Israelischer Senf
Uri Avnery, 2. Juni 2012
ES IST eine wahre Geschichte. Ich hab sie schon
einmal erzählt und werde sie noch einmal erzählen.
Einer meiner Freunde in Warschau, dessen einer
Elternteil jüdisch war, riet einem wohl bekannten polnischen
Journalisten, Israel zu besuchen, um es selbst zu erleben.
Als der Journalist zurückkam, rief er meinen Freund
an und berichtete atemlos: „Weißt du, was ich entdeckt habe? In
Israel gibt es auch Juden!“
Er meinte natürlich die Orthodoxen mit ihrer
schwarzen Kleidung und mit ihren schwarzen Hüten, die wie die
Juden aussehen, die sich ins polnische Gedächtnis eingeprägt hatten.
Sie können in jedem polnischen Souvenirladen neben andern Figuren
polnischer Folklore: König, Edelmann, Soldaten etc. gesehen werden.
Wie jener Ausländer sofort bemerkte, haben diese
Juden keinerlei Ähnlichkeit mit normalen Israelis, normalen
Franzosen, Deutschen und eben Polen.
DIE ORTHODOXEN (auf Hebräisch „Haredim“, die
gottesfürchtig sind) sind kein Teil des israelischen Staates. Sie
wollen es nicht sein.
Die meisten von ihnen leben in isolierten Ghettos,
die große Teile Jerusalems ausmachen, die Stadt Bnei Brak und
mehrere sehr große Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Wenn man an ein Ghetto (ursprünglich der Name eines
Stadtteils von Venedig) denkt, denkt man an die demütigende
Isolierung, die den Juden von etlichen christlichen Herrschern
auferlegt wurde. Aber ursprünglich war es eine selbst gewählte
Isolierung. Orthodoxe Juden wollten zusammenleben, getrennt von der
allgemeinen Bevölkerung, nicht nur, weil es ihnen ein Gefühl der
Sicherheit gab, sondern auch – und hauptsächlich – wegen ihres
Glaubens. Sie brauchten eine Synagoge, die sie am Shabbat zu Fuß
erreichen konnten, ein rituelles Bad, koschere Lebensmittel und
viele andere religiöse Requisiten. Sie brauchen dies heutzutage in
Israel und anderswo.
Aber vor allem wollen sie den Kontakt mit anderen
meiden. In modernen Zeiten mit all den gefährlichen Versuchungen
benötigen sie dies – weit mehr – als sonst. In den Straßen voll
großer Reklameplakate unbekleideter Frauen, mit TV, das oft einen
endlosen Strom sanfter (und manchmal nicht so sanfter) Pornographie
bringt, und das Internet voll gefährlicher Informationen und
persönlicher Kontakte – die Orthodoxen müssen ihre Kinder beschützen
und sie von der sündigen israelischen Lebensweise fernhalten.
Es ist eine Sache des reinen Überlebens für eine
Gemeinschaft, die seit 2500 Jahren existiert und die bis vor 250
Jahren praktisch alle Juden einschloss.
ZIONISMUS WAR, wie ich oft betonte, u.a. eine
Rebellion gegen das Judentum, etwa wie Martin-Luthers Rebellion
gegen den Katholizismus.
Als Theodor Herzl seine Flagge hisste, lebten fast
alle osteuropäischen Juden in einer ghettoartigen Atmosphäre, von
großen Rabbinern beherrscht. Alle diese Rabbiner sahen fast ohne
Ausnahme den
Zionismus als den großen Feind an, mehr als die
Christen den Antichristen.
Und nicht ohne Grund. Die Zionisten waren
Nationalisten, Anhänger der neuen europäischen Doktrin, nach der
sich menschliche Kollektive zuerst auf ethnische Ursprünge, Sprache
und Land, nicht auf Religion gründete. Sie war das Gegenteil zum
jüdischen Glauben, dass Juden das Volk Gottes seien, vereint im
Gehorsam gegenüber seinen Geboten.
Wie jeder weiß, hat Gott sein auserwähltes Volk
wegen seiner Sünden aus ihrem Land vertrieben und ins Exil
gebracht. Eines Tages wird Gott ihnen vergeben und ihnen den
Messias senden, der die Juden, einschließlich den Toten, dann nach
Jerusalem führen wird. Die Zionisten mit ihrem verrückten Wunsch,
dies selbst zu tun, begingen nicht nur eine tödliche Sünde, sondern
rebellierten gegen den Allmächtigen, der ausdrücklich seinem Volk
verboten hat, das Heilige Land en masse zu betreten.
Herzl und fast all die anderen zionistischen
Gründungsväter waren überzeugte Atheisten. Ihre Haltung gegenüber
den Rabbinern war herablassend. Herzl schrieb, dass der zukünftige
jüdische Staat die Rabbiner in ihren Synagogen halten würde (und die
Armeeoffiziere in ihren Kasernen). Alle bedeutenden Rabbiner jener
Zeit verfluchten ihn mit derben Ausdrücken.
Doch hatten Herzl und seine Kollegen ein Problem. Wie
kann man Millionen von Juden, die mit ihrer alten Religion verbunden
sind, für den neumodischen Nationalismus gewinnen? Er löste das
Problem, indem er die Fiktion erfand, dass die neue zionistische
Nation nur eine Fortsetzung des alten jüdischen „Volkes“ in einer
neuen Form sei. Für diesen Zweck „stahl“ er die Symbole der
jüdischen Religion und verwandelte sie in nationale um: der jüdische
Gebetsschal wurde zur zionistischen (und jetzt zur
israelischen) Flagge, die jüdische Menora (der
Kerzenleuchter im Tempel) wurde zum Staatsemblem, der Davidstern
wurde das oberste nationale Symbol. Fast alle religiösen Feiertage
wurden ein Teil der neuen nationalen Geschichte.
Diese Umwandlung wurde enorm erfolgreich. Praktisch
alle „jüdischen“ Israelis akzeptieren dies heute als
selbstverständliche Wahrheit. Außer den Orthodoxen.
DIE ORTHODOXEN behaupten, sie und nur sie seien die
wahren Juden und die rechten Erben der
Jahrtausende langen Geschichte.
Sie haben damit vollkommen recht.
Die Gründungsväter erklärten, sie wollten einen
„neuen Juden“ schaffen. Tatsächlich schufen sie eine neue Nation,
die israelische.
David Ben Gurion, ein begeisterter Zionist, sagte,
die zionistische Organisation sei das Gerüst für den Aufbau des
Staates Israel gewesen und sollte abgebaut werden. Ich gehe noch
weiter : Zionismus als solcher war das Gerüst und sollte jetzt
abgebaut werden . Die Fiktion, dies sei ein „jüdischer“ Staat, ist
die Fortsetzung einer am Anfang notwendigen Fiktion, die überflüssig
und jetzt sogar schädlich geworden sein kann.
Diese Fiktion schafft die gegenwärtige Situation: die
Orthodoxen werden von den Israelis wie ein Teil der
jüdisch-israelischen Gemeinschaft angesehen, während sie sich wie
ein fremdes Volk verhalten. Es ist nicht nur richtig, dass sie die
israelische Flagge nicht grüßen (wie erwähnt, der Gebetsschal mit
dem Davidstern) und sich weigern, den Unabhängigkeitstag zu feiern
(übrigens wie die arabischen Bürger) – aber sie weigern sich auch,
in der Armee zu dienen oder anderen nationalen Dienst zu tun.
Dies ist jetzt der Hauptzankapfel in Israel.
Offiziell behaupten die Orthodoxen, alle ihre jungen Leute, die
verpflichtet seien, Militärdienst zu machen – etwa 15 000 jedes Jahr
– seien fleißig dabei, den Talmud zu studieren und könnten nicht
einen Tag damit aufhören, geschweige denn drei Jahre wie gewöhnliche
Studenten. Ein Rabbiner erklärte letzte Woche, sie dienten
tatsächlich mehr dem Land als gewöhnliche Kampfsoldaten, weil sie
den Schutz Gottes für den Staat sichern helfen.
Der Oberste Gerichtshof – so scheint es – ist nicht
so sehr von dem göttlichen Schutz beeindruckt und annullierte
kürzlich ein Gesetz, das die Orthodoxen vom Militärdienst befreit,
was ein politisches Gerangel von Alternativen verursachte. Ein neues
Gesetz, das den Gerichtshof umgeht, wird gerade erarbeitet.
Tatsächlich werden die Orthodoxen ihren Kindern nie
erlauben, in der Armee zu dienen wegen der berechtigten Angst, sie
würden von den gewöhnlichen Israelis verunreinigt – sie erfahren von
Nachtclubs, TV und - Gott bewahre – von Haschisch und am
schlimmsten, das Hören weiblicher Singstimmen – was nach dem jüdisch
religiösen Gesetz eine totale Scheußlichkeit sei.
Die Trennung zwischen den Orthodoxen und anderen –
manche sagen zwischen Juden und Israelis - ist fast vollkommen. Die
Orthodoxen sprechen eine andere Sprache (Jiddisch), haben eine
andere Körpersprache, kleiden sich anders, haben ein anderes
Weltbild. In ihren getrennten Schulen lernen die Kinder völlig
andere Fächer ( kein Englisch, keine Mathematik, keine weltliche
Literatur, keine Geschichte anderer Völker).
Israels Schüler von Staatsschulen haben keine
gemeinsame Sprache mit den Schülern der orthodoxen
Schulen, weil sie völlig verschiedene Geschichten
lernen. Ein extremes Beispiel:
Vor ein paar Jahren veröffentlichten zwei Rabbiner
ein Buch „Der Königsweg“, das feststellt, dass das Töten von
Kindern von Nicht-Juden gerechtfertigt sei, falls befürchtet wird,
dass diese - wenn erwachsen – Juden verfolgen würden. Mehrere
bedeutende Rabbiner unterstützten das Buch. Unter Druck der
öffentlichen Meinung, begann die Polizei eine strafrechtliche
Untersuchung wegen Hetze. In dieser Woche entschied der
Generalstaatsanwalt endlich, diese Sache nicht weiter zu verfolgen,
weil die Rabbiner nur religiöse Texte zitierten.
Ein orthodoxer Jude kann nicht in einem gewöhnlichen
israelischen Haus essen (nicht koscher, oder nicht koscher genug).
Sicherlich würde er auch seine Tochter nicht mit einem säkularen
israelischen jungen Mann verheiraten lassen.
Das Verhalten gegenüber Frauen ist vielleicht der
bemerkenswerteste Unterschied. In der jüdischen Religion gibt es
absolut keine Gleichheit unter den Geschlechtern. Die Orthodoxen
sehen ihre Frauen – und die Frauen sich selbst – hauptsächlich als
Mittel zur Vermehrung an. Der Status der orthodoxen Frauen wird von
der Anzahl ihrer Kinder bestimmt. In bestimmten Stadtteilen
Jerusalems ist es ganz normal eine schwangere Frau in den 30ern zu
sehen, die von einer Schar Kinder umgeben ist und ein Baby im Arm
hält. Familien mit 10 bis 12 Kindern sind keine Ausnahme.
EIN WOHLBEKANNTER israelischer Kommentator und eine
TV-Persönlichkeit schrieb vor kurzem, die Orthodoxen sollten
„zusammengeschrumpft“ werden. Als Erwiderung goss ein orthodoxer
Schreiber seinen Zorn über „säkulare“ Personen, die nicht gegen den
Artikel protestierten, unter anderen: „den unermüdlichen Ideologen
Uri Avnery“. So sollte ich meinen Standpunkt klar machen.
Als ein atheistischer Israeli respektiere ich die
Orthodoxen für das, was sie sind – eine andere Entität. Man könnte
auch sagen: ein anderes Volk. Sie leben in Israel, sind aber keine
wirklichen Israelis. Für sie ist der israelische Staat wie jeder
andere nicht-jüdische Staat, die Israelis sind wie jedes andere
nicht-jüdische Volk. Der Unterschied liegt nur darin: sie haben die
israelische Staatbürgerschaft. Sie können den Staat schamlos melken.
Wir finanzieren praktisch ihre ganze Existenz – ihre
Kinder, ihre Schulen, ihr Leben ohne Arbeit.
Mein Vorschlag für einen aufrecht zu erhaltenden
Modus vivendi wäre:
Als erstes eine vollkommene Trennung von Staat und
Religion. Alle Gesetze, die sich auf Religion stützen, annullieren.
Zweitens den Orthodoxen vollkommene Autonomie
gewähren. Sie sollen ihre repräsentativen
Institutionen selbst wählen und in allen
religiösen, kulturellen und Bildungsfragen sich selbst regieren. Sie
sollten vom Militärdienst befreit werden.
Drittens sollten die Orthodoxen ihre religiösen
Dienste selbst bezahlen mit Hilfe ihrer Brüder im Ausland.
Vielleicht könnte es für diesen Zweck eine freiwillige Steuer geben,
die der Staat dann zu der autonomen Behörde weiterleitet.
Viertens würde es kein „Oberrabbinat“ geben oder
andere vom Staat ernannte Rabbiner. Diese werden ja sowieso von den
Orthodoxen zurückgewiesen. (Der einmalige Yeshayahu Leibowitz, ein
praktizierender Jude, nannte einmal den Oberrabbiner Shlomo Goren
„den Clown mit dem Shofarhorn“)
I würde übrigens eine ähnliche Autonomie für die
arabischen Bürger vorschlagen, falls sie es wünschen.
DA BLEIBT NOCH die Frage der sog.
„National-Religiösen“. Sie sind die Nachkommen der winzigen
Minderheit religiöser Juden, die sich von Anfang an der
zionistischen Bewegung angeschlossen haben. Sie sind jetzt eine
große Gemeinde. Nicht nur, dass sie begeisterte Zionisten sind, sie
sind die ultra-ultra-Rechten, die das Siedlungsunternehmen und den
gewalttätigen rechten Zionismus anführen. Sie akzeptieren nicht nur
den Staat und die Armee – sie hoffen, beide anzuführen und haben
schon beträchtliche Fortschritte in dieser Richtung gemacht.
Doch auch in religiösen Angelegenheiten werden sie
immer extremer und nähern sich den Orthodoxen. Einige Israelis
nennen beide Gruppen schon „Chardal“ ( das mit „Nareor“ übersetzt
werden kann – National-Religiös-Orthodoxe) Chardal bedeutet übrigens
Senf.
Was soll man mit diesem Senf bei einem autonomen
Essen tun? Lasst mich einen Augenblick nachdenken.
ÜBRIGENS,WENN ein Israeli von einem Ausländer
irgendwo auf der Welt gefragt wird: „Was sind Sie?“ Wird er immer
antworten: „Ich bin ein Israeli.“ Er wird garantiert niemals sagen:
„Ich bin ein Jude“. Außer den Orthodoxen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)