TRANSLATE
Die Rückkehr der Generäle
Uri
Avnery, 20. August 2011
SEIT BEGINN des Konfliktes haben sich
die Extremisten beider Seiten gegenseitig immer wieder in die Hände
gespielt. Die Zusammenarbeit zwischen ihnen war immer wirksamer als
die Bande zwischen den entsprechenden Friedensaktivisten.
„Können zwei mit einander gehen, es
sei denn sie seien einig mit einander?“ fragt der Prophet Amos
(3,3). Nun, es sieht so aus.
Das wurde diese Woche wieder bewiesen.
ZU BEGINN der Woche sah Binjamin
Netanjahu verzweifelt nach einem Weg, um aus der eskalierenden
internen Krise herauszukommen. Die soziale Protestbewegung war
gerade dabei, in Schwung zu kommen, und stellte für seine Regierung
eine große Gefahr dar.
Der Kampf ging weiter, aber der Protest
hat schon einen dramatischen Umschwung bewirkt. Der gesamte Inhalt
des öffentlichen Diskurses war nicht mehr wieder zu erkennen – so
hatte er sich verändert.
Soziale Ideen standen im Mittelpunkt und
drängten abgedroschenes Gerede über „Sicherheit“ an den Rand. Die
Diskussionsrunde von TV-Talkshows bis vor kurzem von Generälen i.R.
besetzt, waren nun voller Sozialarbeiter und
Wirtschaftswissenschaftler. Eine der Folgen war auch, dass Frauen
viel stärker in den Vordergrund traten .
Und dann geschah es. Eine kleine extrem
islamistische Gruppe aus dem Gazastreifen sandte ein Sonderkommando
in die ägyptische Sinaiwüste, von wo aus es leicht ist, die
unverteidigte israelische Grenze zu überqueren und ein Chaos
anzurichten. Einigen Kämpfern (oder Terroristen - je nach dem, wer
redet) war es gelungen, acht Soldaten und Zivilisten zu töten, bevor
einige von ihnen selbst getötet wurden. Vier andere ihrer Kameraden
wurden auf ägyptischer Seite getötet. Das Ziel war anscheinend,
einen zweiten israelischen Soldaten zu fangen, um die Bedingungen
für einen Gefangenenaustausch zu stärken.
Sofort verschwanden die
Wirtschaftswissenschaftler von den Fernsehschirmen – und ihr Platz
wurde von der alten Bande der „Ex-„ eingenommen – Exgeneräle,
Ex-Geheimdienstchefs, Ex-Polizisten, natürlich alle männlich,
begleitet von ihrem Gefolge unterwürfiger Militärkorrespondenten und
rechten Politikern.
Mit einem Seufzer der Erleichterung
kehrte Netanjahu zu seiner üblichen Haltung zurück.
ES WAR für ihn und seine Regierung ein
unglaublicher Glücksfall.
Es könnte mit dem verglichen werden, was
1982 geschah. Ariel Sharon, damals Verteidigungsminister, hatte
sich entschieden, die Palästinenser und die Syrer im Libanon
anzugreifen. Er flog nach Washington, um die nötige Zustimmung
Amerikas zu erhalten. Alexander Haig sagte ihm, die USA sei damit
nicht einverstanden, wenn nicht ein „glaubwürdiger“ Provokationsakt
geschehe.
Ein paar Tage später machte die
extremste palästinensische Gruppe unter Abu Nidal, Yassir Arafats
Todfeind, einen Mordversuch am israelischen Botschafter in London,
der daraufhin gelähmt blieb. Das war sicher ein glaubwürdiger Akt
der Provokation. Der 1. Libanon-Krieg brach aus.
Der Angriff dieser Woche war auch die
Antwort auf ein Gebet. Es sieht so aus, als liebe Gott Netanjahu und
das militärische Establishment ganz besonders. Der Vorfall wischte
nicht nur den Protest vom Fernsehschirm, er beendete auch jede
ernsthafte Chance, Milliarden vom riesigen Militärbudget zu nehmen,
um die sozialen Dienste zu stärken. Das Geschehen bewies im
Gegenteil, dass wir einen hoch entwickelten Elektrozaun entlang der
200km an unserer Wüstengrenze mit dem Sinai benötigen. Milliarden
für das Militär – mehr und nicht weniger.
BEVOR DIESES Wunder geschah, sah es so
aus, als wäre die Protestbewegung nicht zu stoppen.
Was Netanjahu tat, war immer zu wenig,
zu spät und genau falsch.
Während der ersten Tage behandelte Netanjahu die
ganze Sache als Kinderspiel, das keiner Aufmerksamkeit
verantwortlicher Erwachsener wert sei. Als ihm klar wurde, dass
diese Bewegung ernst ist, murmelte er einige vage Vorschläge, um die
Wohnungsmieten billiger zu machen, aber bis dahin hatte sich der
Protest schon jenseits der ursprünglichen Forderung nach
„erschwinglichen Wohnungen“ bewegt. Der Slogan hieß jetzt „Das Volk
verlangt soziale Gerechtigkeit“.
Nach der riesigen 250 000 starken
Demonstration in Tel Aviv standen die Führer der Bewegung einem
Dilemma gegenüber: wie sollte man weitermachen? Noch eine Massendemo
in Tel Aviv wird nicht so groß werden. Die Lösung war fast genial:
nicht noch eine Massendemo in Tel Aviv, sondern kleinere im ganzen
Land. Dies entwaffnete den Vorwurf, dass die Demonstranten
verwöhnte Tel Aviver Gören seien, die „Wasserpfeife rauchen und
Sushis verschlingen“, wie ein Minister es ausdrückte. Es brachte
auch den Protest zu den diskriminierten Massen der orientalischen
Juden an der „Peripherie“, die immer den Likud wählen – von Afula im
Norden bis Beer-Sheba im Süden. Es wurde zu einem Fest der
Verbrüderung.
Was tut also ein gewöhnlicher Politiker
in solch einer Situation? Nun, er bildet natürlich ein Komitee.
Netanjahu holte einen respektablen Professor mit gutem Ruf und sagte
ihm, er solle ein Komitee aufstellen, das in Zusammenarbeit mit neun
Ministern – nicht weniger – Lösungen findet. Er sagte ihm sogar, er
sei bereit, seine eigenen Meinungen vollkommen zu verändern.
(Er veränderte schon einmal eine seiner
Meinungen vollkommen, als er verkündigte, er befürworte jetzt die
Zwei-Staaten-Lösung. Aber nach dieser dramatischen Erleuchtung
veränderte sich vor Ort gar nichts.)
Die jungen Menschen in den Zelten
witzelten, dass „Bibi“ gar nicht in der Lage sei, seine Meinung zu
verändern, weil er gar keine habe. Aber das stimmt nicht. Er hat
sehr eindeutige Meinungen auf nationaler wie auf sozialer Ebene.
„Das ganze Erez Israel“ auf der einen, und eine neoliberale
Reagan-Thatcher-Wirtschaftsorthodoxie auf der anderen.
Die jungen Zeltführer konterten die
Verabredung des Establishment-Komitee mit einem unerwarteten
Schritt: sie ernannten ein eigenes 60-Mann starkes Beratungskonzil,
das zusammengesetzt war aus einigen der prominentesten
Universitätsprofessoren, einschließlich einer arabischen Professorin
und einem moderaten Rabbiner, geleitet von einem früheren
Stellvertreter des Chefs der Staatsbank .
Das Regierungskomitee hat schon deutlich
gemacht, dass es sich nicht mit den Problemen der Mittelklasse
befassen wolle, sondern nur mit den Problemen der niedrigsten
sozio-ökonomischen Klassen. Netanjahu sagte dazu, er werde nicht
automatisch ihre (zukünftigen) Empfehlungen annehmen, sondern diese
gegen die wirtschaftlichen Möglichkeiten abwägen. Mit anderen
Worten: er vertraut nicht einmal den von ihm Ernannten, dass sie
die wirtschaftlichen Fakten des Lebens verstehen.
AN DIESEM Punkt knüpften Netanjahu und
seine Mitarbeiter ihre Hoffnungen an zwei Daten: September und
November 2011.
Im November beginnt gewöhnlich die
Regensaison. Kein Tropfen Regen vorher. Aber wenn es zu regnen
beginnt, dann gießt es wie aus Kübeln. Und in Netanjahus Amtsitz
hoffte man, dass die verwöhnten Tel Aviver Kinder schnell in
Unterkünfte rennen würden. Schluss mit der Rothschild-Zeltstadt.
Nun, ich erinnere mich noch an einige
elende Wochen im Kriegswinter 1948 in schlechteren Zelten: in der
Mitte eines Sees von Matsch und Wasser. Ich denke nicht, dass der
Regen die Zeltbewohner dahin bringt, ihren Kampf aufzugeben, selbst
wenn Netanjahus religiöse Partner die inbrünstigsten jüdischen
Gebete um Regen zum Himmel schicken.
Doch zuvor würden im September - nur
noch wenige Wochen bis dahin – die Palästinenser hoffentlich eine
Krise auslösen, die die Aufmerksamkeit ablenkt. In dieser Woche
haben sie schon der UN-Vollversammlung einen Antrag vorgelegt, den
Staat Palästina anzuerkennen. Die Versammlung wird
höchstwahrscheinlich einwilligen. Avigdor Liebermann hat schon
begeistert versichert, dass die Palästinenser ein „Blutbad“ zu
dieser Zeit planen. Die jungen Israelis werden dann ihre Zelte in
Tel Aviv mit denen in den Armee-Camps tauschen müssen.
Es ist ein netter Traum (für die
Liebermäner), doch die Palästinenser zeigten bis jetzt keine Neigung
zu Gewalt.
All dies hat sich in dieser Woche verändert.
VON JETZT an können Netanjahu und seine
Kollegen die Ereignisse lenken, wie sie sie haben wollen.
Sie haben schon die Chefs der Gruppe,
die den Anschlag bei Eilat ausführte, „liquidiert“: Sie nannte sich
„Volkswiderstandskomitee“. Dies geschah während der Schusswechsel
an der Grenze weiterging. Die Armee war vorgewarnt und war bereit.
Dass es den Angreifern trotzdem gelang, die Grenze zu überqueren und
die Fahrzeuge zu beschießen, wurde als ein militärischer Fehlschlag
beschrieben.
Was nun? Die Gruppe in Gaza wird als
Rache Raketen abschießen . Netanjahu kann – wenn er will – mehr
palästinensische Führer, Militärs und Zivilisten töten. Dies kann
leicht zu einem Teufelskreis der Rache und Gegenrache und zu einem
vollen Krieg in der Art von Cast Lead führen. Tausende von Raketen
auf Israel, Tausende von Bomben auf den Gazastreifen. Ein
ex-militärischer Tor argumentierte schon, dass der ganze
Gazastreifen wieder erobert werden müsse.
Mit andern Worten: Netanjahu hat seinen
Finger auf dem Knopf der Gewalt, und er kann die Flammen zum Lodern
bringen oder klein halten – so wie er will.
Sein Wunsch, der sozialen
Protestbewegung ein Ende zu setzen, mag bei seinen Entscheidungen
eine Rolle spielen.
DIES BRINGT uns zurück zu der großen
Frage der Protestbewegung: kann man einen wirklichen Wandel
herbeiführen, der sich davon unterscheidet, einige armselige
Konzessionen von der Regierung zu erzwingen, ohne politische Macht
zu erreichen?
Kann diese Bewegung Erfolg haben,
solange es eine Regierung gibt, die die Macht hat, jederzeit eine
„Sicherheitskrise“ zu schaffen oder zu vergrößern?
Und die damit zusammenhängende Frage:
Kann man über soziale Gerechtigkeit reden, ohne über Frieden zu
reden?
Als ich vor ein paar Tagen zwischen den
Zelten auf dem Rothschild-Bouleward bummelte, wurde ich von einer
internen Radiostation darum gebeten, ein Interview zu geben und mich
an die Zeltbewohner zu wenden. Ich sagte: „Ihr wollt nicht über
Frieden reden, weil ihr nicht als „Linke“ bezeichnet werden wollt.
Ich respektiere dies. Aber soziale Gerechtigkeit und Frieden sind
die beiden Seiten derselben Münze. Sie können nicht von einander
getrennt werden. Nicht nur, weil sie auf denselben moralischen
Prinzipien basieren, sondern weil sie praktisch auch von einander
abhängen.“
Als ich dieses sagte, konnte ich mir
nicht vorstellen, wie klar dies nur zwei Tage später demonstriert
werden würde.
WIRKLICHER WANDEL bedeutet, dass diese
Regierung durch eine neue mit einer ganz anderen politischen
Weltanschauung ersetzt wird.
Hier und da sprechen die jungen Leute in
den Zelten schon über eine neue Partei. Aber die Wahlen sind noch
zwei Jahre hin, und bis jetzt gibt es noch keinen wirklichen Bruch
in der rechten Koalition, der die Wahlen früher ansetzen könnte.
Wird der Protest in der Lage sein, seinen Schwung zwei Jahre lang
durchzuhalten?
Es ist schon passiert, dass israelische
Regierungen in der Vergangenheit vor Massendemonstrationen
kapituliert haben. Die allmächtige Golda Meir trat angesichts der
Massendemonstrationen zurück, die ihr die Schuld für Unterlassungen
gaben, die zum Yom Kippur-Fiasko führten. Die letzte
Regierungskoalitionen von Netanjahu und Barak brachen in den
90er-Jahren unter dem Druck einer empörten öffentlichen Meinung
zusammen.
Kann dies jetzt auch geschehen?
Angesichts dessen, was diese Woche passiert ist, sieht es nicht so
aus. Aber seltsamere Dinge sind schon zwischen Himmel und Erde
geschehen, speziell in Israel, dem Land der begrenzten
Unmöglichkeiten.
/Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
|