Es gibt Richter in Den Haag
Uri Avnery,
10.7.04
Haaretz, eine der israelischen
Zeitungen, bringt die beiden Begebenheiten auf ihrer Titelseite: den
hundertsten Todestag von Theodor Herzl, dem Gründer der modernen
zionistischen Bewegung, und das Urteil des Internationalen
Gerichtshofes ( ICJ), der den israelischen Trennungswall für illegal
erklärte.
Die Verbindung zwischen beiden
scheint zufällig. Welche Verbindung könnte zwischen dem Gedenken
eines historischen Datums und dem letzten aktuellen Geschehen
möglich sein?
Doch da gibt es eine Verbindung. Sie
ist in einem von Herzl geschriebenen Satz in „Der Judenstaat“
enthalten, dem Buch, das zum Eckstein des Zionismus wurde.
Er lautet: „Dort ( in Palästina)
werden wir ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den
Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“
Dieser Satz könnte sogar heute
geschrieben sein. Amerikanische Denker reden vom „Zusammenstoß der
Zivilisationen“, der westlichen „judeo-christlichen“ Kultur, die
auf die „islamische Barbarei“ stößt. Amerikanische Führer erklären,
dass Israel der Vorposten der westlichen Zivilisation im Kampf
gegen den arabisch-muslimischen „internationalen Terrorismus“ sei.
Zu diesem Zweck baut Sharon eine Mauer (so wird gesagt), um Israel
vor dem palästinensisch-arabischen Terror zu schützen. Man erklärt
bei jeder Gelegenheit, dass der Kampf gegen den „palästinensischen
Terrorismus“ ein Teil des Kampfes gegen den „internationalen
Terrorismus“ sei. Die Amerikaner unterstützen die israelische Mauer
mit ganzem Herzen und mit ihrem Geld.
Selbst der halboffizielle Name der
Barriere – „Trennungszaun“ – betont diese Tendenz. Die Absicht ist,
zwischen Nationen, zwischen Zivilisationen und tatsächlich zwischen
der Kultur (der unsrigen) und der Barbarei (der ihrigen) zu trennen.
Dies sind profunde ideologische,
meist unbewusste Gründe, um die Mauer zu bauen. Oberflächlich
betrachtet, scheint es eine praktische Antwort auf eine wirkliche
und gegenwärtige Gefahr zu sein. Ein gewöhnlicher Israeli wird
sagen: „Bist du verrückt? Wovon sprichst du eigentlich? Was hat das
mit Herzl zu tun? Er starb vor hundert Jahren!“ Aber es gibt
tatsächlich eine direkte Verbindung.
Dies trifft auch auf einen anderen
Aspekt der Mauer zu. Zu Herzls Zeit wurde ein Satz geprägt, der zum
Slogan der frühen zionistischen Bewegung wurde: „ Ein Land ohne
Volk für ein Volk ohne Land.“ Mit anderen Worten: Palästina ist ein
leeres Land.
Jedem, der an der geplanten Route
der Mauer entlang fährt, fällt sofort ein Aspekt auf: der Verlauf
der Mauer wurde ohne die geringste Rücksicht auf das Leben der dort
lebenden palästinensischen Menschen bestimmt. Die Mauer trifft sie
so, wie eine Ameise, die achtlos zertreten wird. Die Bauern werden
von ihren Feldern getrennt, die Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen,
Schüler von ihren Schulen, kranke Leute vom Krankenhaus, die
Trauernden von den Gräbern ihrer Angehörigen.
Man kann sich gut vorstellen, wie
sich Militärs und Siedler über eine Landkarte beugen und den Verlauf
der Mauer planen – als ob es eine leere Landschaft wäre mit nichts
außer Siedlungen, Armeebasen und Landstraßen. Sie argumentieren über
die Topographie, taktische Erwägungen und strategische Ziele.
Palästinenser? Was für Palästinenser?
Der israelische Oberste Gerichtshof,
der letzte Woche seine Entscheidung getroffen hat, konzentrierte
sich vor allem auf diesen Punkt. Er bestritt nicht die Erklärungen
der Generäle, dass die Mauer notwendig sei. Wenn die Generäle das
sagen, steht das Gericht in Habachtstellung und salutiert Das
Gericht hat auch nicht entschieden, dass die Mauer auf der Grünen
Linie, der international anerkannten Grenze zwischen Israel und
den 1967 besetzten Gebieten gebaut werden solle – übrigens wäre
es auch die kürzeste und am leichtesten zu verteidigende Route. Es
erkannte aber die Tatsache an, dass diese Gebiete von
palästinensischer Bevölkerung bewohnt sind, und verlangte, dass
ihre menschlichen Bedürfnisse berücksichtigt werden müssten.
Während der vergangenen Woche wurde
klar, dass die Armee bereit ist, einige Korrekturen am Verlauf der
Mauer zu machen, aber nicht die Grundkonzeption zu ändern. Die
korrigierte Route schafft für die Palästinenser immer noch Enklaven
und begrenzt ihre Bewegungsfreiheit, wenn auch weniger als vorher.
Einige der Bauern werden wieder mit ihrem Land verbunden werden.
Mehr nicht.
Nun kommt der Internationale
Gerichtshof und verkündet Prinzipien, die den israelischen
Friedenskräften, die gegen die Mauer demonstrierten, viel näher
stehen. Er sagt, dass die Mauer selbst illegal sei, außer dort, wo
sie an der Grünen Linie entlang geht. Alle innerhalb der besetzten
Gebiete gebauten Abschnitte verletzen das internationale Gesetz
sowie die Konventionen und Abkommen, die von Israel unterzeichnet
wurden.
Der Gerichtshof sagt, dass diese
Abschnitte der Mauer entfernt, die Situation wieder wie zuvor
hergestellt und die Palästinenser für den ihnen zugefügten Schaden
entschädigt werden müssen . Alle Staaten der Welt werden dazu
aufgerufen, sich jeder Hilfe für den Mauerbau zu enthalten.
Wird dies irgendeine
Wirkung auf die Meinung der israelischen Öffentlichkeit haben? Ich
fürchte, nein. Während der letzten Monate bereitete die offizielle
Propagandamaschine die Öffentlichkeit auf diesen Tag vor. Sie ließ
verlauten, die Richter des Internationalen Gerichtshofs seien
Antisemiten, es sei ja wohl bekannt, dass alle Nationen, außer den
USA, den jüdischen Staat zerstören wollten. Vor ein paar Jahren gab
es ein lustiges Lied: „Alle Welt ist gegen uns, aber was kümmert uns
das?“ Sollen sie zur Hölle gehen!
Wird dies irgendeine Wirkung auf die
öffentliche Meinung der Welt haben? Wahrscheinlich, obwohl die
„beratende Stellungnahme“ des Gerichtshofes nicht bindend ist, und
der Gerichtshof keine Armee oder Polizei hat, um seine
Entscheidungen durchzusetzen. Es hat keinen Zweck, diese dem
Sicherheitsrat zu unterbreiten, wo sie automatisch von einem
amerikanischen Veto abgeschossen werden. Jederzeit und erst recht
kurz vor den Wahlen wird eine amerikanische Regierung es sehr
ungern tun, die pro-israelische Lobby - die jüdische sowieso - und
die christlich-fundamentalistische zu verärgern. Die USA wird den
Gerichtshof ignorieren und die Mauer weiter finanzieren.
Aber in der veto-freien UN
–Vollversammlung wird es eine ausführliche Debatte geben, die die
Scheinwerfer auf die wirkliche Natur der Mauer werfen wird. Der
Propagandamaschine der Sharon-Regierung, die von den meisten Medien
der Welt unterstützt und begünstigt wurde, ist es gelungen, die
Mauer als notwendiges Mittel zur Verhinderung von
Selbstmordattentaten innerhalb Israels darzustellen. Die Debatte
innerhalb der Vollversammlung kann helfen, dass viele den
wirklichen Zweck des Monsters veröffentlichen.
Einen Tag vor dem Urteil des IJC war
ich in einem großen Zelt in A-Ram, nördlich von Jerusalem, einer
Stadt, die eines der Hauptopfer der Mauer ist. Dort fand ein
Hungerstreik von Palästinensern und Israelis gegen die Mauer statt.
Der Ort zog Pilger von überall im Lande an.
Im Zelt fand die Weltpremiere eines
Films statt. Seine Regisseurin Simone Bitton, eine Israelin
nordafrikanischer Herkunft, die in Paris lebt, zeigte die Mauer, wie
sie tatsächlich ist.
Im Film berichten Palästinenser, was
die Mauer ihnen angetan hat. Ein jüdischer Kibbuzbewohner sagt,
dass sie für Israel ein Unglück sei, für das wir selbst
verantwortlich seien. Der Direktor des Verteidigungsministeriums,
General Amos Yaron ( der von seinem Armeeposten von der Kahan
–Untersuchungskommission entlassen wurde, weil er in die Sabra- und
Shatila-Affäre verwickelt war) erklärt, dass die Palästinenser
selbst an ihrem Leiden schuld seien. Wenn sie nicht gegen die
Besatzung Widerstand leisten würden, dann wäre auch die Mauer nicht
nötig.
Die bewegendste Szene war rein
visuell, eine Sequenz ohne Worte. Man sieht grüne Felder und
Olivenhaine, die sich bis zum Horizont erstrecken - dazwischen ein
paar Dörfer mit ihren schlanken Minaretten. Ein riesiger Kran zieht
eine mächtige Betonplatte hoch und setzt sie an ihren Platz in der
Mauer. Sie deckt nun einen Teil der Landschaft zu. Eine zweite
Betonplatte verdeckt noch mehr der Landschaft, eine dritte
Betonplatte deckt sie völlig zu. Dabei wird einem klar, dass direkt
vor den eigenen Augen noch ein Dorf auf immer vom Leben
abgeschnitten wurde – durch die 8 Meter hohe Mauer, die das Dorf von
allen Seiten einschließt.
Im selben Augenblick blitzte mir ein
Gedanke durch den Kopf: derselbe Kran, der jetzt die Platten setzt,
kann sie schließlich auch wieder entfernen. So geschah es in
Deutschland. Es wird auch hier geschehen. Die Entscheidung der
Richter in Den Haag, die aus 15 verschiedenen Ländern kommen, haben
ihren Beitrag geleistet.
Vielleicht ist es eine Ironie der
Geschichte: die Richter, die die europäische Kultur vertreten,
fordern, dass die Mauer entfernt wird. Wenn Herzl dies miterlebt
hätte, würde er sich sehr gewundert haben.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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