Wer – zum Kuckuck –
sind wir?
Uri Avnery, 4. August 2018
VOR JAHREN
hatte ich eine freundliche Diskussion mit Ariel Sharon.
„Als erstes bin ich ein Israeli. Danach bin ich ein Jude.“
Er antwortete erhitzt: Ich bin zuerst ein Jude und erst danach ein
Israeli.
Das mag wie eine abstrakte Debatte
aussehen. Aber in Wirklichkeit ist dies die Frage, die im Herzen
aller Grundprobleme liegt. Es ist der Kern der Krisis, die Israel
jetzt auseinanderreißt.
DIE UNMITTELBARE
Ursache dieser Krise ist das Gesetz, das letzte Woche in großer Eile
von der rechtesten Knesset-Mehrheit adoptiert wurde. Es hat den
Titel: „Grund-Gesetz: Israel ist der Nationalstaat des jüdischen
Volkes“.
Dies ist ein Verfassungsgesetz. Als
Israel im Krieg von 1948 gegründet wurde, nahm es noch keine
Verfassung an. Es gab ein Problem mit der Orthodoxen religiösen
Gemeinschaft, die eine übereinstimmende Formel unmöglich machte.
Stattdessen verlas David Ben-Gurion eine „Unabhängigkeitserklärung“,
die verkündete, dass „wir den jüdischen Staat gegründet haben, mit
Namen der Staat Israel.“
Die Erklärung ist nicht zum Gesetz
geworden. Der Oberste Gerichtshof adoptierte seine Prinzipien ohne
eine rechtliche Basis. Das neue Dokument ist jedoch ein bindendes
Gesetz.
Was ist also neu an dem neuen
Gesetz, das auf den ersten Blick wie eine Kopie der Erklärung
aussieht? Es enthält zwei bedeutende Auslassungen: Die Erklärung
sprach über einen „Jüdischen und Demokratischen Staat“ und versprach
all seinen Bürgern volle Gleichheit ohne Rücksicht auf die Religion,
die Ethnizität und das Geschlecht.
All dies ist in dem neuen Gesetz
verschwunden. Keine Demokratie. Keine Gleichheit. Ein Staat der
Juden, für die Juden, von den Juden.
DIE ERSTEN,
die aufschrien, waren die Drusen.
Die Drusen sind eine kleine, aber
kompakte Minderheit. Sie schicken ihre Söhne in die israelische
Armee und Polizei. Sie betrachten sich selbst als „Blutsbrüder“.
Plötzlich waren sie all ihrer legalen Rechte und der Gefühle der
Zugehörigkeit beraubt.
Sind sie Araber oder nicht? Muslime
oder nicht? Das hängt davon ab, wer spricht, wo und wofür. Sie
drohen damit, zu demonstrieren, die Armee zu verlassen, ein
allgemeiner Rebell. Benjamin Netanjahu versuchte, sie zu bestechen,
aber sie sind eine stolze Gemeinschaft.
Doch die Drusen sind nicht das
Hauptproblem. Das neue Gesetz ignoriert vollkommen die, 1,8
Millionen Araber, die israelische Bürger sind, einschließlich der
Beduinen und der Christen. (Keiner denkt über die hundert Tausende
europäischer Christen nach, die mit ihren jüdischen Ehemännern und
andern Verwandten hauptsächlich aus Russland einwanderten.)
Die arabische Sprache mit all ihrer
Pracht, die bis jetzt eine der beiden offiziellen Sprachen war,
wurde zu einem „besonderen Status“ degradiert, was immer das
bedeuten mag.
(All dies wird für Israel selbst
angewandt, aber nicht für die etwa 5 Millionen Araber in der
besetzten Westbank und im Gazastreifen, die überhaupt keine Rechte
haben.)
Netanjahu verteidigt dieses Gesetz
wie ein Löwe gegen zunehmende Kritik von innen. Er hat öffentlich
erklärt, dass alle jüdischen Kritiker des Gesetzes Linke sind oder
Verräter (Synonym), die vergessen haben, was es bedeutet, Jüdisch zu
sein.
UND DAS
ist wirklich der Punkt
Vor Jahren haben meine Freunde und
ich das Oberste Gericht aufgefordert, die Eintragung der
Nationalität auf unsern Identitätskarten zu verändern und zwar von
„jüdisch“ zu „israelisch“. Das Gericht weigerte sich und
behauptete, es gäbe keine israelische Nation. Das offizielle
Register erkennt fast hundert Nationen an aber keine israelische.
Diese kuriose Situation begann mit
der Geburt des Zionismus im späten 19. Jahrhundert. Es war eine
jüdische Bewegung, dafür bestimmt, die jüdische Frage zu lösen. Die
Siedler in Palästina waren jüdisch. Das ganze Projekt war eng mit
der religiösen Tradition verknüpft.
Aber als eine zweite Generation von
Siedlern aufwuchs, fühlten sie sich nicht wohl, nur jüdisch zu sein,
wie Juden in Brooklyn oder Krakow. Sie fühlten, dass sie etwas
Neues, Anderes, Spezielles seien.
Die Extremsten waren eine kleine
Gruppe junger Dichter und Künstler, die 1941 eine Organisation
bildeten mit dem Spitznamen „Kanaaniter“, die behaupteten, dass sie
eine neue Nation, wären, eine hebräische. In ihrer Begeisterung
gingen sie ins Extreme und erklärten, dass sie nichts mit Juden im
Ausland zu tun hätten und dass es keine arabische Nation gäbe – die
Araber wären nur Hebräer, die den Islam angenommen hätten.
Dann kamen die Nachrichten vom
Holocaust; die Kanaaniter wurden vergessen und jeder wurde ein
reuiger Super-Jude.
Aber nicht wirklich. Ohne viel zu
denken, adoptierte meine Generation die volkstümliche Sprache mit
einer klaren Unterscheidung: die jüdische Diaspora und hebräische
Landwirtschaft, jüdische Geschichte und hebräische Bataillone,
jüdische Religion und hebräische Sprache.
Als die Briten hier waren, habe ich
an Dutzenden von Demonstrationen teilgenommen; wir hatten geschrien
„freie Einwanderung! Hebräischer Staat!. Ich kann mich an keine
einzige Demo erinnern, bei der jemand „jüdischer Staat“ schrie.
Warum spricht die
Unabhängigkeits-Erklärung von einem „Jüdischen Staat“? Das ist
einfach: Es war eine Anspielung auf die UN-Resolution, die die
Teilung Palästinas verordnete: einen arabischen und einen jüdischen
Staat. Die Gründer erklärten einfach, dass sie jetzt diesen
jüdischen Staat aufbauten
Wladimir Jabotinsky, der legendäre
Vorfahre des Likud schrieb eine Hymne, in der es hieß: „Ein Hebräer
ist der Sohn eines Prinzen.“
TATSÄCHLICH IST
das ein natürlicher Prozess. Eine Nation ist eine territoriale
Einheit. Sie ist bedingt von ihrer Landschaft, dem Klima, der
Geschichte, der Nachbarn.
Als die Briten in Amerika siedelten,
fühlten sie nach einiger Zeit, dass sie anders waren, als die
Briten, die sie hinter sich auf ihrer Insel verlassen hatten. Sie
wurden Amerikaner. Die britischen Sträflinge, die in den fernen
Osten geschickt wurden, wurden Australier. In zwei Weltkriegen
eilten die Australier zur Rettung der Briten, aber sie sind keine
Briten. Sie sind eine stolze neue Nation. So ging es mit den
Kanadiern, den Neu-Seeländern und den Argentiniern. Und so ging es
mit uns.
Oder würde gewesen sein, falls eine
offizielle Ideologie es erlaubt hätte. Was ist geschehen?
Zunächst gab es die riesige
Einwanderungswelle aus der arabischen Welt und aus Ost-Europa in den
frühen Fünfzigern. Für jeden einzelnen Hebräer gab es zwei, drei,
vier neue Immigranten, die sich selbst als Juden ansahen.
Dann gab es den Bedarf an Geld und
politische Unterstützung von den Juden im Ausland, besonders aus den
US. Während die sich als wahre Amerikaner ansahen (versuche etwas
anderes zu sagen, du verfluchter Antisemit) und stolz sind, irgendwo
einen jüdischen Staat zu haben.
Und dann gab es (und gibt es) eine
rigorose Regierungs-Politik der Judaisierung von allem und jeden.
Die gegenwärtige Regierung hat neue Höhepunkte. Aktive – sogar
erregte – Regierungsaktionen versuchen alles zu judaisieren, die
Bildung, die Kultur, sogar den Sport. Orthodoxe Juden, eine kleine
Minderheit in Israel übt einen enormen Einfluss aus. Ihre Stimmen in
der Knesset sind wesentlich in der Netanjahu Regierung.
ALS DER
Staat Israel gegründet wurde, wurde der Terminus Hebräisch mit dem
Terminus Israelisch ausgewechselt. Hebräisch ist jetzt nur eine
Sprache.
Gibt es eine israelische Nation?
Natürlich. Gibt es eine jüdische Nation? Natürlich nicht.
Juden sind Mitglieder eines
ethnisch-religiösen Volkes, über die ganze Welt zerstreut, sie
gehören zu vielen Nationen mit einem starken Gefühl der
Zugehörigkeit zu Israel. Wir – in diesem Land - gehören zur
israelischen Nation, die auch ein Teil des jüdischen Volkes ist.
Es ist wichtig, dass wir dies
anerkennen. Es entscheidet über unseren Blick. Buchstäblich. Schauen
wir nach jüdischen Zentren, wie New York, London, Paris und Berlin
oder schauen wir zu unsern Nachbarn, Damaskus, Beirut und Kairo?
Sind wir ein Teil einer Region, die von Arabern bewohnt ist?
Realisieren wir, dass wir mit diesen Arabern Frieden schließen
müssen und besonders mit den Palästinensern. Es ist die Hauptaufgabe
dieser Generation?
Wir sind keine vorläufigen Bewohner
dieses Landes, die jeden Moment bereit sind, zu gehen und sich
unsern Brüdern, den Juden rund um den Globus anzuschließen. Wir
gehören zu diesem Land und wir werden hier noch viele Generationen
leben und deshalb müssen wir friedliche Nachbarn dieser Region
werden, die ich vor 75 Jahren „die Semitische Region“ nannte.
Das neue Nationale Gesetz mit seiner
halb-faschistischen Natur, zeigt uns, wie dringend diese Debatte
ist. Wir müssen uns entscheiden, wer wir sind, was wir wollen, wohin
wir gehören. Sonst werden wir zu einem vorübergehenden Staat
verurteilt werden.
(dt. Ellen Rohlfs)
(dt. Ellen Rohlfs und
vom Verfasser autorisiert)