Brennt Beirut?
Uri Avnery, 22.7.06
„ES SCHEINT, Nasrallah sei am Leben geblieben ,“
verkünden israelische Zeitungen, nachdem 23 Tonnen
Bomben auf die Gegend in Beirut abgeworfen worden waren,
in der man vermutet hatte, dass sich der Hisbollahführer
versteckt gehalten hatte.
Eine interessante Formulierung. Einige Stunden nachdem
Bombardement hatte Nasrallah dem Fernsehkanal Al-Jazeera
ein Interview gegeben. Er sah nicht nur lebendig aus,
sondern sogar ruhig und gelassen. Er sprach über das
Bombardement – ein Beweis dafür, dass das Interview am
selben Tag aufgenommen worden war.
Was bedeutet also „es scheint, ..“ ? Sehr einfach.
Nasrallah behauptet, am Leben zu sein, aber man kann ja
Arabern nicht trauen. Jeder weiß doch, dass Araber immer
lügen. Das gehört zu ihrem Wesen, wie es Ehud Barak
einmal ausdrückte.
DAS TÖTEN dieses Mannes ist ein nationales Ziel, fast
das Hauptziel dieses Krieges. Es ist vielleicht der
erste Krieg in der Geschichte, der von einem Staat
begonnen wird, um eine einzige Person zu töten. Bis
jetzt dachten nur die Mafiosi in solchen Kategorien.
Selbst die Briten erklärten im 2. Weltkrieg nicht die
Tötung Hitlers zu ihrem Kriegsziel. Im Gegenteil, sie
wollten ihn lebendig fangen, um ihn vor ein Gericht zu
stellen. Das war es auch, was die Amerikaner in ihrem
Krieg gegen Saddam Hussein wollten.
Aber unsere Minister erklärten offiziell, dies sei ihr
Ziel. Das ist keine große Neuigkeit: auf einander
folgende israelische Regierungen haben die Politik
übernommen, die Führer oppositioneller Gruppen zu töten.
Unsere Armee hat u.a. den Hisbollahführer Abbas Mussawi,
die Nummer zwei der PLO Abu Jihad als auch Scheich
Yassin und andere Hamasführer getötet. Fast alle
Palästinenser – und nicht nur sie – sind davon
überzeugt, dass Yassir Arafat auch ermordet worden ist.
Und die Folgen? Der Platz von Mussawi wurde von
Nasrallah eingenommen, der viel fähiger ist. Scheich
Yassin folgten weit radikalere Führer. Anstelle von
Arafat haben wir nun die Hamas.
Wie in anderen politischen Angelegenheiten beherrscht
eine primitive militärische Anschauung auch diese
Argumentation.
WENN JEMAND nach langer Abwesenheit von hier jetzt auf
unsere Fernsehschirme schaut, könnte er den Eindruck
gewinnen, dass Israel von einer Militärjunta regiert
wird – von der Art früherer südamerikanischer Staaten.
Auf allen Fernsehkanälen erscheinen jeden Abend eine
Reihe hoher Offiziere in Uniform. Sie erklären nicht nur
die militärischen Aktionen des Tages, sondern
kommentieren auch politische Dinge und legen die
politische und propagandistische Linie fest.
Während all der anderen Stunden des Fernseh- und
Radioprogramms wiederholen frühere Generäle immer
wieder die Botschaft der Armeekommandeure. (Einige von
ihnen sehen nicht besonders intelligent aus – um nicht
geradewegs „doof“ zu sagen . Es ist erschreckend, daran
zu denken, dass diese Leute einmal Positionen inne
hatten, in denen sie entschieden haben, wer leben durfte
und wer sterben musste.)
Natürlich leben wir in einer Demokratie. Die Armee ist
vollkommen dem zivilen Establishment untergeordnet. Nach
dem Gesetz ist das Kabinett der „Oberste Kommandeur“ der
Armee, (die in Israel die Flotte und die Luftwaffe mit
einschließt). In der Praxis aber sind es die Offiziere,
die heute über alle politischen und militärischen
Angelegenheiten entscheiden. Wenn Dan Haluz den
Ministern sagt, die Armee habe diese oder jene Operation
entschieden, wagt kein Minister dagegen zu stimmen.
Gewiss nicht die armseligen Minister der Laborpartei.
Ehud Olmert präsentiert sich als der Erbe Churchills (
„Blut, Schweiß und Tränen“). Das klingt pathetisch
genug. Amir Peretz steht mit stolz geschwellter Brust
da und verteilt nach allen Richtungen Drohungen – auch
das ist pathetisch. Er ähnelt nichts so sehr wie einer
Fliege, die auf dem Ohr eines Ochsen sitzt und prahlt:
„Wir pflügen!“
Der Generalstabschef verkündete letzte Woche mit
Befriedigung: „Die Armee erfreut sich der vollen
Unterstützung der Regierung.“ Auch das ist eine
interessante Formulierung. Das bedeutet, die Armee
entscheidet, was gemacht wird, und die Regierung steht
„hinter ihr“. Und so ist es natürlich.
NUN IST ES kein Geheimnis mehr: dieser Krieg war schon
lange im voraus geplant. Die Militärkorrespondenten
verkündeten in dieser Woche stolz, die Armee habe
diesen Krieg seit Jahren bis ins Detail vorbereitet.
Erst vor einem Monat gab es ein großes Kriegsspiel, um
den Einmarsch der Landtruppen in den Südlibanon
einzuüben – das war zu einer Zeit, als Politiker wie
Generäle erklärten, dass „wir nie wieder in den
Libanonsumpf hineingehen. Wir werden niemals mehr mit
Landtruppen dort einmarschieren.“ Nun sind wir mitten in
diesem Sumpf, und starke Formationen des Heeres
operieren in diesem Gebiet.
Auch die andere Seite hatte sich seit Jahren
vorbereitet. Sie baute nicht nur Verstecke für Tausende
von Raketen, sie hat auch ein raffiniertes System von
Bunkern, Höhlen und Tunnel im vietnamesischen Stil
gebaut. Unsere Soldaten werden diesem System nun auf die
Spur kommen und einen hohen Preis dafür zahlen. Wie
immer hat unsere Armee „die Araber“ mit Verachtung
behandelt und ihre militärischen Fähigkeiten gering
eingeschätzt.
Das ist eines der Probleme militärischer Mentalität.
Talleyrand hatte nicht Unrecht, als er sagte: „Der Krieg
ist eine viel zu ernste Angelegenheit, als dass man sie
dem Militär überlassen kann.“ Die Mentalität der
Generäle, die sich aus ihrer Erziehung und ihrem Beruf
ableitet, ist von ihrem Wesen her gewalt-orientiert,
eindimensional, um nicht „primitiv“ zu sagen. Sie
basiert auf der Überzeugung, dass man alle Probleme mit
Gewalt lösen kann, und wenn dies nicht zum Ziele führt,
dann eben mit mehr Gewalt.
Das wird durch die Planung und Ausführung des
gegenwärtigen Krieges sehr gut illustriert. Am Anfang
liegt die Vermutung, falls wir der Bevölkerung
schreckliches Leid zufügen, wird sie sich erheben und
die Entfernung der Hisbollah fordern. Ein nur minimales
Verständnis von Massenpsychologie würde das Gegenteil
sagen: Das Töten von Hunderten libanesischer
Zivilisten, die allen ethnisch-religiösen
Gemeinschaften angehören, das Leben der andern in eine
Hölle verwandeln, und die Zerstörung der
lebensnotwendigen Infrastruktur der libanesischen
Gesellschaft wird zur Quelle für Wut und Hass gegen
Israel - und nicht gegen die Hisbollah, die als Helden
angesehen werden, die ihr Leben opfern, um sie zu
retten.
Die Folge wird eine Stärkung der Hisbollah sein, nicht
nur für jetzt, sondern auch für die kommenden Jahre.
Vielleicht wird dies das wichtigste Ergebnis des Krieges
sein, wichtiger als die militärischen Errungenschaften,
falls es diese überhaupt geben wird. Und dies nicht nur
im Libanon, sondern in der gesamten arabischen und
muslimischen Welt.
Mit den Schrecken konfrontiert, die auf allen Fernseh-
und vielen Computerschirmen gezeigt werden, wird sich
die Meinung der Weltöffentlichkeit ändern. Was am Anfang
als gerechtfertigte Antwort auf die Gefangennahme der
beiden Soldaten betrachtet wurde, sieht nun wie
barbarische Aktionen einer brutalen Kriegsmaschine aus.
Wie der Elefant in einem Porzellanladen.
Tausende von Email-Verteilerlisten brachten jetzt
schreckliche Serien mit Fotos von verstümmelten Babys
und Kindern. Am Ende gibt es ein makabres Bild:
niedliche israelische Kinder schreiben „Grüße“ auf die
Artilleriegranaten, die bald abgeschossen werden. Danach
kann man eine Botschaft lesen: „Danke den israelischen
Kindern für dieses schöne Geschenk. Dank an die Welt,
die nichts tut. Unterzeichnet von den Kindern des
Libanon und Palästinas.“
Die Frau, die der UN-Abteilung für Menschenrechte
vorsteht, hat diese Akte schon als Kriegsverbrechen
definiert – etwas, das in der Zukunft wahrscheinlich
für israelische Offiziere noch einigen Ärger bereiten
wird.
IM ALLGEMEINEN ergeben sich ernsthafte moralische
Probleme, wenn Armeeoffiziere die Politik einer Nation
bestimmen.
Im Krieg ist ein Kommandeur verpflichtet, harte
Entscheidungen zu treffen. Er schickt Soldaten in die
Schlacht, und er weiß, dass viele nicht zurückkehren
und andere verstümmelt werden. Er wird abgebrüht. Wie
General Amos Yaron seinen Offizieren nach dem Massaker
von Sabra und Schatila sagte: „Unsere Gefühle waren
abgestumpft!“
Jahre eines Besatzungsregimes in den palästinensischen
Gebieten haben eine schreckliche Abgebrühtheit
verursacht, was menschliches Leben betrifft. Das Töten
von 10-20 Palästinensern pro Tag, einschließlich von
Frauen und Kindern, wie es jetzt im Gazastreifen
geschieht, rührt keinen mehr. Dies kommt auch nicht mehr
in die Schlagzeilen. Nach und nach verschwinden selbst
Routineausdrücke wie „Wir bedauern ... ,wir hatten nicht
die Absicht ... ,die moralischste Armee der Welt ...“
und all die andern abgedroschenen Phrasen.
Nun wird auch im Libanon diese Abgebrühtheit deutlich.
Luftwaffenoffiziere sitzen ruhig und bequem vor den
Kameras und sprechen über „Bündel von Zielen“, als ob
sie über ein technisches Problem plaudern würden und
nicht über das Leben von Menschen. Sie sprechen über die
Vertreibung von hundert Tausenden von Menschen aus ihren
Häusern als militärischem Ziel , und sie verbergen auch
nicht ihre Zufriedenheit vor Menschen, deren ganzes
Leben zerstört worden ist. Das Wort, das bei den
Generälen gerade am beliebtesten ist, ist
„pulverisieren“ - wir pulverisieren, sie wurden
pulverisiert, Stadtteile wurden pulverisiert, Gebäude
wurden pulverisiert, Leute werden pulverisiert.
Selbst das Abfeuern von Katjuschas auf unsere Städte und
Dörfer rechtfertigt dieses Ignorieren von Moral bei
der Kriegsführung nicht. Es hätte andere Mittel und Wege
gegeben, auf die Provokation der Hisbollah zu reagieren,
ohne den Libanon in Schutt und Asche zu legen. Die
moralische Abgebrühtheit wird sich in schwerem
politischem Schaden bemerkbar machen, sowohl jetzt als
auch später. Nur ein Tor ignoriert die moralischen Werte
– am Ende wird sich dies irgendwie rächen.
ES IST FAST banal zu sagen, es sei einfacher, einen
Krieg zu beginnen, als ihn zu beenden. Man weiß, wie er
anfängt – man weiß überhaupt nicht, wie und wann er
enden wird.
Krieg findet im Bereich der Ungewissheit statt.
Unvorhergesehene Dinge ereignen sich. Selbst die größten
Heerführer der Geschichte konnten die Kriege nicht
kontrollieren, die sie begonnen haben. Der Krieg hat
seine eigenen Gesetze.
Wir begannen einen Krieg, der ein paar Tage dauern
sollte – er wird zu einem Krieg von Wochen. Jetzt
sprechen wir von einem Krieg von Monaten. Jetzt kämpfen
ganze Brigaden dort, und nun wurden Reservisten en masse
einberufen wie bei der Großinvasion von 1982. Es
gibt schon Leute, die eine Konfrontation mit Syrien
voraussehen.
Während dieser ganzen Zeit gebrauchen die USA all ihre
Macht, um ein Ende der Feindseligkeiten zu verhindern.
Alle Zeichen deuten darauf hin, dass sie Israel zu einem
Krieg mit Syrien drängen – einem Land, das ballistische
Raketen mit chemischen und biologischen
Sprengköpfen hat.
Nur eine Sache scheint am 11. Tag des Krieges sicher zu
sein: Er wird nichts Gutes zur Folge haben. Was auch
immer geschieht – Hisbollah wird gestärkt hervorgehen.
Sollte jemand in der Vergangenheit gehofft haben, der
Libanon werde langsam ein normales Land, in dem die
Hisbollah keinen Vorwand mehr hat, eigene militärische
Kräfte haben zu müssen, so haben wir jetzt die
Organisation mit der perfekten Rechtfertigung
ausgerüstet: Israel zerstört den Libanon, und nur die
Hisbollah kann kämpfen und das Land verteidigen.
Was die Abschreckung betrifft: ein Krieg, in dem unsere
riesige Militär-Maschinerie nicht innerhalb von 11 Tagen
eines totalen Krieges eine kleine Guerillaorganisation
besiegen kann, hat seine abschreckende Kraft nicht
wieder hergestellt. In dieser Hinsicht ist es nicht
wichtig, wie lang der Krieg dauern wird und wie er
ausgeht – die Tatsache, dass ein paar Tausend
Hisbollah-Kämpfer der israelischen Armee 11 Tage und
mehr widerstanden haben, hat sich schon dem Gedächtnis
von hundert Millionen Arabern und Muslimen eingeprägt.
Dieser Krieg bringt nichts Gutes hervor – weder für
Israel noch für den Libanon und noch für Palästina.
Der „Neue Nahe Osten“ wird für seine Bewohner danach
ein weniger guter Ort zum Leben sein.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |