt – was bis jetzt kein Staat der
Welt getan hat.
Den
„annektierten“ Arabern keine Staatsbürgerschaft zu
geben, diente noch einem anderen Zweck. Im Laufe des
Krieges von 1948 musste die ganze arabische Bevölkerung
aus West-Jerusalem in den Osten der Stadt fliehen. Sie
ließ all ihren Besitz hinter sich, einschließlich
wunderschöner Häuser im Stadtteil Talbiyeh, und das
Land, auf dem die Knesset, der Amtssitz des
Ministerpräsidenten , der Givat Ram-Campus der
hebräischen Universität und das Israel-Museum heute
stehen. Wenn den Besitzern dieser Grundstücke, die jetzt
in Ost-Jerusalem leben, die Staatsbürgerschaft gewährt
worden wäre, hätten diese ihren Besitz zurückfordern
können. Das wäre nicht unbedingt ein automatischer
Prozess gewesen, aber der Druck auf die Regierung wäre
groß gewesen. Es war sicherer, ihnen nur „ ein
dauerhaftes Wohnrecht“ zu geben.
EINER DER Unterschiede zwischen einem „Bürger“ und
jemandem „ mit dauerhaftem Wohnrecht“ ist der, dass es
fast unmöglich ist, das Bürgerrecht ungültig zu machen –
es ist aber ziemlich einfach, den Status des
„dauerhaften Wohnrechtes“ zu annullieren. Der Minister
des Inneren ist ermächtigt, dies zu tun - eine einfache
exekutive Entscheidung. Das Opfer kann natürlich beim
Obersten Gerichtshof Einspruch erheben, aber die
Chancen, Erfolg zu haben, sind gering.
Die
Aktion des Innenministers Ronnie Bar- On ist ein
schlechtes Omen. Gelingt es ihm, stellt dies eine Gefahr
für 250 000 Palästinenser Ost-Jerusalems dar. Ihr Status
als „Bewohner mit dauerhaftem Wohnrecht“ kann ihnen
genommen werden – unter einem oder einem anderen
Sicherheitsvorwand. In Israel kann Sicherheit fast alles
rechtfertigen. Naive Israelis können immer davon
überzeugt werden, dass eine Maßnahme nötig war, um ihr
Leben vor mörderischen Terroristen zu schützen.
Der
Missbrauch des Terminus „Bewohner mit
Daueraufenthaltserlaubnis“ ist offensichtlich. Solch ein
Bewohner ist gewöhnlich ein Immigrant, der nach Israel
kommt und nicht in der Lage ist, ein Bürger Israels zu
werden oder dies nicht werden will. Diesen Terminus bei
Familien anzuwenden, die seit der Zeit der muslimischen
Eroberung unter dem Kalifen Omar - also seit 1300 Jahren
- in Jerusalem leben, ist eine politische und eine
sprachliche Vergewaltigung.
Es
verletzt auch das Völkerrecht, das besagt, dass
Ost-Jerusalem besetztes Gebiet ist, dessen Bewohner
„geschützte Personen“ sind, die nicht aus ihren Häusern
vertrieben werden können. Es verletzt auch das
Oslo-Abkommen, das besagt, dass über den Status von
Jerusalem bei den Abschlussverhandlungen entschieden
wird, die aber noch nicht einmal begonnen haben. Oslo
gewährt den palästinensischen Bewohnern von Jerusalem
das Recht, zu wählen und für das palästinensische
Parlament gewählt zu werden. Abu-Tir ist von den Wählern
der Stadt als ihr Abgeordneter gewählt worden.
Die
Forderung, er solle zwischen Verzicht auf sein Amt im
Parlament oder der Vertreibung aus der Stadt wählen, ist
eine grobe Verletzung einer schriftlichen Abmachung –
und zwar von derselben israelischen Regierung, die
fordert, Hamas solle alle schriftlichen Abkommen mit
Israel einhalten. Es scheint da bei Olmert & Co keine
Grenzen des Zynismus’ zu geben.
Außerdem gab Shimon Peres, als das Oslo-Abkommen
unterzeichnet wurde, eine schriftliche Erklärung im
Namen der Regierung Israels ab, dass keine
palästinensische Institution in Jerusalem beschädigt
werde. Als Ehud Olmert noch der Bürgermeister von
Jerusalem war, verletzte er dies Abkommen und schloss
das „Orienthaus“. Nun verletzt er das Abkommen noch
einmal.
VIELLEICHT LOHNT es sich, die beiden Protagonisten
dieser Affäre zu vergleichen: Ronnie Bar-On und Muhammad
Abu-Tir.
Bar-On wurde in Tel Aviv zwei Monate nach der
offiziellen Gründung des Staates Israel geboren. Ich bin
mir nicht sicher, ob seine Familie ein oder zwei
Generationen früher nach Palästina gekommen war. Er war
immer ein Anhänger des rechten Flügels, von Jugend an
einer vom Herut-Likud. Er ist wegen seiner Grobheit
bekannt. In der Knesset und bei vielen seiner
Auftritte in TV-Talkshows benimmt er sich – was seine
Rede betrifft - oft wie ein wirklicher Hooligan.
Er
wurde hauptsächlich durch einen Skandal bekannt, der
seinen Namen trägt. Als die Stelle des
Generalstaatsanwaltes, ein sehr mächtiges Amt in Israel,
frei wurde, ernannte Binyamin Netanyahu Bar-On zum
Nachfolger. Auf einmal kamen Gerüchte auf, die
behaupteten, dass dies in geheimem Einverständnis mit
Shass-Führer Ariyeh Deri getan wurde, der gerade auf
sein Gerichtsverfahren wartete und am Ende ins Gefängnis
geschickt wurde. Ein öffentlicher Sturm brach aus, und
Netanyahu war gezwungen, ihn nach wenigen Tagen im Amt
wieder abzuberufen.
Als
Politiker ist Bar-On ein perfekter Opportunist. Seine
rechten Ansichten hinderten ihn nicht daran, auf den
erfolgversprechenden Wagen von Sharon zu springen, als
dieser Kadima aufbaute. Auf Grund dieses Sprungs ist er
nun Innenminister. Er brachte nie um seiner Ansichten
willen ein Opfer.
Abu-Tir wurde 1951 als Sohn einer Familie geboren, die
tief im Lande verwurzelt ist. Er war zu Gefängnisstrafe
auf Lebenszeit verurteilt worden und verbrachte (mit
Unterbrechungen) 25 Jahre im Gefängnis – fast sein
halbes Leben lang. Zuerst war er ein Fatahanhänger, aber
im Gefängnis wurde er ein frommer Muslim und schloss
sich Hamas an.
Er
wird von den Menschen seiner Umgebung bewundert. Er ist
eine liebenswürdige Person mit lebhaftem Sinn für Humor.
Man kann mit ihm problemlos ein Gespräch führen, und
er spricht hebräisch. In seiner Partei hat er großen
Einfluss.
ICH
TRAF ihn zum ersten Mal bei der stürmischen
Demonstration in A-Ram während eines
Tränengasbeschusses. Wir stimmten darin überein, uns
unter ruhigeren Umständen zu treffen. Vor ein paar
Tagen besuchte ich ihn in seiner Wohnung. Wir tauschten
unsere Meinungen aus und stimmten einander zu, dieses
Treffen öffentlich und so zu einem Politikum zu machen.
Ich bat ihn darum, herauszufinden, ob für ein größeres
Treffen mit israelischen Friedensgruppen und der
Hamasführung schon die Voraussetzungen gegeben seien.
Für
mich brachte dieses Treffen alte Erinnerungen zurück.
Vor 32 Jahren knüpfte ich erste Kontakte mit den
Abgesandten Yasser Arafats, der damals als Erz-Terrorist
angesehen wurde, als Führer einer Terrororganisation,
deren Charta zur Auslöschung des Staates Israel aufrief.
Diese Kontakte führten 1982 zu meinem Treffen mit Arafat
im belagerten Beirut. Es war sein erstes Treffen mit
einem Israeli. Aber der Kreis erweiterte sich bald und
bereitete auf beiden Seiten den Boden für das
Oslo-Abkommen und die Zwei-Staatenlösung vor.
Ich
glaube, dass es nun die Aufgabe der israelischen
Friedensgruppen sei, dasselbe noch einmal zu tun: die
erste Brücke zwischen Israelis und Hamas zu schlagen und
den Weg zu einem Dialog zwischen der Regierung Israels
und der Regierung Palästinas zu ebnen. (Übrigens,
diejenigen die so hartnäckig von der „Hamas-Regierung“
sprechen, sollten logischerweise auch den Ausdruck „Kadima-Regierung“
verwenden)
In
solch einem Prozess, der eine Veränderung der Ansichten
von Millionen Menschen auf beiden Seiten verlangt, sind
die ersten Kontakte sehr wichtig. Das Establishment und
seine zahlreichen Diener in den Medien versuchen, diese
zu ignorieren und verschweigen sie; die Öffentlichkeit
behandelt sie mit Feindseligkeit und einem Mangel an
Verständnis, bis sie sich an den Gedanken der Begegnung
gewöhnt hat. Aber es ist eine wichtige Aufgabe.
Mehr
als die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung hat für
Hamas gestimmt. Hamas ist eine Tatsache. Sie wird in
jedem denkbaren Szenarium eine größere Rolle spielen.
Die Mehrheit der Israelis sehnt sich nach einem Ende des
Konfliktes, und genau so auch die Mehrheit der
Palästinenser. Beide Regierungen müssten schließlich
diese Realität anerkennen.
Unsere Aufgabe ist es nun, ihnen zu helfen, diese Brücke
zu überqueren.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz,
vom Verfasser autorisiert)
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