Weil
da nichts ist...
Uri Avnery
3. März 2018
Die Flut der
Korruptionsaffären, die nun über Netanyahus Familie, ihre
Assistenten und Bedienstete hereinbricht, scheint seine Popularität
bei denen, die sich “das Volk” nennen, nicht zu beeinträchtigen.
Im Gegenteil, laut
Meinungsumfragen eilen die Wähler der anderen nationalistischen
Parteien zur Rettung “Bibis”.
Sie halten ihn für
einen großen Staatsmann, den Retter von Israel, und sind deshalb
bereit, alles andere zu vergeben und zu vergessen. Riesige
Bestechungen, generöse Geschenke, alles.
Seltsam. Meine Ansicht
ist genau das Gegenteil. Ich bin nicht bereit, “Bibi” alles zu
vergeben, weil er ein großer Staatsmann ist, denn ich glaube, dass
er ein sehr kleiner Staatsmann, beziehungsweise überhaupt kein
Staatsmann, ist.
Das endgültige Urteil
über Bibis Fähigkeiten wurde frühzeitig in seiner Karriere von
seinem Vater abgegeben.
Benzion Netayahu, ein
Geschichtsprofessor und ein Experte auf dem Gebiet der spanischen
Inquisition, hatte keine sehr hohe
Meinung von seinem zweiten Sohn. Er bevorzugte viel mehr seinen
ältesten Sohn, Jonathan, der bei der Operation in Entebbe getötet
wurde. Das könnte übrigens der Ursprung von Bibis tiefen Komplexen
sein.
Politisch war Benzion
der extremste Rechte, den es je gab. Er verachtete Vladimir
Jabotinsky, den brillianten Führer der rechten Zionisten, wie auch
seinen Schüler, Menachem Begin. Für ihn waren beide liberale
Schwächlinge.
Benzion, der fühlte,
dass seine Talente in Israel nicht geschätzt wurden, und zu einem
Lehrauftrag in die Vereinigten Staaten ging, wo er seine Söhne
aufzog, sagte über Binyamin: “Er könnte ein guter Außenminister,
aber kein Premierminister sein.” Nie wurde ein präziseres Urteil
über Bibi gefällt.
Binyamin Netanyahu hat
in der Tat die Voraussetzung zum Außenminister. Er spricht perfekt
(amerikanisches) Englisch, wenn auch ohne die literarische Tiefe
seines Vorgängers, Abba Eban. Über Eban bemerkte David Ben-Gurion
bekanntlich: "Er kann wunderbare Reden halten, aber Sie müssen ihm
sagen, was er sagen soll.”
Bibi ist ein perfekter
Repräsentant. Er weiß, wie man sich den Großen dieser Erde gegenüber
verhält. Er gibt eine gute Figur auf internationalen Konferenzen ab.
Er hält bei wichtigen Gelegenheiten gut gestaltete Reden, obwohl er
dazu neigt, primitive Tricks anzuwenden, die ein Churchill nicht
angerührt hätte.
Ein Außenminister
fungiert heutzutage als Handelsreisender seines Landes. In der Tat.
Bibi war einst ein Handelsreisender einer Möbelfabrik. Seitdem das
Reisen so einfach geworden ist, erfüllen die Außenminister die
meisten der Funktionen, die in den vergangenen Jahrhunderten den
Botschaftern vorbehalten waren.
Wie sein Vater so
scharfsinnig bemerkte, gibt es einen riesengroßen Unterschied
zwischen den Pflichten eines Außenministers und denen eines
Premierministers. Der Außenminister setzt die Politik um. Der
Premierminister bestimmt die Politik.
Der ideale
Premierminister ist ein Mann (oder eine Frau) mit einer Vision. Er
weiß, was sein Land braucht – nicht nur heute, sondern auch für
kommende Generationen. Seine Vision umfasst sämtliche Bedürfnisse
seines Landes, von denen die auswärtigen Beziehungen nur ein Aspekt
sind und nicht unbedingt der wichtigste. Er sieht die sozialen,
wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen Aspekte seiner
Vision.
Benzion Netanyahu
wusste, dass sein Sohn diese Fähigkeiten nicht besaß. Eine gute
Erscheinung reicht nicht, besonders nicht für den Führer eines
Landes mit solch komplizierten, inneren und äußeren Problemen, wie
Israel.
Wenn man an Franklin
Delano Roosevelt denkt, erinnert man sich an seinen Ausspruch: "Das
Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst." Bei
Winston Churchill erinnert man sich an: “Nie zuvor in der Geschichte
menschlicher Konflikte hatten so viele so wenigen so viel zu
verdanken."
Wenn man an Bibi denkt,
an welchen tiefsinnigen Ausspruch
erinnert man sich? An nichts, außer an seinen Kommentar zu den
vielen Korruptionsfällen, in die er involviert ist: “Es wird nichts
geben, weil es nichts gegeben hat.”
BINYAMIN NETANYAHUS
Hauptbeschäftigung zwischen strafrechtlichen Untersuchungen ist, ins
Ausland zu reisen und die Führer der Welt zu treffen. Eine Woche in
Paris, Treffen mit Präsident Macron, in der nächsten Woche in
Moskau, Treffen mit Präsident Putin, dazwischen in ein – oder zwei
afrikanischen Ländern.
Was wird bei diesen
vielfachen Treffen erreicht? Nun, nichts, worüber es sich zu
sprechen lohnt.
Das ist sehr
geschickt. Es trifft einen tiefen Nerv im jüdischen Bewusstsein.
Viele Generationen
hindurch waren die Juden eine hilflose Minderheit in vielen Ländern,
sowohl im Westen als auch im Osten. Sie waren vollkommen von der
Gnade des lokalen Herrn, des
Grafen oder Sultans abhängig. Um in seiner Gunst zu bleiben übernahm
es ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, im Allgemeinen der
Wohlhabendste, den Herrscher zu befriedigen, ihm zu schmeicheln und
ihn zu bestechen. Dieser wurde zum König des Ghettos, bewundert von
seiner Gemeinde.
Als Phänomen ist Bibi
ein Nachfolger dieser Tradition.
NIEMAND MOCHTE Abba
Eban. Noch nicht einmal diejenigen, die seine außergewöhnlichen
Talente bewunderten, schätzten diesen Mann. Er wurde als
unisraelisch betrachtet, nicht als echter Kerl, der ein typischer
Israeli sein sollte.
Bibis öffentliches
Ansehen ist völlig anders. Als ehemaliger Kommando-Offizier
ist er der echte Mann, den die Israelis sich wünschen. Er sieht aus
wie ein Israeli aussehen sollte. Kein Problem diesbezüglich.
Aber fragt man einen
seinen Bewunderer, was Bibi tatsächlich in den 12 Jahren als
Premierminister erreicht hat, wird er ratlos sein. David Ben-Gurion
gründete den Staat, Menachem Begin schloss Frieden mit Ägypten,
Yitzhak Rabin ging das Oslo-Abkommen ein. Aber Bibi?
Trotzdem bewundert
halb Israel Bibi grenzenlos. Sie sind bereit, ihm zahllose
Korruptionsaffären – vom Erhalt der teuersten Kuba-Zigarren als
Geschenke von Multi-Milliardären bis hin zu Bestechungsgeldern, die
sich auf viele Millionen Dollar belaufen - zu verzeihen. Warum
also?
Die soziale
Zusammensetzung seines Lagers ist noch seltsamer. Es sind Massen
orientalischer Juden, die sich verachtet, unterdrückt und in jeder
Hinsicht diskriminiert fühlen. Von wem? Von den Aschkenazis, der
Oberschicht, den “Weißen!”, Linken. Dabei könnte man niemand eher
zur Oberschicht der Aschkenazi zählen als Bibi.
Niemand hat jedoch den
Schlüssel zu diesem Mysterium gefunden.
ALSO, WAS ist
Netanyahus "Vision" für die Zukunft? Wie soll Israel als
Kolonialmacht in den kommenden Jahrzehnten überleben, umgeben von
arabischen und muslimischen Staaten, die sich eines Tages gegen es
vereinen könnten. Wie soll Israel Herr der Westbank und des
Gazastreifens bleiben, die vom palästinensischen Volk bevölkert
sind, ganz zu schweigen von Ostjerusalem und den Pilgerstätten, die
für eineinhalb Milliarden Muslime in der ganzen Welt heilig sind?
Es scheint so, als ob
Bibis Antwort ist: "Sieh nicht hin, mach einfach weiter!" Seiner
Denkweise nach ist seine Lösung: keine Lösung. Einfach das
fortsetzen, was Israel sowieso schon praktiziert: den Palästinensern
jegliche National- und sogar Menschenrechte zu verweigern, im
stetigen, aber vorsichtigen Tempo die Westbank zu besiedeln und
ansonsten den Status Quo aufrecht zu halten.
Er ist eine
vorsichtige Person, weit entfernt davon, ein Abenteurer zu sein. Die
meisten seiner Bewunderer hätten gerne, dass er die Westbank
vollständig oder zumindest große Teile von ihr annektiert. Bibi hält
sie zurück. Warum die Eile?
Aber nichts tun ist
keine richtige Antwort. Am Ende wird sich Israel entscheiden müssen:
entweder mit dem palästinensischen Volk (und der gesamten arabischen
und muslimischen Welt) Frieden zu schließen oder die gesamten
besetzten Gebiete zu annektieren, ohne der arabischen Bevölkerung
die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Ergo: ein offizieller
Apartheidstaat, der im Laufe von Generationen zu einem binationalen
Staat wird, in dem die Araber die Mehrheit bilden, dem Albtraum von
fast allen jüdischen Israelis.
Natürlich gibt es eine
andere Vision, die niemand erwähnt: auf eine Gelegenheit warten, um
eine weitere Nakba durchzuführen, um die gesamte palästinensische
Bevölkerung aus Palästina zu vertreiben. Jedoch ist es höchst
unwahrscheinlich, dass dies ein zweites Mal geschieht.
Bibi scheint unbesorgt
zu sein. Er ist ein Mann des Status Quo. Aber, selbst keine Vision
zu haben, bedeutet, dass er bewusst oder unbewusst die Vision seines
Vaters in seinem Herzen trägt: die Araber herauszuwerfen. Vom ganzen
Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan (mindestens) Besitz zu
ergreifen, wie die biblischen Israeliten es einst taten.
WAS WIRD Bibi
angesichts der Korruptionsvorwürfe, die auf ihn zukommen, tun?
Abwarten, was auch
immer geschieht. Vorwurf, Untersuchung, Verurteilung, einfach
abwarten. Wenn alles in Stücke zerfällt, die Demokratie, die
Gerichte, die Agenturen, die das Gesetz durchsetzen – einfach
abwarten.
Nicht gerade die
Haltung, die man von einem großen Staatsmann erwarten würde. Aber,
er ist keineswegs ein Staatsmann, kein großer oder kleiner.
Ich wiederhole den
Vorschlag, den ich letzte Woche machte: “Sorgt dafür, dass er bald
gesteht, und gewährt ihm dann unverzüglich Begnadigung.
Lasst ihn die Beute behalten und – auf (nimmer) Wiedersehen, auf
(nimmer) Wiedersehen, Bibi.”
(Ins Deutsche
übersetzt – Inga Gelsdorf)
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