Mon Dieu, Mondial!
( Mein Gott, die WM !)
( Bälle anstelle von Kugeln)
Uri Avnery, 24.6. 06
FALLS PRÄSIDENT Bush sich mit dem Iran befassen will,
indem er ihn „zurück in die Steinzeit bombardiert“, (
wie ein amerikanischer General während des
Vietnam-Krieges sagte), dann wäre jetzt der richtige
Zeitpunkt gekommen. Wenn jeder seine Aufmerksamkeit auf
die Fußballweltmeisterschaft richtet, wer würde es denn
dann bemerken ?
Die
israelische Regierung beweist dies. In ihrem Kampf gegen
die Qassam-Raketen, die auf Sderoth landen, hat man der
Luftwaffe freien Lauf gelassen. Seit Beginn der WM sind
mehr als 20 Palästinenser, einschließlich von Jungen und
Mädchen, einer schwangeren Frau, eines Arztes und
mehrerer Sanitäter getötet worden. Es scheint so, als
nähme dies weltweit keiner zur Kenntnis. Wie sollten
sie auch. Die WM ist viel wichtiger.
Wenn
ich von Jerusalem nach Tel Aviv zurückfahre, mache ich
gewöhnlich einen kleinen Umweg über Abu Gosh. In diesem
arabischen Dorf gibt es eine einzigartige Oase: ein
Cafe, in dem gemischte Gruppen jüdischer Jugendlicher
und arabische Jugendliche (nur männliche) und manchmal
Gruppen der Grenzpolizei, jüdischer und drusischer, auf
Couchen und in Sesseln zusammensitzen, sich entspannen
und Wasserpfeife rauchen. Sie verschlingen arabische
Süßigkeiten und lauschen der libanesischen Sängerin
Fairuz und der orientalisch israelischen Sängerin
Zahava Ben. Es ist ein ungewöhnlicher Anblick in
Israel.
Als
ich diese Woche wieder dort vorbeikam, saßen sie alle
sehr aufgeregt vor einer großen Leinwand und starrten
auf das Spiel zwischen Argentinien und den Niederlanden,
stachelten sich gegenseitig an, sprangen zusammen in
die Höhe und schrieen zusammen.
Ein
paar Tage vorher sah ich dasselbe in Sarajewo. In den
Cafes im Zentrum der Stadt saßen viele Jugendliche,
Muslime, Kroaten und Serben zusammen, schauten gemeinsam
das Spiel an, sprangen vor Aufregung gemeinsam in die
Höhe und schrieen zusammen.
Dasselbe geschah gleichzeitig rund um den Globus – von
Kanada bis Kambodscha, von Südafrika bis Nordkorea.
Ist
das in Ordnung? Oder ist es nicht ok?
ICH
BIN KEIN Fußballfan. Wie viele Leute in der Welt, die
sich selbst für Intellektuelle halten (was immer dies
auch heißen mag), pflege ich dieses Phänomen mit
herablassendem, leicht ironischem Lächeln von mir zu
weisen, auch wenn ich mich jetzt zuweilen dabei
ertappe, minutenlang dem Spiel zuzuschauen. Als Kind
hörte ich von meinem Vater, dass Sport ein Vergnügen der
Goyim (Nicht-Juden) – auf jiddisch-hebräisch Goyim
Naches - sei und der einzige jüdische Sport sei, über
die Philosophien des Spinoza und Schopenhauer
nachzudenken oder eben über den Talmud. Yeshayahu
Leibowitz, ein praktizierender orthodoxer Jude
beschrieb das Fußballteam als „ Elf Hooligans, die
hinter einem Ball herjagen!“ (Ein anderer Jude schlug
um des Friedens willen vor: „Warum streiten? Gebt jedem
Team einen eigenen Ball.“)
(Auch) von diesem Gesichtspunkt aus hat Israel schon
lange aufgehört, im geistigen Sinne ein jüdischer Staat
zu sein . Der jüdisch israelische Goy ist wie jeder
andere Goy auf Erden. Die WM beweist es.
EIN
PHÄNOMEN, das so tiefe Emotionen in einer Milliarde von
Menschen weckt, kann nicht mit einem Schulterzucken
abgetan werden. Hier haben wir es mit einem profunden
menschlichen Charakterzug zu tun. Was bedeutet er? Woher
kommt er?
Konrad Lorenz, einer der Gründer der Verhaltensforschung
(Ethologie), die sich mit dem Verhalten der Tiere (
auch des menschlichen Tiers) beschäftigt, behauptet,
dass die menschliche Aggressivität ein angeborener Zug
sei, der aus Millionen Jahren der Evolution herrührt.
Die Höhlenmenschen lebten in Stämmen, deren Überleben
von einem bestimmten Territorium abhängig war. Die
Aggressivität war notwendig, um dieses Territorium zu
verteidigen und andere zu vertreiben.
Andere Raubtiere, die natürliche Waffen wie Zähne,
Tatzen mit scharfen Krallen oder Giftzähne haben, sind
mit einem angeborenen Instinkt ausgerüstet, der
verhindert, dass sie ihre eigene Gattung angreifen.
Sonst hätten sie nicht bis heute überlebt. Aber die
Menschen haben keine effektiven natürlichen Waffen, und
deshalb hat die Natur sie nicht mit solch einem
Mechanismus ausgerüstet. Das ist ein schrecklicher
Fehler. Die Menschen haben zwar keine gefährlichen Zähne
oder Tatzen, aber sie haben etwas Wirksameres als jede
natürliche Waffe: das menschliche Gehirn. Es befähigt
sie, Schlagstöcke, Speere, Kanonen und Atombomben zu
erfinden. Deshalb haben Menschen eine todbringende
Kombination dreier Attribute: angeborene Aggressivität,
mörderische Waffen und das Fehlen eines Instinktes, der
die eigene Art nicht tötet. Die Folge davon: die
menschliche Neigung, Kriege zu führen.
Wie
kann man diese Aggressivität überwinden? Lorenz wies auf
ein Heilmittel hin: Sport und hier besonders den
Fußball. Das Fußballspiel ist ein Ersatz für Krieg. Er
kanalisiert die menschliche Aggressivität in harmlose
Bahnen. Deshalb ist es so wichtig – und so positiv.
AGGRESIVITÄT UND Nationalismus gehören zusammen. In
dieser Hinsicht erlaubt der Fußball auch einen Blick
auf die unbewussten Tiefen der menschlichen Seele.
Das
menschliche Lebewesen hat ein tiefes Bedürfnis, sich mit
einem Kollektiv zu identifizieren. Es lebt in einer
Gruppe. Die frühen Menschen lebten in einem Stamm.
Seitdem haben sich die sozialen Formen viele Male
verändert. Das „Wir“ änderte sich von Zeit zu Zeit mit
dem Wechsel der sozialen Strukturen. Die Menschen lebten
in religiösen oder ethnischen Verbindungen, in feudalen
Systemen, in Monarchien etc. In der modernen Welt leben
sie in nationalen Entitäten.
Selbstidentifikation mit einer Nation ist – mit der
Ausnahme weniger - eine absolute Notwendigkeit für einen
modernen Mann. Mit dem Fußballspiel wird die
Möglichkeit gegeben, in einer Weise seine Identität
auszudrücken, die äußerlich einem Krieg ähnelt. Deshalb
spielt beim Fußballspiel die Nationalflagge und die
Nationalhymne solch eine zentrale Rolle. Die Massen
schwenken die Flagge, malen ihre Gesichter mit den
Farben ihrer Fahne an, schreien nationalistische Slogans
und geben diesem Phänomen einen emotionalen Ausdruck.
Zuweilen wird es geradezu lächerlich, so wie in der
vergangenen Woche. Israel nimmt nicht an der WM teil,
weil es schon, bevor es richtig begann, verloren hatte.
Aber ein Mitglied aus dem Ghana-Team, das sonst für
Hapoel Tel Aviv spielt, schwenkte aus irgend einem
Grund auf dem Fußballfeld die israelische Flagge - und
der ganze Staat Israel brach in einen Freudenschrei
aus:„Wir sind dort. Wir sind bei der WM!“
Ein
weniger lächerliches Phänomen: es ist zum ersten Mal
nach der Zerstörung des 3. Reiches, dass Massen von
Deutschen mit Begeisterung ihre Fahnen schwenken. Es
grenzt an einen Rausch. Einige Beobachter sprechen von
einer Wiedergeburt des deutschen Nationalismus. Doch
glaube ich, dies ist eine positive Sache. Eine Nation
kann kein normales Leben führen, wenn sich ihre Menschen
ihrer schämen. Dies könnte eine kollektive psychische
Störung hervorrufen und gefährliche Tendenzen wecken.
Dank des Fußballspiels können die Deutschen jetzt ihre
Fahne schwenken.
Der
Nationalismus des Fußballs überwindet alle anderen
Emotionen. Ein klassisches Beispiel: Ende des 19.
Jahrhunderts hatte Wien mit Karl Lueger einen
ausgesprochen fanatischen Antisemiten. Aber als die
jüdische Hakoah Vienna gegen ein ungarisches Team
spielte, sah man, wie der Bürgermeister den lokalen
Jungs zujubelte. Als er darauf hingewiesen wurde, dies
seien Juden, machte er die berühmte Bemerkung: „Wer
jüdisch ist, bestimme ich !“
Als
ein französischer Algerier der Star des französischen
Teams war, jubelten die französischen Rassisten ihm so
lange zu, bis sie heiser waren. Dasselbe geschieht in
Israel, wenn ein Araber in unserer Nationalmannschaft
spielt.
KÜRZLICH SAGTE mir ein europäischer Intellektueller: Es
gibt Witze über einen Polen, über einen Deutschen und
einen Franzosen und aller anderen Nationen, aber ich
habe nie einen Witz über einen Europäer gehört. Das
beweist, dass es keine Europäer gibt.
Ich
möchte ein ähnliches Kriterium über den Fußball
hinzufügen. Jede Nation in Europa hat ein nationales
Team, aber es gibt kein Europateam. Bis das Europateam
unter einer europäischen Flagge gegen das Team von
Asien oder Afrika spielt, gibt es kein allgemeines
europäisches Bewusstsein. (Ein Utopist mag von einem
Match zwischen einem Team der Erde gegen ein Team des
Mars oder des Planeten XY träumen.)
Mein
palästinensischer Freund Issam Sartawi, der vor 23
Jahren ermordet wurde, weil er mit uns Kontakt hatte,
sagte einmal: „Es wird keinen Frieden zwischen unseren
beiden Völkern geben, bis nicht das israelische Team
gegen das Team Palästinas spielt – und wir gewinnen.“
DA
GIBT ES natürlich noch einen Aspekt, was das Geschlecht
betrifft.
Ein
brillanter Werbefachmann hat Tel Aviv mit Postern
bepflastert, die wie die Notiz einer Frau an ihren Mann
aussieht: „Itzig, lass dir den Kaffee vom
brasilianischen Tormann servieren. Ich gehe mit den
Mädchen in die Parfümerie, Gali.“ In einer Karikatur
sagt eine Frau zu ihrem Mann, der von der WM am
Fernseher gefesselt ist: „ Bist du sicher, dass du nicht
mit mir zur Buchmesse gehst?“
Fußball ist eine Angelegenheit rauer Burschen, auch wenn
es weibliche Fans gibt. Auch in dieser Hinsicht ist es
ein Ersatz für Krieg und vielleicht auch für die Lust
des Mannes auf Jagd während der Frühzeit der
Menschheit. ( In den USA wird der europäische Fußball –
dort „soccer“ genannt – von Frauen bevorzugt, weil der
amerikanische Fußball mit noch viel mehr Gewalt
verbunden ist).
Beim
Fußball wagen Männer das zu tun, was sonst ein Tabu ist:
sie umarmen einander, küssen einander, liegen auf
einander. Das macht zweifellos tiefe Bedürfnisse
deutlich und schadet keinem.
Nach
diesen Gesichtspunkten ist Fußball eine positive Sache,
die viel Negatives aufwiegt. Vorausgesetzt natürlich,
dass Präsident Bush nicht die Gelegenheit benützt, den
Iran anzugreifen - und wir die WM nicht dazu benützen,
mit Granaten auf Kinder im Gazastreifen zu feuern.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
|