Ein Finger nach
dem andern
Uri Avnery, 26.2.05
Neun von
Präsident Bushs in Brüssel geäußerten Wörtern haben nicht die
Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen.
Er rief zur
Errichtung eines „demokratischen palästinensischen Staates mit
territorialem Zusammenhang“ in der Westbank auf und fügte hinzu:
„ein Staat auf einem zersplitterten Gebiet kann nicht
funktionieren.“
Es lohnt sich,
diese Worte genauer unter die Lupe zu nehmen. An wen waren sie
gerichtet? Warum sagte er sie in Brüssel und nicht an den
anderen Orten?
Keiner warnt
grundlos vor einer Gefahr. Wenn Bush sagte, was er sagte, so
bedeutet es, dass jemand diese Gefahr verursacht.
Wer mag das
wohl sein?
Seit Jahren
habe ich davor gewarnt, dass dies die Absicht Sharons sei: die
Grundlage des ganzen Siedlungsunterfangens, das von ihm geplant
und durchgeführt wurde. Der Entwurf der Siedlungen auf der
Westbankkarte ist dafür gedacht, das Land vom Norden zum Süden
und vom Westen zum Osten zu zerschneiden, um so jede Möglichkeit
eines wirklich lebensfähigen und zusammenhängenden Staates,
eines Staates, der wie jeder andere ist, zu vereiteln.
Wenn die schon
geschaffenen Siedlungsböcke von Israel annektiert werden, ist
das palästinensische Gebiet in mehrere Enklaven aufgeteilt –
vielleicht vier, vielleicht sechs. Der Gazastreifen, schon ein
isoliertes Ghetto für sich, wird eine weitere Enklave sein. Jede
Enklave wird von Siedlungen und militärischen Einrichtungen
umzingelt, und alle werden von der Außenwelt abgeschnitten
sein.
Dem
amerikanischen Geheimdienst sind diese Bilder natürlich
vertraut. Er kann sie über seine Satelliten erkennen. Aber das
hielt Präsident Bush nicht davon ab, Sharon letztes Jahr zu
versprechen, dass die israelischen „Bevölkerungszentren“ in der
Westbank von Israel annektiert werden können.. Diese
„Bevölkerungszentren“ sind genau die Siedlungsblöcke, die in der
Vergangenheit von den US „illegal“ und zum „Hindernis für
Frieden“ erklärt wurden. Während der Präsidentschaft des ersten
Präsidenten Bush entschied die amerikanische Regierung sogar,
die Kosten für neue Siedlungsprojekte von den Israel
zugestandenen finanziellen Unterstützungen abzuziehen.
Warum also gab
der zweite Bush plötzlich eine Erklärung ab, deren Bedeutung
tatsächlich die Auflösung einiger dieser Siedlungsblöcke
darstellen müsste?. Und warum tat er es in Brüssel?
Es ist ziemlich
eindeutig: er wollte bei seinen europäischen Gastgebern
Wohlwollen gewinnen. Die EU ist gegen die Annexion von
Westbankgebiet an Israel. Bush sagte dies, um seine Differenzen
mit Europa zu reduzieren.
Was aber
geschah vor Ort, während er dies sagte?
Am letzten
Sonntag entschied die israelische Regierung zum zweiten Mal, den
Abzugsplan zu erfüllen - eine Entscheidung, die in den Medien
als „historisch“ begrüßt wurde. Bei all dem Lärm drum herum
wurde einer zweiten Resolution derselben Sitzung kaum mehr
Aufmerksamkeit geschenkt: der Fortsetzung des Mauerbaus in der
Westbank.
Auf den ersten
Blick ist das eine Routineentscheidung. Noch immer behauptet
die Regierung, es sei nichts anderes als ein „Sicherheitszaun“.
Tatsächlich hat er eine gewisse Sicherheitsfunktion, und die
israelische Öffentlichkeit akzeptiert ihn als solchen. Aber
inzwischen müssten informierte Leute erkannt haben, dass diese
Mauer als zukünftige Grenze Israels gedacht ist. Deshalb
bemühten sich in der vergangenen Woche alle Regierungssprecher
sehr zu betonen, dass die neue Route der Mauer nur 7-8% der
Westbank abschneide.
Das Wörtchen
„nur“ verdient hier besondere Aufmerksamkeit. Präsident Bill
Clintons letzter Friedensplan sprach von der Annexion von 3-4 %
der Westbank an Israel – dafür sollte Israel 1% israelischen
Territoriums an den palästinensischen Staat geben. Sieben
Prozent des Landes der BRD ist viel mehr als der ganze
Bundesstaat Sachsen. Sieben Prozent des Gebietes der USA sind
mehr als der riesige Bundesstaat Texas. (Man stelle sich vor,
Mexiko würde Texas erobern, würde eine Mauer zwischen sich und
dem Rest der USA bauen und ihn mit mexikanischen Siedlungen
füllen.)
Doch das Spiel
mit Prozenten führt in die Irre. Es geht nicht nur um die Größe
des Gebietes, die bedeutsam ist, sondern auch um seine Lage.
In dieser
Hinsicht bleibt die Kontroverse zwischen Israel und den USA
bestehen. Es betrifft vor allem zwei Örtlichkeiten, wo der
Verlauf der Mauer die Zerstückelung der Westbank verursacht.
Wenn die Mauer die Siedlungsstadt Ariel einschließt, schickt sie
einen Finger tief in die Westbank. Dieser Finger wird sich mit
einem zweiten verbinden, der von der anderen Seite kommt und die
beiden Finger werden so die ganze Breite der Westbank südlich
von Nablus durchschneiden. Ein anderer Finger wird von Jerusalem
zum vergrößerten Maaleh Adumin-Siedlungsblock gehen und so
praktisch auch dort die volle Breite der Westbank
durchschneiden.
Die Amerikaner
stimmen dem nicht zu. Darum benützt Sharon eine seiner typischen
Methoden: an diesen beiden Orten lässt er eine Lücke in der
Mauer. Er wird dort zu gegebener Zeit weiterbauen, wenn er
Präsident Bush bei einer zukünftigen Gelegenheit sozusagen
wieder einmal um den kleinen Finger wickelt.
Die
Prozente-Rechnung ist aber auch in anderer Hinsicht falsch. Man
spricht heute nur von der Mauer, die die Westbank vom
eigentlichen Israel trennt. Keiner spricht von der „östlichen“
Mauer.
Es ist kein
Geheimnis, dass Sharon diesen Mauerbau plant, um die Umzingelung
der Westbank zu vervollständigen und um sie vom Jordantal und
der Küste des Toten Meers abzuschneiden. Das ist ein großer
Teil des Gebietes, etwa 20 % der Westbank. So wird die Westbank
von jedem Kontakt mit der Welt abgeschnitten. Sharon weiß, dass
er diese Mauer im Augenblick nicht bauen kann, weil die USA und
die ganze Welt dagegen sind. Es gibt jetzt auch kein Budget
dafür. Also lässt er dies für die Zukunft.
Die
Regierungsentscheidung schließt offiziell die südliche Grenze
der Westbank mit ein, wo der geplante Verlauf der Mauer fast
vollständig auf der Grünen Linie verläuft. Das sieht ganz gut
aus. Aber auch dies ist mit einem Trick verbunden: Sharon
beabsichtigt nicht, diesen Teil der Mauer in nächster Zukunft zu
bauen. Er schiebt es auf später hinaus – und dann wird er einen
völlig andern Verlauf vorschlagen, der einen Finger tief in
palästinensisches Gebiet schiebt und so den Südhebroner
Siedlungsblock bis Kiryat Arba annektiert.
In der
Zwischenzeit beschäftigt sich Sharon mit dem Bebauen der 7 % des
Gebietes, die ihm die Regierungsentscheidung bewilligt hat. All
das Gebiet zwischen der Mauer und der Grünen Linie - das
Gebiet, das praktisch schon annektiert ist – wird mit neuen
Siedlungen aufgefüllt. Unter anderem
0
eine neue Stadt,
Gevaoth, die westlich von Bethlehem gebaut wird , im sog. Etzion
Block.
Es ist ein
verlogener Name: der ursprüngliche Etzionblock bestand aus einer
kleinen Gruppe von Siedlungen nahe der Grünen Linie. Er wurde
1948 von den Arabern erobert und 1967 von Israel zurückerobert.
Die früheren Siedlungen wurden wieder aufgebaut. Dann wurde aber
eine neue Stadt (Efrata) östlich davon angefügt und jenseits
davon noch weitere neue Siedlungen, bis die ursprünglich wenigen
Siedlungen zu einem massiven Siedlungsblock wurden, die
Bethlehem (vom Süden) umgeben. Nun ist Sharon dabei, diese mit
Siedlern anzufüllen.
0
Eine neue große
Siedlung, Nord-Tsufim, die nördlich von Qalqilia gebaut wird.
Auch sie wird die Ausmaße einer Stadt erreichen.
0
ein riesiges
Wohnungsprojekt soll zwischen Jerusalem und Ma’aleh Adumin
errichtet werden, um diese beiden Städte zu verbinden, und es
wird fast den Jordan erreichen.
Auch im
Jerusalemer Raum verspricht der neue Wohnungsminister (Labor)
Yitzhak Herzog große Wohnungsbauprojekte: von Har Homa bis
Ma’ale Adumin; eine andere soll östlich von a-Ram gebaut werden.
Das Ziel ist, Jerusalem vollkommen von der Westbank abzutrennen.
All dies geschieht, während Israel
und die Welt vom Räumungsplan begeistert sind, der - im Ganzen
gesehen – nichts anderes als ein Plan ist, um den Gazastreifen
als eine der Enklaven in einem „Staat zerstreuter Gebiete“ zu
konsolidieren. (Der Gazastreifen ist nur 6% der besetzten
Gebiete.)
Die Laborpartei ist ein voller
Partner in diesem System.
Soweit es Sharon betrifft, ist der
Plan mit der Auflösung kleiner Siedlungen in einer entlegenen
Ecke der besetzten Gebiete eine Art Eingeständnis, um ihm die
Erfüllung seines großen Entwurfs, die Annexion des größten Teil
der Westbank zu ermöglichen.
Jetzt hat Bush erklärt, er sei mit
diesem Plan nicht einverstanden. Seine europäischen Gastgeber
lächelten höflich. Vielleicht glaubten sie ihm – vielleicht auch
nicht.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |