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“… ein kleiner Knabe soll
sie treiben”
Von Uri Avnery, 28.11.2009
THOMAS FRIEDMAN, Reporter der New York Times hat eine Idee.
Das passiert ihm ziemlich oft, man könnte fast sagen zu oft.
Er schlägt folgendes vor: Die USA werden dem
israelisch-palästinensischen Konflikt den Rücken zukehren.
Die ganze Welt wird ihnen folgen. Denn jeder ist dieses
Konfliktes längst überdrüssig. Lasst die Israelis und die
Palästinenser doch ihre Probleme alleine lösen!
Das klingt ganz vernünftig. Warum soll sich die Welt weiter
mit den zwei ungezogenen Kindern herumärgern. Sollen sie
sich doch herumschlagen, soviel wie sie wollen. Die
Erwachsenen sollten nicht dazwischen gehen.
In Wirklichkeit ist dies jedoch ein ungeheuerlicher
Vorschlag. Weil diese beiden Kinder nicht gleich stark sind.
Wenn ein Erwachsener einen 14-Jährigen sieht, wie er einen
sechsjährigen gnadenlos misshandelt - kann er da denn nur
zusehen?
Israel ist materiell hundertmal, ja eigentlich tausendmal
stärker als die Palästinenser. Die viertstärkste Armee der
Welt - nach seiner eigenen Schätzung - beherrscht das Leben
eines hilflosen Volkes. Die israelische Wirtschaft
beherrscht mit einigen der fortschrittlichsten Techniken der
Welt ein Volk, dessen Ressourcen gleich Null sind. Eine 42
Jahre anhaltende Besatzung beherrscht jeden Winkel des
besetzten Palästina.
Dies geschah nicht durch ein Wunder. Die große Kluft
zwischen den Kräften der beiden Völker ist durch
Unterstützung der USA für Israel geschaffen worden. Israel
wäre heute nicht da, wo es jetzt ist, ohne diese politische,
wirtschaftliche und militärische Unterstützung. Die
Milliarden Dollars jährlicher Hilfe, der Zugang zur
fortschrittlichsten Militärausrüstung der Welt, die
politische Immunität durch das Veto der USA im
Sicherheitsrat, und all die anderen Arten von Unterstützung
haben Israels Regierungen sukzessive geholfen, die Besatzung
aufrecht zu erhalten und zu intensivieren.
Friedman schlägt nicht vor, diese Unterstützung abzubrechen,
die in diesem Konflikt an sich schon ein massiver Eingriff
wäre und die stärkere Seite begünstigt. Wenn er vorschlägt,
die USA möchten sich aus dem Konflikt herausziehen, sagt er
tatsächlich: lasst die israelische Regierung tun, was sie
tut - die Besatzung fortführen, neue Siedlungen bauen, das
Land unter den Füßen der Palästinenser wegziehen, mit der
mörderischen Blockade weitermachen, die 1,5 Millionen
Palästinensern im Gazastreifen - Männern, Frauen und Kindern
- fast alles zum Leben Notwendige verweigert.
Dies ist ein ungeheurer Vorschlag.
Der Prophet Jesaja (11,6) beschreibt eine Situation, wo der
Wolf neben dem Lamm liegen soll (israelischer Humor
kommentiert: Kein Problem, vorausgesetzt, jeden Tag wird ein
neues Lamm gebracht). Nun schlägt der Prophet Thomas vor,
der Wolf und das Lamm sollen ihre Probleme unter einander
regeln.
BINJAMIN NETANJAHU hätte sich in seinen wildesten Träumen
nichts Besseres wünschen können. Mittlerweile ist er mit
weniger zufrieden: Präsident Obama akzeptiert seinen letzten
Trick.
Mit gequältem Gesicht steht Netanyahu nun vor dem Volk und
erzählt uns von der unmenschlich schwierigen Entscheidung,
die Siedlungsbauaktivitäten zu suspendieren.
Die ganze Welt applaudiert. Wunderbar! Netanyahu opfert
seine heiligsten Prinzipien auf dem Altar des Friedens. Er
hat einen phantastischen Schritt gemacht. Nun ist es an den
Palästinensern, mit einer großzügigen Geste zu reagieren.
Aber an diesem Bild ist etwas falsch und muss erklärt
werden.
Kehren wir noch einmal zum großen Sherlock Holmes zurück,
der über den seltsamen Vorfall mit dem Hund während der
Nacht sprach: "Aber der Hund hat nachts doch gar nichts
gemacht", wurde ihm gesagt. "Genau das ist der seltsame
Vorfall", antwortete der Detektiv.
Man hätte vermuten können, dass nach einer so dramatischen
Ankündigung des Likud-Führers, die Siedler ohrenbetäubenden
Lärm gemacht hätten; Unruhen auf den Straßen in allen
Städten ausgebrochen, die Straßen in den besetzten Gebieten
blockiert worden wären und eine Rebellion der Siedler im
Kabinett und in der Knesset stattgefunden hätte.
Aber der Hund hat gar nicht gebellt. Kaum ein Jaulen - nicht
einmal zum Schein. Die Kultusministerin Limor Livnat öffnete
ihr großes Mundwerk und erklärte, die Obama-Regierung sei
"schrecklich". Das war mehr oder weniger alles. Der
Siedlerminister Avigdor Lieberman stimmte sogar für die
Entscheidung im Kabinett, so auch der extremistische
Likud-Minister Benny Begin, Sohn des verstorbenen
Ministerpräsidenten.
Begin erklärte sein seltsames Verhalten sogar im Fernsehen:
er habe keinen Grund, dagegen zu stimmen. Schließlich sei es
ja nur eine Geste zur Beruhigung von Obama. Sie habe keinen
wirklichen Inhalt. Das Bauen "öffentlicher Gebäude" würde
weitergehen (etwa 300 neue Wohnungen sind allein in dieser
Woche genehmigt worden). Das Bauen von Häusern, deren
Fundamente schon gelegt seien, würde weitergehen (mindestens
3000 Wohnungen in der Westbank). Und was besonders wichtig
ist: es gibt absolut keine Begrenzung bei der Bautätigkeit
jüdischer Gebäude in Ostjerusalem, wo jetzt an einem halben
Dutzend Örtlichkeiten mitten im arabischen Stadtteil rasant
weitergebaut wird. Und abgesehen davon: die Baupause wird
nur zehn Monate dauern. Begin versprach, das Bauen würde
dann in vollem Schwung wieder aufgenommen.
Dies würde die Siedler nicht beruhigt haben, wenn sie nicht
wüssten, was jeder Israeli weiß, dass dies alles Schwindel
ist. Das Bauen wird überall im Stillen weitergehen im
Einverständnis mit den Funktionären und den geschlossenen
Augen der Armee. Man wird behaupten, dass es schon
Baugenehmigungen gebe, dass die Grundmauern schon liegen (an
vielen Orten liegen sie tatsächlich schon - nur für den
Fall, dass …). So war es in der Vergangenheit unter den
Regierungen von Labor genau wie unter Kadima, und so wird es
weitergehen. In dieser Woche wurde bekannt, dass in der
ganzen Westbank 14 (vierzehn!) Regierungsinspektoren
Bauaktivitäten überwachen.
Im selben Fernsehprogramm saß Yossi Beilin neben Begin. Man
hätte erwarten können, dass wenigstens er den Schwindel
aufdeckt - aber nein. Beilin lobte Netanyahu für seine
tapfere Tat und sah darin einen verheißungsvollen Neuanfang.
Auf diese Weise half er die Weltmeinung zu gewinnen und die
Gemüter der israelischen Naivlinge zu beruhigen. Man kann
sich kaum ein traurigeres Exempel über den Kollaps der
"zionistischen Linken" vorstellen. Die Genfer Initiative ist
zum Jerusalem Betrug geworden.
Auch die größte Oppositionspartei hat sich diesem Chor
angeschlossen. Zipi Livni, die den beeindruckenden
offiziellen Titel "Führerin der Opposition" trägt, murmelte
etwas Unverständliches und legte sich schlafen.
UND OBAMA? Er kapitulierte noch einmal. Nachdem er seine
ursprüngliche Forderung eines völligen Einfrierens des
Siedlungsbaus aufgegeben hatte, hatte er keine andere Wahl
noch einmal nachzugeben. Er reagierte auf die schäbige
Vorführung Netanyahus, als ob sie ein großes Drama wäre.
Obama benötigt ein Erfolgserlebnis. Es wird gesagt, er habe
bis jetzt keinen einzigen Erfolg in der internationalen
Arena gehabt. Hier endlich ist ein Erfolg. Netanyahus
Einfrieren - pardon, Einschränkung - pardon, Suspendierung -
der Siedlungsaktivitäten.
Mein Vater lehrte mich in meiner Jugend, dass man einem
Erpresser nie nachgeben solle. Wenn man erst einmal
nachgegeben hat, ist man verurteilt, immer wieder
nachzugeben, obwohl die Forderungen des Erpressers immer
größer werden. Wenn man einmal der Israel-Lobby nachgegeben
hat, muss Obama ihr immer wieder nachgeben.
Man kann ihn und seine Mitarbeiter fast nur bemitleiden.
Solch eine eindrucksvolle, zähe und so erfahrene Gruppe -
sie kehrten aus Jerusalem zurück wie Napoleons Armee von
Moskau.
Wir sahen, wie der arme George Mitchell, der Mann, der
zwischen den mörderischen Fraktionen in Irland den Frieden
erreichte, nach Jerusalem kam. Und kam und kam und kam. Er
kam als Vertreter der verbliebenen einzigen Weltmacht, um
den Israelis und den Palästinensern zu sagen, was sie tun
müssten. Er war zäh. Er diktierte Termine.
Israels Regierungsvertreter lachten hinter seinem Rücken.
Sie sind an solche Leute gewöhnt. Man hat sie schon zum
Frühstück verspeist. Erinnert man sich an William Roger,
Nixons Außenminister und seinen Friedensplan? Und an den
große Henry Kissinger? Und sogar an James Baker, der
versuchte, uns wirtschaftliche Sanktionen aufzuerlegen? Und
an Bill Clintons "Richtlinien"? Und an die "Vision" des
George Bush? Der politische Friedhof ist voll mit
amerikanischen Politikern, die versuchten, Israel in die
Schranken zu weisen, ohne bereit zu sein, die nötige Macht
auszuüben. Willkommen, George! Schön, dich noch mal zu
sehen, Hillary.
Das Pathetische daran ist, dass Netanyahu Obama nicht einmal
täuscht. Der amerikanische Präsident weiß genau, dass dies
alles ein Spiel ist. Er ist sehr intelligent, aber er ist
nicht mutig. Denn für die Linsensuppe eines angeblichen
Erfolges hat er sein politisches Erstgeburtsrecht verkauft.
Selbst George Bush erhielt von Ariel Sharon eine
Zusicherung, dass alle Siedlungen aufgelöst würden, die nach
März 2001 errichtet wurden (eine Zusicherung - unnötig zu
sagen - die nicht gehalten wurde).
Dies ist ein großer Sieg für Netanyahu, schon der zweite
über Obama. Noch nicht der entscheidende Sieg, aber ein
Sieg, der ein schlechtes Zeichen für die Friedenschancen in
naher Zukunft ist.
NETAYAHU VERSUCHTE nicht einmal, die Palästinenser zu
täuschen. Er wusste, dies ist unmöglich. Jeder Palästinenser
versteht Netanyahus Ankündigung nur zu gut. Er muss nur aus
seinem Fenster schauen, um zu sehen, was dort geschieht.
Schließlich wird Israel keine Milliarden in neue Gebäude
investieren, wenn es beabsichtigt, die Siedlungen innerhalb
von ein oder zwei Jahren um des Friedens willen wieder
abzureißen.
Es gibt kaum einen Ort in der Westbank, von wo man nah oder
fern auf einer Hügelkuppe nicht eine Siedlung sehen kann. An
manchen Stellen kann man sogar zwei oder drei sehen. Kommt
man näher, sieht man, wie die Bautätigkeit offen oder
heimlich in vollem Schwung ist, die "legale" wie die
"illegale".
Und was noch wichtiger ist: es gibt keinen palästinensischen
Verantwortlichen, der mit dem anhaltenden Bauen in
Ost-Jerusalem einverstanden sein kann. Der Bau von jüdischen
Hausprojekten geht weiter, während palästinensische Häuser
zerstört werden, das "archäologische" Graben geht genau so
weiter wie alle anderen Aktivitäten , um Jerusalem zu "judaisieren"
- gerade heraus gesagt: um Jerusalem "araberrein" zu machen.
Wenn Obama gegenüber Netanyahu kapituliert, dann kann
Mahmoud Abbas nichts tun. Wenn die Amerikaner von den
Palästinensern verlangen, sie sollen auf Netanyahus
"bedeutenden" Schritt mit einem eigenen bedeutsamen Schritt
reagieren, dann ist dies nichts als ein trauriger Witz. Die
Amerikaner helfen Netanyahu den Ball in den
palästinensischen Hof zu kicken und fragen mit frommem
Augenaufschlag, warum die Palästinenser nach solch
bedeutsamer Geste den "Friedensprozess" nicht wieder
aufnehmen.
Aber Abbas kann keine Verhandlungen beginnen, solange der
Siedlungsbau nicht völlig eingefroren ist, besonders in
Jerusalem. Der einzige Dialog zwischen Israelis und
Palästinensern findet jetzt mit der Hamas statt. Der
Gefangenenaustausch nähert sich seiner Entscheidung. Der
letzte Zankapfel ist die Befreiung des Fatah-Führers Marwan
Barghouti, der fünfmal lebenslang bekommen hatte.
Wenn der Handel perfekt gemacht und Barghouti befreit würde,
würde dies eine zusätzliche Demütigung für Abbas sein. Man
wird sagen, dass die Hamas und nicht er zur Befreiung des
Fatah-Führers beigetragen habe. Der befreite Barghouti wird
handeln, um die Spaltung zwischen der Fatah und der Hamas zu
überwinden, und er wird ein glaubwürdiger Kandidat für die
Präsidentschaft der palästinensischen Behörde sein. Dann
wird ein neues Kapitel des Konfliktes beginnen.
ES LOHNT sich, den vollen Text aus der Jesaja-Prophetie zu
lesen: "…da wird der Wolf bei den Lämmern wohnen, und der
Panther bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber
und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben."
Die Aufgabe des Knaben - so scheint es - fällt auf Obama.
Wenn er - Gott bewahre - Friedmans Rat annimmt, und die
Szene verlässt, dann wird die Vision zu einem Alptraum. Die
israelische Regierung wird die Unterdrückung verstärken; die
Palästinenser werden sich einem hemmungslosen Terrorismus
zukehren; die ganze Welt wird in blutiges Chaos versinken.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
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