Frau Tantalus
Uri Avnery, 14.2.09
TANTALUS wird aus nicht ganz klaren Gründen von den
Göttern bestraft. Er ist hungrig und durstig, aber das
Wasser, in dem er steht, weicht zurück, wenn er sich
niederbeugt, um zu trinken, und die Frucht über seinem
Kopf weicht ständig seiner Hand aus.
Zipi
Livni ist jetzt ähnlichen Qualen ausgesetzt. Nachdem sie
bei den Wahlen einen beeindruckenden persönlichen Sieg
errungen hat, weicht die politische Frucht beiseite,
wenn sie nur ihre Hand danach ausstreckt.
Warum
sollte sie dies verdienen? Was hat sie denn getan? Den
Krieg unterstützt, den Boykott gegen die Hamas
ausgerufen, mit der palästinensischen Behörde
nichtssagende Verhandlungen durchgespielt. Das stimmt.
Aber eine so schreckliche Strafe?
DIE
ERGEBNISSE der Wahlen sind jedoch nicht so klar, wie sie
scheinen mögen. Der Sieg der Rechten ist nicht so
eindeutig.
Im
Zentrum der Wahlkampagne stand der persönliche
Wettbewerb der beiden Kandidaten für das Amt des
Ministerpräsidenten: Livni und Netanyahu ( oder wie sie
sich selbst nennen, Zipi und Bibi – als wären sie noch
im Kindergarten.)
Gegen
alle Erwartungen und gegen alle Umfragen schlug Livni
Netanyahu. Mehrere Faktoren spielten hier mit. Unter
anderem: der größte Teil der Linken fürchtete den Sieg
Netanyahus und schloss sich Livnis Lager an, um „Bibi
zu stoppen“. Und Livni, die sich nie mit den Feministen
identifizierte, dachte im letzten Augenblick daran,
Israels Frauen unter ihr Banner zu rufen - und sie
hörten auf ihren Ruf.
Aber
es ist unmöglich, das Wesentliche dieser Wahl zu
ignorieren: Netanyahu steht total gegen den Frieden,
er ist absolut gegen die Rückgabe der besetzten Gebiete,
er ist gegen das Einfrieren des Siedlungsbaues und gegen
einen palästinensischen Staat. Livni andrerseits hat
mehr als einmal erklärt, sie unterstütze sehr die
„Zwei-Staaten-Lösung“. Ihre Wähler entschieden sich für
die moderatere Richtung.
Der
große Gewinner der Wahlen ist jedoch Avigdor Liberman.
Aber sein Triumph ist weit von dem schicksalhaften
Durchbruch entfernt, den jeder vorauszusehen glaubte. Er
gewann nicht die versprochenen zwanzig Sitze. Sein
Aufstieg von elf auf fünfzehn Sitze ist nicht so
dramatisch. Seine Partei ist tatsächlich zur
drittgrößten Partei in der Knesset geworden. Aber das
geschah weniger wegen seines eigenen Aufstiegs, sondern
wegen des Kollapses der Laborpartei, die von neunzehn
auf dreizehn Sitze abfiel. Übrigens gewann keine der
Parteien 25% der Stimmen. Die israelische Demokratie ist
jetzt sehr zerbrechlich geworden.
Das
Liberman-Phänomen ist bedrohlich geworden, aber (noch?)
keine Katastrophe.
DIE
WICHTIGSTE Botschaft dieser Wahlen sollte jedoch nicht
abgeleugnet werden: die israelische Öffentlichkeit hat
sich nach rechts bewegt. Vom Likud aus nach rechts gibt
es nun 65 Sitze, von der Kadima-Partei aus nach links
55 Sitze. Den Zahlen kann man nicht widersprechen.
Was
hat diese Richtungsänderung verursacht? Es gibt mehrere
Erklärungen, die alle stimmen.
Man
kann dies als vorübergehende Phase nach dem Krieg
ansehen. Ein Krieg verursacht starke Emotionen
–Sehnsucht nach einem starken Führer, nationalistischen
Rausch, Hass gegen den Feind, Angst vor dem anderen,
Wunsch nach Einheit, Rache. All dies dient natürlich der
Rechten – eine Lektion, die von der Linken übersehen
wird, wenn sie einen Krieg beginnt.
Andere
sehen in dieser Bewegung die Fortsetzung eines
historischen Prozesses: die zionistisch-palästinensische
Konfrontation ist umfassender und komplexer geworden,
und solch eine Situation nährt die Rechte.
Und
dann gibt es noch den demographischen Faktor. Der rechte
Block zieht die Stimmen dreier Sektoren an: die
orientalischen Juden (eine Mehrheit derselben wählt
Likud), die Religiösen (die meistens die
Fundamentalisten wählen) und die Russen ( von denen die
meisten Liberman wählen). Fast automatisch ist es eine
Gruppenwahl.
Zwei
Gruppen haben in Israel eine besonders hohe
Geburtenrate: die religiösen Juden und die Araber. Die
Religiösen wählen fast einstimmig die Rechte. Die
Orthodoxen und die National-Religiösen Parteien sind bei
den Wahlen zwar nicht stärker geworden, wahrscheinlich
weil viele ihrer natürlichen Wähler für Likud, Liberman
oder die noch extremere Nationale Union stimmen. Die
arabischen Bürger, die früher auch jüdische Parteien
gewählt haben, haben dieses Mal auf solch eine Wahl
verzichtet, wie es viele schon in der Vergangenheit
taten. Die drei arabischen Parteien haben zusammen einen
Platz mehr gewonnen.
Die
demographische Entwicklung ist verhängnisvoll. Kadima,
Labor und Meretz werden mit dem ursprünglich etablierten
Ashkenazi-Sektor identifiziert, dessen demographische
Stärke langsam aber stetig schwindet. Viele ihrer
jungen Ashkenazi-Wähler gaben ihre Stimmen – die
mindestens vier Sitze wert sind - Liberman, der eine
säkulare Form von Faschismus predigt. Sie hassen die
Araber, aber auch die religiösen Juden.
Die
Schlussfolgerung ist eindeutig: wenn es der „Mitte-Links“
nicht gelingt, aus ihrem elitären ( ashkenazischem)
Ghetto auszubrechen und Wurzeln im orientalischen und
russischen Sektor schlägt, wird sich ihr Abstieg von
Wahl zu Wahl fortsetzen.
JETZT
MUSS Frau Tantalus zwischen zwei bitteren Optionen
wählen: sich in die Wüste zurückziehen, in der es weder
Wasser noch Früchte gibt, oder einer widerlichen
Koalition als Feigenblatt dienen.
Option
eins: sich weigern, der Netanyahu-Koalition sich
anzuschließen und in die Opposition zu gehen. Das ist
nicht einfach. Die Kadima-Partei entstand, als Ariel
Sharon ihren Mitgliedern – Flüchtige von rechts und
links - versprochen hatte, sie zur Macht zu bringen. Es
wird für Livni sehr mühsam sein, den Haufen in der
Opposition zusammenzuhalten, weit entfernt von den
Sitzen der Macht, weit weg von piekfeinen
Ministersesseln und luxuriösen Dienstwagen.
Das
würde eine rechtsorientierte Regierung sein, die offen
Faschisten einschließt, Anhänger von Meir Kahane
(dessen Partei wegen rassistischer Lehren schon lange
verboten worden war), Befürworter der ethnischen
Säuberung, der Vertreibung der arabischen Bürger
Israels und der Liquidierung jeder Chance für Frieden.
Solch eine Regierung wird sich unvermeidlich in
Konfrontation mit den USA befinden und in weltweiter
Isolierung.
Einige
Leute sagen, das sei gut. Solch eine Regierung wird
notwendigerweise bald scheitern und auseinanderfallen.
Auf diese Weise wird die Öffentlichkeit davon überzeugt
werden, dass es keine lebensfähige rechtsorientierte
Option gibt. Kadima, Labor und Meretz wird in der
Opposition schmoren, und vielleicht wird dann eine
wirkliche Mitte-Links-Alternative entstehen.
Andere
sagen: das ist ein zu großes Risiko. Die Katastrophe,
die eine Netanyahu-Liberman- Kahanisten-Regierung für
den Staat mit sich bringen wird, wird keine Grenzen
kennen: von der Erweiterung der Siedlungen, die jeden
zukünftigen Frieden torpedieren, bis zu einem
regelrechten Krieg. Wir können nicht alles auf eine
Karte setzen, wenn es um den Staat Israel geht.
Livnis
zweite Option: die bittere Pille schlucken, nachzugeben
und sich der Netanyahu-Regierung als zweites, drittes
oder viertes Rad anzuschließen. In diesem Fall müsste
sie sich allerdings schnell entscheiden, bevor Netanyahu
ein Fait accompli mit einer extrem-rechten
Koalition schafft, zu der Livni dann sich anzuschließen
eingeladen wird.
Ich
würde nicht überrascht sein, wenn Präsident Shimon
Peres inoffiziell die Initiative ergreift und diese
Option vorschlagen wird – bevor in einer Woche der
offizielle Prozess der Beratungen mit den
Knessetfraktionen beginnt und einen der Kandidaten mit
der Aufgabe der Regierungsbildung betraut.
Könnte
solch eine Regierung sich in Richtung Frieden bewegen?
Wirkliche Verhandlungen führen? Damit einverstanden
sein, Siedlungen aufzulösen? Einen palästinensischen
Staat akzeptieren? Eine palästinensische
Einheitsregierung anerkennen, die die Hamas einschließt?
Kaum
zu glauben. Im besten Falle wird der Affentanz mit
sinnlosen Verhandlungen weitergehen, werden im Stillen
die Siedlungen weitergebaut , wird Barack Obama an der
Nase herumgeführt und die Pro-Israel-Lobby mobilisiert
werden, um jeden wirklichen amerikanischen Schritt in
Richtung Frieden zu torpedieren. Es wird so weitergehen
wie vorher.
KANN
ISRAEL den Kursus verändern? Kann es eine
friedensorientierte Alternative geben?
Die
beiden Parteien der „zionistischen Linken“ sind
entscheidend geschlagen worden. Labor wie Meretz sind
zusammengebrochen. Ihre beiden Führer, die zum Gazakrieg
aufgerufen und ihn unterstützt haben – Ehud Barak von
Labor und Haim Oron von Meretz – haben die Strafe
erhalten, die sie reichlich verdient haben. In einer
normalen Demokratie, würden beide am Tage nach den
Wahlen zurückgetreten sein. Aber unsere Demokratie ist
keine normale. Und beide Parteiführer bestehen darauf,
zu bleiben und ihre Partei zur nächsten Katastrophe zu
führen.
Labor
ist eine wandelnde Leiche – die einzige
„sozial-demokratische“ Partei in der Welt, deren Führer
nur ein Ziel hat: auch weiter Kriegsminister zu
bleiben. Als Barak das Mantra verbreitete „Es gibt
niemanden, mit dem man reden könne“, übersah er, dass
die logische Folgerung die ist: „deshalb brauchen wir
auch niemanden, der mit ihnen redet.“
Die
Laborpartei hat keine Partei, keine Mitglieder, kein
politisches Programm, keine alternative Führung. Sie
wird in der Opposition versagen, wie sie in der
Regierung versagt hat. Wenn kein Wunder geschieht, wird
sie auf dem Müllplatz der Geschichte enden.
Sie
wird dort Meretz vorfinden – eine sozialistische Partei,
die schon vor langer Zeit ihren Weg verloren hat, eine
Partei ohne Wurzeln in den Klassen am unteren Ende der
sozio-ökonomischen Leiter, eine Partei, die alle unsere
Kriege mit unterstützt hat.
Einige
glauben an leichte Lösungen: z.B. an eine Union von
Labor und Meretz. Das wäre eine Verbindung eines Lahmen
mit einem Blinden. Es gibt keinen Grund, zu erwarten,
dass sie das Rennen gewinnen wird.
DIE
WIRKLICHE Aufgabe ist bei weitem schwieriger. Ein
vollkommen neues Gebäude muss anstelle des
zusammengebrochenen entstehen.
Eine
neue Linke ist nötig, die neue Führer aus den
Gruppierungen einschließt, die bisher diskriminiert
wurden: die orientalischen und die russischen Juden und
die Araber. Eine neue Linke, die die Ideale einer neuen
Generation ausdrückt und vertritt, Friedensleute,
Befürworter sozialer Veränderung, Feministinnen und
Grüne, die alle verstehen, dass man kein Ideal für sich
verwirklichen kann, ohne alle zu realisieren. In einem
Militärstaat kann es keine soziale Gerechtigkeit geben;
keiner ist an der Umwelt interessiert, während Kanonen
donnern, Feminismus passt nicht zu einer Gesellschaft
von Machos, die auf Panzern reiten; für orientalische
Juden kann es in einer Gesellschaft, die die Kultur des
Orients verachtet, keinen Respekt geben.
Die
arabischen Bürger werden ihr Ghetto verlassen müssen, in
das sie eingegrenzt werden und anfangen, mit der
jüdischen Öffentlichkeit zu reden und Juden müssen mit
Arabern auf gleicher Augenhöhe kommunizieren. Der
Liberman-Slogan „ Ohne Loyalität keine
Staatbürgerschaft“ muss umgedreht werden: „ Ohne
wirkliche Staatsbürgerschaft keine Loyalität“.
Wie es
Obama in den USA getan hat, muss anstelle der alten eine
neue Sprache, ein neues Lexikon geschaffen werden, um
alte, abgedroschene Phrasen zu ersetzen .
Sehr,
sehr viel muss verändert werden, wenn wir den Staat
retten wollen.
UND
WAS Frau Tantalus betrifft: wenn sie sich nicht an dem
Wechsel beteiligt, wird sie weiter gequält werden.
Wie
Pyrrhus, König von Epirus, wird sie sagen können: Noch
so ein Sieg und wir sind verloren.
(Aus
dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)