80 Thesen für ein neues Friedenslager,
ein Entwurf von Gush Shalom
Uri Avnery
1. Der Friedensprozess ist zusammengebrochen – und hat einen großen
Teil des israelischen Friedenslager mit sich gerissen.
2. Vorübergehende zufällige Umstände wie persönliche oder
parteipolitische Querelen, Versäumnisse der Führung, politischer
Egoismus, interne und globale politische Entwicklungen sind nur wie
Schaum auf den Wellen. So wichtig sie sein mögen, so können sie den
totalen Zusammenbruch nicht hinreichend erklären.
3. Die wahre Erklärung kann nur unter der Oberfläche gefunden
werden, an den Wurzeln des historischen Konflikts zwischen den
beiden Völkern.
4. Der Madrid-Oslo-Prozess scheiterte, weil beide Seiten versuchten,
Ziele zu erreichen, die nicht mit einander in Einklang gebracht
werden konnten.
5. Die Ziele jeder der beiden Seiten werden von ihren nationalen
Grundinteressen her bestimmt, die von ihrer historischen
Geschichtsauffassung, von ihren verschiedenen Ansichten über den 120
Jahre andauernden Konflikt geformt werden. Die national-israelische
Geschichtsversion und die national-palästinensische Version
derselben Geschichte ist im Ganzen als auch im Details gesehen
völlig gegensätzlich.
6. Die Unterhändler und die Führung auf israelischer Seite
verhandelten in völliger Unkenntnis der national-palästinensischen
Geschichtsschreibung. Selbst wenn sie ernsthaft guten Willens waren,
eine Lösung zu erreichen, waren ihre Bemühungen zum Scheitern
verurteilt, da sie die nationalen Wünsche, Traumata, Befürchtungen
und Hoffnungen des palästinensischen Volkes nicht verstehen konnten.
Und obwohl es keine Symmetrie zwischen beiden Seiten gibt, war die
palästinensische Haltung ähnlich.
7. Die Lösung eines so lange währenden historischen Konfliktes ist
nur dann möglich, wenn jede Seite in der Lage ist, die nationale
geistige Welt der andern Seite zu verstehen und wenn sie bereit ist,
ihr gleichberechtigt zu begegnen. Eine gefühllose, herablassende,
anmaßende Haltung schließt jede Möglichkeit einer einvernehmlichen
Lösung aus.
8. Die Regierung von Barak, in die so viele Hoffnungen gesetzt
worden war, war genau von dieser Haltung geprägt. Daher kam es zu
der enormen Kluft zwischen anfänglichen Versprechen und den
verhängnisvollen Ergebnissen.
9. Ein wichtiger Teil des alten Friedenslagers (auch die
"Zionistische Linke" genannt oder die "vernünftige Öffentlichkeit")
ist ähnlich geprägt und ist darum mit der Regierung, die sie
unterstützte, zusammengebrochen.
10. Deshalb wäre die wichtigste Aufgabe eines neuen Friedenslagers,
die falschen Mythen und die einseitige Sicht des Konfliktes
aufzugeben. Das bedeutet nicht, dass die israelische
Geschichtsauffassung automatisch zu verwerfen und die
palästinensische, ohne sie zu hinterfragen, zu akzeptieren. Doch es
erfordert, die Position des anderen im historischen Konflikt mit
offenem Sinn anzuhören und zu verstehen, um die Kluft zwischen
beiden nationalen Geschichtsauffassungen zu überbrücken.
11. Jeder andere Weg würde zu einer endlosen Fortsetzung des
Konfliktes mit Perioden scheinbarer Ruhe und scheinbarer Versöhnung
führen , doch häufig unterbrochen von Ausbrüchen gewaltätiger,
feindseliger Aktionen zwischen den beiden Völkern und zwischen
Israel und der arabischen Welt. Wenn man das Tempo der Entwicklung
von Massenvernichtungswaffen in Betracht zieht, können weitere
Runden der Auseinandersetzungen zur Zerstörung aller
Konfliktparteien führen.
Die Wurzel des Konflikts
12. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist die Fortsetzung des
historischen Zusammenpralles zwischen der zionistischen Bewegung und
dem palästinensisch-arabischen Volke, ein Zusammenprall, der am Ende
des 19. Jahrhundert begann und nun beendet werden muss.
13. Die zionistische Bewegung war im wesentlichen eine jüdische
Reaktion auf die nationalen Bewegungen in Europa, die alle den Juden
gegenüber feindlich gesinnt waren. Nachdem sie von den europäischen
Nationen abgelehnt worden waren, entschieden einige Juden, nach dem
neuen europäischen Modell, sich selbst als eine eigene Nation zu
statuieren und ihren eigenen Nationalstaat zu gründen, in dem sie
Herr über ihr eigenes Schicksal sein könnten. Das Prinzip der
Trennung, das die Basis der zionistischen Idee bildet, hatte später
weitreichende Folgen. Das grundlegende zionistische Dogma, wonach
eine Minorität , nach europäischem Modell, nicht in einem national
homogenen Staat existieren könne, führte später zum praktischen
Ausgrenzung der nationalen Minderheit im zionistischen Staat, der 50
Jahre später Wirklichkeit wurde..
14. Traditionelle und religiöse Gründe brachten die zionistische
Bewegung nach Palästina (Hebräisch: Erez Israel ) und es wurde
entschieden, in diesem Land einen jüdischen Staat zu gründen. Die
Losung lautete: "ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land". Diese
Losung wurde nicht nur aus Unkenntnis geprägt, sondern auch auf
Grund der allgemeinen Arroganz gegenüber nicht-europäischen Völkern,
die zu jener Zeit in Europa vorherrschte.
15. Palästina war nicht leer – weder zum Ende des 19. Jahrhunderts
und noch zu irgend einer anderen Zeit. Zu jener Zeit lebte eine
halbe Million Menschen in Palästina, 90% davon waren Araber. Diese
Bevölkerung war natürlich gegen das Eindringen eines anderen Volkes
in ihr Land.
16. Die arabische Nationalbewegung entstand fast gleichzeitig wie
die zionistische Bewegung, anfänglich um gegen das
türkisch-osmanische Reich und nach dessen Zerstörung am Ende des 1.
Weltkrieges gegen die Kolonialmächte zu kämpfen. Eine eigene
arabisch-palästinensische Nationalbewegung entwickelte sich im Land,
nachdem die Briten einen eigenen Staat gegründet hatten, den sie
Palästina nannten, und infolge des Kampfes gegen das Eindringen der
Zionisten.
17. Seit Ende des 1. Weltkrieges gab es eine zunehmende
Auseinandersetzung zwischen den beiden Nationalbewegungen, der
jüdisch- zionistischen und der palästinensisch-arabischen, und beide
trachteten danach, im selben Land ihr Ziel zu verfolgen – das den
andern völlig außer acht ließ. Diese Situation blieb unverändert bis
zum heutigen Tag.
18. Als in Europa sich die Verfolgung der Juden intensivierte und
die Länder der Welt ihre Tore für jüdische Einwanderer, die dem
Inferno zu entkommen versuchten, schlossen, gewann die zionistische
Bewegung an Stärke. Der Holocaust, dem 6 Millionen Juden zum Opfer
fielen, verlieh der zionistischen Forderung, nämlich die Errichtung
des Staates Israel, moralische und politische Macht.
19. Das palästinensische Volk, das die Zunahme der jüdischen
Bevölkerung in seinem Land beobachtete, konnte nicht einsehen, warum
von ihm der Preis für die von Europäern an Juden begangenen
Verbrechen gefordert wurde. Heftig wehrte es sich gegen weitere
jüdische Einwanderung und gegen weiteren Landerwerb durch Juden.
20. Die totale Leugnung der nationalen Existenz des anderen durch
beide Völker führte unvermeidlich zu einer falschen und verzerrten
Wahrnehmung, die im kollektiven Bewußtsein beider tiefe Wurzeln
schlug. Diese Wahrnehmung beeinflusst ihre Haltung zueinander bis
auf den heutigen Tag.
21. Die Araber glaubten, dass die Juden vom westlichen Imperialismus
in dies Land verpflanzt worden seien, um die arabische Welt zu
unterwerfen und seine Bodenschätze zu kontrollieren. Diese
Überzeugung wurde durch die Tatsache bestärkt, dass die zionistische
Bewegung von Anfang an für eine Allianz mit wenigstens einer
westlichen Macht anstrebte (Deutschland, Großbritannien, Frankreich,
die USA), um den Widerstand der Araber zu brechen. Das Ergebnis war
eine praktische Zusammenarbeit und Interessengemeinschaft zwischen
dem zionistischen Projekt und den imperialistischen und kolonialen
Kräften, die sich gegen die arabische Nationalbewegung richteten.
22. Die Juden dagegen waren davon überzeugt, der arabische
Widerstand gegenüber dem zionistischen Unternehmen – um die Juden
aus den Flammen Europas zu retten – wäre die Folge der mörderischen
Natur der Araber und des Islam. In ihren Augen waren die arabischen
Kämpfer "Banditen" und die Aufstände jener Zeit wurden
Ausschreitungen genannt. (Tatsächlich war der extremste zionistische
Führer Vladimir Zeev Jabotinsky in den 20er Jahren mit seiner
Erkenntnis fast allein, dass der arabische Widerstand gegen das
zionistische Vorhaben unvermeidbar war und normal. Von seinem
Standpunkt aus war es sogar eine rechtmäßige Reaktion der
"Eingeborenen", die ihr Land gegen fremde Eindringlinge
verteidigten. Jabotinsky erkannte auch die Tatsache an, dass die
Araber im Land eine eigene nationale Entität waren und verspottete
Versuche, die Führer anderer arabischer Länder zu bestechen, um dem
palästinensisch-arabischen Widerstand ein Ende zu setzen.
Jabotinskys Schlußfolgerung war dann aber, eine "Eiserne Wand" gegen
die Araber zu errichten und ihren Widerstand mit aller Gewalt zu
brechen.)
23. Dieser totale Widerspruch in der Auffassung der Tatsachen hatte
seine Wirkung auf alle Aspekte dieses Konfliktes. Zum Beispiel
interpretierten die Juden ihren Kampf für "Jüdische Arbeit" als
einen fortschrittlichen sozialen Versuch, um aus einem Volk von
Händlern und Spekulanten eines von Arbeitern und Bauern zumachen.
Die Araber andrerseits sahen dies als einen verbrecherischen Versuch
der Zionisten, sie zu enteignen, sie vom Arbeitsmarkt zu verdrängen
und auf ihrem Land eine araberfreie eigene jüdische Wirtschaft zu
schaffen.
24. Die Zionisten waren stolz auf "die Erlösung des Landes". Sie
hatten es zum vollen Wert erworben mit dem Geld, das Juden aus aller
Welt gesammelt hatten. Die "Olim" (die neuen Einwanderer, wörtlich
Pilger), die in ihrem früheren Leben Intellektuelle und Kaufleute
waren, verdienten jetzt ihren Lebensunterhalt im "Schweiße ihres
Angesichtes". Sie glaubten, dass sie all das mit friedlichen Mitteln
erreicht hätten und ohne einen einzigen Araber zu enteignen. Für die
Araber jedoch war es eine grausame Geschichte von Enteignung und
Vertreibung. Die Juden erwarben Land von abwesenden arabischen
Großgrundbesitzern und vertrieben gewaltsam dann die Fellachen, die
seit Generationen auf und von diesem Land lebten. Zunächst ließen
sich die Zionisten bei diesem Tun von der türkischen, dann von der
britischen Polizei unterstützen. Die Araber mußten verzweifelt
zusehen, wie ihnen ihr Land weggenommen wurde.
25. Gegen die zionistische Behauptung, erfolgreich "die Wüste in
einen Garten verwandelt" zu haben, zitierten die Araber Zeugnisse
europäischer Reisender aus mehreren Jahrhunderten. Sie berichteten
von einem Palästina, das besiedelt war und ein blühendes Land wie
seine Nachbarländer.
Unabhängigkeit und Katastrophe
26. Der Kontrast der beiden nationalen Geschichtsauffassungen
gipfelte im Krieg von 1948. Von den Juden wurde dieser
"Unabhängigkeitskrieg" oder gar "Befreiungskrieg" genannt, von den
Arabern "Nakba", Katasrophe.
27. Mit der Zunahme des Konflikts in der Region, und unter der
Nachwirkung des Holocaust entschieden die Vereinten Nationen, das
Land in zwei Staaten zu teilen, einen jüdischen und einen
arabischen. Jerusalem und seine Umgebung sollte einen Sonderstatus
erhalten unter internationaler Aufsicht. Den Juden waren 55% des
Landes einschließlich des dünn besiedelten Negev zugeteilt.
28. Die zionistische Bewegung akzeptierte den Teilungsplan, davon
überzeugt, dass es das Wichtigste war, eine feste Basis für jüdische
Souveränität zu schaffen. In geschlossenen Sitzungen hat David Ben
Gurion nie seine Absicht verhehlt, bei der nächsten Gelegenheit, das
den Juden gegebene Land zu erweitern. Deshalb definiert Israels
Unabhängigkeitserklärung nicht Israels Grenzen und der Staat hat bis
heute keine festgelegten Grenzen.
29. Die arabische Welt akzeptierte den Teilungsplan nicht und
betrachtete ihn als einen nichtswürdigen Versuch der Vereinten
Nationen, (die damals ein Klub von westlichen und kommunistischen
Staaten war), ein Land zu teilen, das ihnen nicht gehörte. Da man
den größten Teil des Landes der jüdischen Minderheit übergab, die
nur ein Drittel der Bevölkerung ausmachte, war es in ihren Augen
noch weniger entschuldbar.
30. Der Krieg, der nach dem Teilungsplan von den Arabern begonnen
wurde, war zwangsläufig ein "ethnischer" Krieg, eine Art von Krieg,
in dem jede Seite versucht, so viel Land als möglich zu erobern und
die Bevölkerung der Gegenseite zu vertreiben. Solch eine Kampagne,
(die später "ethnische Reinigung" genannt wurde) ist immer mit
Vertreibung und Gräueltaten verbunden.
31. Der Krieg von 1948 war ein unmittelbarer Ausdruck des
zionistisch-arabischen Konfliktes, in dem jede Seite versuchte, ihre
Ziele zu erreichen. Die Juden wollten einen homogenen Nationalstaat
errichten, der so groß wie möglich sein sollte. Die Araber wollten
die zionistisch- jüdische Gemeinschaft vernichten, die sich in
Palästina festgesetzt hatte.
32. Beide Seiten praktizierten ethnische Säuberung als integralen
Bestandteil ihres Kampfes. Da blieben nicht viele Araber in den von
Juden eroberten Gebieten und keine Jude blieb in den von Arabern
eroberten Gebieten. Da jedoch die von Juden eroberten Gebiete bei
weitem größer waren als die von Arabern, war das Ergebnis keineswegs
ausgeglichen. (die Idee eines Bevölkerungsaustausches und "Transfer"
entstand in den zionistischen Organisationen schon in den 30er
Jahren . Tatsächlich bedeuten sie die Vertreibung der arabischen
Bevölkerung aus dem Land. Auf der andern Seite waren viele Araber
der Meinung, dass die Zionisten dorthin zurückgehen sollten, wo sie
hergekommen waren.)
33. Der Mythos von "den Wenigen gegen die Vielen" wurde von den
Juden gepflegt, um die Lage der jüdischen Gemeinschaft mit 650 000
Menschen gegen die gesamte arabische Welt von über Hundert Millionen
zu beschreiben. Die jüdische Gemeinschaft verlor im Krieg 1% ihrer
Mitglieder.
Die Araber malten ein völlig anderes Bild: eine gespaltene arabische
Bevölkerung ohne nationale Führung, ohne einheitliches Kommando über
schwache Streitkräfte, mit wenigen armseligen, meistens veralteten
Waffen stand einer außerordentlich gut organisierten jüdischen
Gemeinschaft gegenüber, die im Gebrauch ihrer Waffen bestens
ausgebildet war. Die benachbarten arabischen Staaten verrieten die
Palästinenser und als diese schließlich ihre Armeen entsandten,
operierten sie in Konkurrenz miteinander, ohne Koordination und
einen gemeinsamen Plan. Vom gesellschaftlichen und militärischen
Standpunkt aus war die Kampfkraft der Israelis der der arabischen
Staaten, die sich gerade erst von der kolonialen Epoche erholten,
weit überlegen.
34. Entsprechend dem Plan der Vereinigten Nationen sollte der Anteil
der arabischen Bevölkerung im jüdischen Staat mehr als 40% betragen.
Während des Krieges dehnte der jüdische Staat seine Grenzen aus bis
er 78% des Landes umfaßte. Dieses Gebiet war von fast allen Arabern
verlassen worden. Die arabische Bevölkerung von Nazareth und ein
paar Dörfern in Galiläa blieben fast zufällig zurück. Die Dörfer im
sog. Dreieck waren von König Abdullah Israel als Teil eines Deals
vermacht worden und konnte deshalb nicht evakuiert werden.
35. Im Krieg wurden etwa 750 000 Palästinenser entwurzelt. Einige
flohen aus Angst vor der Kämpfen, so wie es Zivilbevölkerung in
jedem Krieg tut. Einige wurden durch Terrorakte vertrieben wie dem
Massaker von Deir Yassin. Andere wurden im Laufe der ethnischen
Reinigung systematisch vertrieben.
36. Nicht weniger bedeutsam ist die Tatsache, dass es den
Flüchtlingen nach den Kämpfen nicht erlaubt war, in ihre Häuser
zurückzukehren, wie es nach jedem konventionellen Krieg üblich ist.
Im Gegenteil, das neue Israel sah das Verschwinden der Araber als
einen großen Segen an und beeilte sich die ca. 450 Dörfer völlig zu
zerstören. Auf den Ruinen wurden neue jüdische Ortschaften gebaut,
denen neue hebräische Namen gegeben wurden. Die verlassenen Häuser
in den Städten wurden den neuen Immigranten überlassen.
"Ein jüdischer Staat"
37. Die Unterzeichnung der Waffenstillstandsvereinbarungen am Ende
des 1948er-Krieges brachte kein Ende des historischen Konfliktes. Im
Gegenteil sie brachte diesen auf eine neue und intensivere Ebene.
38. Der neue Staat Israel widmete seine frühen Jahre der
Konsolidierung seines homogenen nationalen Charakters als "jüdischer
Staat". Große Teile des Bodens wurden enteignet und zwar von den
"Abwesenden" (den Flüchtlingen) und von denen, die offiziell als
"abwesend Anwesende" bezeichnet wurden. (Es waren die, die zwar
physisch in Israel geblieben waren, die aber nicht Bürger des Landes
werden durften). Enteignet wurde sogar auch der größte Teil des
Bodens der arabischen Bürger Israels. Auf diesen Ländereien wurde
ein dichtes Netzwerk jüdischer Siedlungen geschaffen. Jüdische
"Immigranten" wurden eingeladen oder sogar veranlasst, in Massen zu
kommen. Dieser große Aufwand vergrößerte die Macht des Staates in
nur wenigen Jahren um ein Mehrfaches.
39. Zur selben Zeit führte der Staat nachdrücklich eine Politik zur
Auslöschung der palästinensischen Gemeinschaft als nationale
Gemeinschaft. Mit israelischer Hilfe übernahm der transjordanische
König Abdullah die Kontrolle über das Westjordanland und seitdem
gibt es praktisch eine israelische militärische Garantie für die
Existenz des Königreichs Jordanien.
40. Der Hauptgrund für die Zusammenarbeit zwischen Israel und dem
Hashemitischen Königreich, die über drei Generationen andauert, war
die Verhinderung des Entstehens eines unabhängigen
arabisch-palästinensischen Staates, der - damals wie heute – als ein
wesentliches Hindernis für die Realisierung der zionistischen Ziele
betrachtet wurde.
41. Gegen Ende der fünfziger Jahre ereignete sich auf
palästinensischer Seite ein historischer Wandel, als Yasser Arafat
und seine Mitstreiter die Fatah-Bewegung gründeten, die die
palästinensische Befreiungsbewegung aus der Vormundschaft der
arabischen Regierungen führen sollte. Es war kein Zufall, dass diese
Bewegung nach dem Scheitern des großen panarabischen Konzepts
entstand, dessen bekanntester Vertreter Gamal Abd-el-Nasser war. Bis
zu diesem Zeitpunkt hatten viele Palästinenser gehofft, in eine
vereinigte all-arabische Nation aufgenommen zu werden. Als diese
Hoffnung dahinschwand, erwachte die eigene palästinensische
Nationalidentität aufs neue.
42. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) wurde von
Gamal Abd-el Nasser geschaffen, um selbständige palästinensische
Aktionen zu verhindern, die ihn in einen unerwünschten Krieg mit
Israel hätte hineinziehen können. Die Organisation war gedacht, die
ägyptische Herrschaft über die Palästinenser zu sichern. Doch nach
der arabischen Niederlage im 1967er-Krieg, übernahm die von Yasser
Arafat geführte Fatah die Kontrolle über die PLO und wurde seitdem
zur einzigen Vertreterin des palästinensischen Volkes.
"Der Sechs-Tage-Krieg"
43. Der Juni-Krieg 1967 wird – wie jedes Ereignis der vergangenen
120 Jahre - von beiden Seiten in sehr verschiedener Weise gesehen.
Nach israelischem Mythos war es ein verzweifelter
Verteidigungskrieg, der dem Staat Israel wunderbarerweise eine Menge
Land bescherte. Nach palästinensischem Mythos tappten die Ägypter,
Syrer und Jordanier in eine von Israel gestellte Falle, um all das
zu erbeuten, was von Palästina noch übrig war.
44. Viele Israelis glauben, dass der "Sechs-Tage-Krieg" die Wurzel
allen Übels ist und dass erst zu diesem Zeitpunkt das friedliebende
und fortschrittliche Israel sich in einen Eroberer und Besatzer
verwandelte. Diese Überzeugung erlaubt den Israelis, die Idee der
absoluten Unschuld des Zionimus und des Staates Israel bis zu diesem
Zeitpunkt aufrecht zu erhalten und ihre alten Mythen zu bewahren.
Diese Legende entspricht aber nicht den Tatsachen.
45. Der Krieg von 1967 war eine neue Phase des alten Kampfes
zwischen zwei Nationalbewegungen. Er änderte nichts am Wesentlichen.
Er änderte nur die Umstände. Die wesentlichen Ziele der
zionistischen Bewegung, ein jüdischer Staat, Expansion und
Besiedelung machten große Fortschritte. Die besonderen Umstände
dieses Krieges machten eine umfassende "ethnische Reinigung"
unmöglich. Aber mehrere Hunderttausende von Palästinensern wurden
trotzdem vertrieben.
46. Israel war bei der Teilung von 1947 55% des Landes (Palästina)
zugesprochen worden; zusätzliche 23 % wurden im 1948er-Krieg erobert
und nun noch die verbliebenen 22% - jenseits der "Grünen Linie" (der
Waffenstillstandslinie von vor 1967). So wurde 1967 – unbeabsichtigt
- das palästinensische Volk unter Israels Herrschaft wieder
vereinigt - einschließlich eines Teils der Flüchtlinge.
47. Kaum war der Krieg beendet, als die Siedlungsbewegung begann.
Fast jede politische Gruppe des Staates beteiligte sich daran – von
der messianisch-nationalistischen "Gush Emunin" bis zu den "Linken"
der Vereinigten Kibbuz-Bewegung. Die ersten Siedler erhielten breite
Unterstützung von seiten der meisten Politiker, von linken und
rechten, von Yigal Alon (jüdische Siedlung in Hebron) bis Shimon
Peres (Kdumin Siedlung).
48. Die Tatsache, dass alle Regierungen Israels – wenn auch in
unterschiedlichem Ausmaß – die Siedlungen hegten und pflegten,
beweist, dass das Siedeln auf kein besonderes ideologisches Lager
beschränkt ist und zur gesamten zionistischen Bewegung gehört. Der
Eindruck, die Siedlungsbewegung sei von einer kleinen Minderheit
geschaffen worden, ist illusorisch. Nur die ständige Unterstützung
seitens aller Regierungsämter von 1967 bis heute konnte die
gesetzgeberischen, die strategischen und die
Haushalts-Infrastrukturen schaffen, die für so ein lange dauerndes
und ausgedehntes Unternehmen erforderlich sind.
49. Die gesetzgeberische Infrastruktur enthält die irreführende
Unterstellung, dass die Besatzungsmacht der Eigentümer des
"regierungseigenen Bodens" ist, obwohl es um die lebenswichtigen
Landreserven der palästinensischen Bevölkerung geht. Es versteht
sich von selbst, dass die Siedlungsbewegung gegen internationales
Recht verstößt.
50. Der Streit zwischen den Anhängern des "Groß-Israel" und denen
des "Territorialen Kompromisses" ist in seinem Wesen nach ein Streit
über den Weg, auf dem das grundsätzliche zionistische Anliegen zu
erreichen ist: als homogener jüdischer Staat auf einem Territorium,
das so groß wie möglich ist. Die Anhänger des "Kompromisses" betonen
den demographischen Aspekt und wollen die Einbeziehung der
palästinensischen Bevölkerung in den Staat verhindern. Die Anhänger
eines "Groß-Israel" betonen den geographischen Aspekt und meinen
(öffentlich oder privat), dass es möglich sei, die nicht-jüdische
Bevölkerung aus dem Lande zu vertreiben (das Schlüsselwort:
"Transfer").
51. Der Generalstab der israelischen Armee spielte bei der Planung
und beim Bau der Siedlungen eine bedeutende Rolle. Er zeichnete die
Karte der Siedlungen (Ariel Sharon): die Blöcke der Siedlungen und
Umgehungs-Straßen, der Länge und der Breite nach, so dass das
Westjordanland und der Gaza-Streifen zerstückelt sind und die
Palästinenser in isolierten Enklaven eingesperrt werden, von denen
jede von Siedlungen und der Besatzungsarmee umzingelt ist.
52. Die Palästinenser nutzten verschiedene Methoden des
Widerstandes, hauptsächlich Angriffe über die jordanische und
libanesische Grenzen und Angriffe innerhalb Israels und überall in
der Welt. Diese Aktionen werden von den Israelis als "terroristisch"
bezeichnet, während die Palästinenser in ihnen den legitimen
Widerstand einer Nation unter Besatzung sehen. Die Führung der PLO,
geleitet von Yasser Arafat, wurde von den Israelis lange Zeit als
eine terroristische Führung angesehen, aber nach und nach wurde sie
international als die "einzig legitime Vertretung" des
palästinensischen Volkes anerkannt.
53. Als den Palästinensern klar wurde, dass diese Aktionen die
Siedlungsbewegung nicht beenden konnten, die ihnen allmählich das
Land unter den Füßen wegzog, begannen sie Ende 1987 die Intifada –
einen Volksaufstand aller Bevölkerungsgruppen. In dieser Intifada
wurden 1500 Palästinenser getötet, unter ihnen Hunderte von Kindern,
das Mehrfache der israelischen Verluste.
Der Friedensprozeß
54. Der Oktoberkrieg 1973 begann mit dem Überraschungssieg der
ägyptischen und syrischen Truppen und endete in ihrer Niederlage. Er
überzeugte Yasser Arafat und seine engsten Mitarbeiter, dass es
keinen militärischen Weg gibt, um die palästinensischen Ziele zu
erreichen. Er beschloss, einen politischen Weg zu beschreiten und
ein Abkommen mit Israel zu erreichen, um wenigstens einen Teil der
nationalen Ziele durch Verhandlungen zu verwirklichen.
55. Um dafür eine Grundlage zu schaffen, stellte Arafat zunächst
Verbindungen mit israelischen Persönlichkeiten her, die Einfluss auf
die öffentliche Meinung und auf die Regierungspolitik in Israel
hatten. Seine Vertreter (Said Hamami und Issam Sartawi) trafen sich
mit öffentlichen Persönlichkeiten Israels, jenen Pionieren des
Friedens, die 1975 den "Israelischen Rat für einen
israelisch-palästinensischen Frieden" gründeten.
56. Diese Verbindungen und die wachsende Erschöpfung der Israelis
durch die Intifada, der Rückzug Jordaniens aus dem Westjordanland,
die Veränderung der internationalen Bedingungen (der Zusammenbruch
des kommunistischen Blocks, der Golfkrieg) führten zur Madrider
Konferenz und später zum Oslo-Abkommen.
Das Oslo-Abkommen
57. Das Oslo-Abkommen hat positive und negative Eigenschaften.
58. Auf der positiven Seite führte das Abkommen Israel zu seiner
ersten offiziellen Anerkennung des palästinensischen Volkes und
seiner nationalen Führung und führte die palästinensiche
Nationalbewegung zur Anerkennung der Existenz Israels. Im Hinblick
darauf war das Abkommen (und der Briefwechsel, der ihm vorrausging)
von größter historischer Bedeutung.
59. Das Abkommen gab der palästinensischen Nationalbewegung eine
territoriale Basis auf palästinensischem Boden, die Struktur eines
"Staates im Werden" und bewaffnete Kräfte – Tatsachen, die später
eine bedeutende Rolle in dem fortgehenden palästinensischen Kampfe
spielten. Für die Israelis öffnete das Abkommen die Tore zur
arabischen Welt und beendete die palästinensischen Angriffe –
solange das Abkommen wirksam war.
60. Der hauptsächliche Mangel des Abkommens war, dass beide Seiten
hofften, ihre vollkommen gegensätzlichen Ziele zu erreichen. Die
Palästinenser sahen es als ein zeitweiliges Abkommen an, das den Weg
zur Beendigung der Besatzung und zur Gründung eines
Palästina-Staates in allen besetzten Gebieten bereitete. Auf der
andern Seite sahen die jeweiligen israelischen Regierungen in ihm
den Weg, die Besatzung in großen Teilen des Westjordanlandes und des
Gaza-Streifens aufrecht zu erhalten mit einer palästinensischen
Selbstregierung (self-government), die die Rolle einer Hilfsagentur
für die Sicherheit Israels und der Siedlungen spielen sollte.
61. Darum stellt Oslo nicht den Beginn eines Prozesses zur
Beendigung des Konfliktes dar, sondern eher eine neue Phase des
Konfliktes.
62. Während die Erwartungen auf beiden Seiten so sehr von einander
abwichen und jede völlig an das eigene nationale
Geschichtsverständnis gebunden blieb, wurde jeder Teil des Abkommens
verschieden interpretiert. Letzten Endes wurden viele Teile des
Abkommens vor allem von seiten Israels nicht umgesetzt. (Der 3.
Rückzug, die vier sicheren Passagen zwischen dem Gaza-Streifen und
dem Westjordanland, u.a.)
63. Während der ganzen Periode des Oslo-Prozesses fuhr Israel mit
der Ausdehnung der Siedlungen fort, indem es hauptsächlich unter
verschiedenen Vorwänden neue gründete, die bestehenden vergrößerte,
ein sorgfältig ausgearbeitetes Netz von Umgehungsstraßen baute, Land
enteignete, Häuser zerstörte und Plantagen verwüstete. Die
Palästinenser andrerseits nutzten die Zeit, ihre Kräfte auszubauen
innerhalb und außerhalb des Rahmens des Abkommens. Tatsächlich
setzte sich der historische Konflikt unter dem Vorwand der
Verhandlungen und des "Friedensprozesses" unvermindert weiter, der
stellvertretend für tatsächlichen Frieden stand.
64. Im Gegensatz zu seinem Image, das sich nach seiner Ermordung
noch verstärkte, hielt Yitzak Rabin den Konflikt "auf dem Boden" am
Leben, während er gleichzeitig den politischen Prozess, Frieden
unter israelischen Bedingungen zu erlangen managte. Da er ein
Anhänger der zionistischen Geschichtsdeutung war und ihre Mythologie
akzeptierte, litt er an einer kognitiven Dissonanz, als seine
Hoffnungen für Frieden mit seiner Vorstellungswelt zusammenprallten.
Es schien als ob er begonnen hatte, einige Teile der
palästinensischen Geschichtsdeutung zu verinnerlichen – aber das war
erst kurz vor seinem Lebensende.
65. Der Fall Shimon Peres ist viel ernster. Er schuf sich selbst ein
internationales Image als Friedensmacher und richtete seine
Redeweise derart aus, dass sie dieses Image reflektiert ("Der Neue
Nahe Osten"), während er im wesentlichen ein traditioneller
zionistischer Falke blieb. Dies wurde während der kurzen und
gewalttätigen Periode deutlich, als er nach der Ermordung Rabins als
Premier Minister fungierte und noch einmal, als er kürzlich die
Rolle des Sprechers und Verteidigers von Sharon annahm.
66. Am deutlichsten wurde das israelische Dilemma, als Ehud Barak
zur Macht kam und vollkommen von seiner Fähigkeit überzeugt war,
dass er den Gordischen Knoten des historischen Konfliktes mit einem
dramatischen Schlag beenden könne – in der Art wie Alexander der
Große. Barak näherte sich dem Problem mit völliger Ignoranz der
palästinensischen Geschichtsdeutung und ohne Achtung vor seiner
Bedeutung. Er stellte seine Vorschläge als Diktate vor und war
erschrocken und wütend, dass sie zurückgewiesen wurden.
67. In seinen Augen und in weiten Teilen auch bei den Israelis,
"hatte Barak jeden Stein umgedreht" und hatte den Palästinensern die
großzügigsten Angebote gemacht wie kein vorausgegangener Premier
Minister. Als Gegenleistung wollte er, dass die Paläsinenser "das
Ende des Konfliktes" unterzeichneten. Die Palästinenser betrachteten
dies als groteske Anmaßung, da Barak sie wirklich aufgefordert
hatte, ihre nationale Grundvorstellung aufzugeben, wie das Recht zur
Rückkehr und die Souveränität über Ost-Jerusalem und den Tempelberg.
Mehr noch, während Barak die Ansprüche auf Annektion von Land als
eine Angelegenheit von kaum erwähnenswerten Prozenten
("Siedlungsblöcke") darstellte, war es nach Berechnungen der
Palästinenser eine tatsächliche Annektion von 20% Land jenseits der
"Grünen Linie".
68. Nach palästinensischer Ansicht hatten sie schon den
entscheidenden Kompromiß gemacht, in dem sie bereit waren, ihren
Staat jenseits der Grünen Linie aufzubauen – in nur 22% ihrer
historischen Heimat. Deshalb konnten sie nur kleinen
Grenzkorrekturen mit Land-Austausch zustimmen. Die traditionelle
israelische Position ist, dass die Errungenschaften des
1948er–Krieges festgesetzte Fakten sind, an denen nicht gerüttelt
werden darf und der Kompromiß sich nur auf die verbleibenden 22%
konzentrieren kann.
69. So wie es sich mit den meisten Begriffen und Vorstellungen
verhält, so hat auch das Wort "Konzession" für beide Seiten
verschiedene Bedeutungen.. Die Palästinenser sind davon überzeugt,
dass sie bereits auf 78% ihres Landes verzichtet hätten, wenn sie
sich mit nur 22% davon begnügen. Die Israelis glauben, dass sie
nachgeben, wenn sie damit einverstanden sind, wenn sie den
Palästinensern Teile von diesen 22% (des Westjordanlands und des
Gaza-Streifen) zugestehen.
70. Der Camp David Gipfel im Sommer 2000, der gegen Arafats Willen
ihm also aufgedrängt wurde, war vorzeitig und brachte die Dinge zu
einem Höhepunkt. Baraks Forderungen, die auf dem Gipfel als Clintons
presentiert wurden, bestanden darin, dass die Palästinenser mit dem
Ende des Konfliktes einverstanden sein und auf das Rückkehrrecht und
die Rückkehr selbst verzichten sollen; komplizierte Regelungen für
Ost-Jerusalem und den Tempelberg, ohne Souveränität über sie, zu
akzeptieren; mit großen territerorialen Annektionen im
Westjordanland und im Gaza-Streifen einverstanden zu sein, auch mit
der militärischen Präsenz in andern großen Gebieten und mit der
israelischen Kontrolle über die Grenzen, die den palästinensischen
Staat vom Rest der Welt trennen. Kein palästinensischer Führer würde
jemals solch ein Abkommen unterzeichnen. Und so endete der Gipfel
mit einem toten Punkt und die Karrieren von Clinton und Barak waren
auch am Ende.
Die Al-Aksa-Intifada
71. Der Zusammenbruch des Gipfels, das Verschwinden jeglicher
Hoffnung für ein Abkommen zwischen den beiden Seiten und die
bedingungslose Pro-Israel-Haltung der Amerikaner, führte
unvermeidlich zu einer neuen Runde von gewalttätigen
Konfrontationen, die den Namen Al-Aksa-Intifada bekamen. Für die
Palästinenser ist dies ein gerechtfertigter nationaler Aufstand
gegen die fortdauernde Besatzung, deren Ende nicht in Sicht ist und
die es sich erlaubt, ständig und täglich Land unter den Füßen der
Palästinenser wegzuziehen. Für die Israelis ist dieser Ausbruch
mörderischer Terror. Den Palästinensern erscheinen die Ausführenden
dieser Akte wie Nationalhelden - für die Israelis gnadenlose
Verbrecher, die liquidiert werden müssen.
72. Die offiziellen Medien in Israel erwähnen die Siedler nicht mehr
als solche, sondern nennen sie "Einwohner", auf die ein Angriff
jetzt ein Verbrechen gegen Zivilisten ist. Die Palästinenser
betrachten die Siedler als die vorderste Reihe eines gefährlichen
Feindes, dessen Absicht es ist, sie ihres Land zu berauben, und der
besiegt werden muss.
73. Ein großer Teil des israelischen "Friedenslagers" brach während
der Al-Aksa Intifada zusammen und es stellt sich heraus, dass die
Überzeugung vieler auf tönernen Füßen stand. Besonders nachdem Barak
"jeden Stein umgedreht" und "großzügigere Angebote als jeder frühere
Premier Minister" gemacht hätte, war die Reaktion der Palästinenser
für diesen Teil des "Friedenslagers" unbegreiflich. Dieses hatte
nämlich nie eine Revision der zionistischen Geschichtsdeutung
vollzogen und die Tatsache nicht zur Kenntnis genommen, dass es auch
eine palästinensische Geschichtsdeutung gibt. Die einzige
verbliebene Erklärung war, dass die Palästinenser das israelische
Friedenslager betrogen hätten, dass sie nie beabsichtigten, Frieden
zu machen und dass es ihre wahre Absicht sei, die Juden ins Meer zu
werfen, wie die zionistische Rechte immer behauptet hatte.
74. Das Ergebnis war, dass die trennende Linie zwischen der
zionistischen "Rechten" und "Linken" verschwand. Die Führer der
Arbeiterpartei vereinigten sich mit der Sharon-Regierung und wurden
ihre wirksamsten Vertreter (Shimon Peres) und sogar die formelle
linke Opposition (Yossi Sarid) nahm am Konsens teil. Dies beweist
wieder, dass die Zionistische Geschichtsdeutung der entscheidende
Faktor ist, alle Facetten des politischen Systems in Israel zu
vereinigen. Der Unterschied zwischen Rehavam Zeevi und Avraham Burg,
Yitzak Levi und Yossi Sarid sind unbedeutend.
75. Es gibt eine spürbare Veränderung in der palästinensischen
Bereitschaft, den Dialog mit den israelischen Friedenskräften wieder
aufzunehmen; es ist eine Folge der großen Enttäuschung über die
"linke Regierung", die so viele Hoffnungen nach den Netanyahu-Jahren
geweckt hatte, wie auch eine Folge der Tatsache, dass außer den
kleinen radikalen Friedensgruppen von keiner israelischen Empörung
über die brutalen Reaktionen der Besatzungskräfte zu hören war. Die
Tendenz, die Reihen zu schließen, die für jede Nation in einem
Befreiungskrieg typisch ist, ermöglicht es den extremen
nationalistischen und religiösen Kräften auf der palästinensischen
Seite, jede israelisch-palästinensische Zusammenarbeit zu
erschweren.
Ein neues Friedenslager
76. Der Zusammenbruch des alten Friedenslagers erfordert die
Schaffung eines neuen israelischen Friedenslagers, die realistisch,
modern, wirksam und stark sein wird, die die israelische
Öffentlichkeit beeinflussen und zu einer umfassenden Neubewertung
der alten Grundsätze führen kann, um einen Wechsel im israelischen
politischen System zu bewirken.
77. Um das zu tun, muss die neue Friedensbewegung die öffentliche
Meinung zu einer mutigen Neubewertung der nationalen
"Geschichtsdeutung" und zu ihrer Befreiung von falschen Mythen
führen. Sie muss danach streben, die Geschichtsauffassungen der
beiden Völker in einer gemeinsamen "Geschichte" zu vereinen, die
frei von Geschichtsfälschungen ist und von beiden Seiten akzeptiert
werden kann.
78. Während dies getan wird, muss die israelische Öffentlichkeit
auch darüber informiert werden, dass bei all den schönen und
positiven Seiten des zionistischen Unternehmens dem
palästinensischen Volk ein furchtbares Unglück angetan wurde. Dieses
Unrecht, das seinen Höhepunkt während der "Nakba" erreichte,
verpflichtet uns, Verantwortung zu übernehmen und den Schaden
wiedergutzumachen, so gut dies nur möglich ist.
79. Mit einem neuen Verständnis der Vergangenheit und der Gegenwart
muss das neue Friedenslager einen Plan erarbeiten, der auf folgender
Grundlage beruht:
a) Neben Israel wird ein unabhängiger und freier Palästinastaat
gegründet.
b) Die "Grüne Linie" wird die Grenze zwischen den beiden Staaten.
Mit Zustimmung der beiden Seiten ist ein begrenzter Gebietsaustausch
möglich.
c) Die israelischen Siedlungen auf dem Territorium des
Palästinastaates werden geräumt.
d) Die Grenze zwischen den beiden Staaten wird nach einer zwischen
beiden Seiten vereinbarten Regelung für die Bewegung von Personen
und Gütern offen sein.
e) Jerusalem wird die Hauptstadt beider Staaten – West-Jerusalem die
Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas. Der
Staat Palästina wird die vollständige Souveränität in Ost-Jerusalem
besitzen, einschließlich des Haram al Sharif (Tempelberg). Der Staat
Israel wird die volle Souveränität in West-Jerusalem besitzen,
einschließlich der West-Mauer ("Klagemauer") und des jüdischen
Viertels. Beide Staaten werden ein Abkommen über die physische
Einheit der Stadt auf Verwaltungsebene schließen.
f) Israel wird prinzipiell das Recht auf Rückkehr der Palästinenser
als ein unveräußerliches Menschenrecht anerkennen. Die praktische
Lösung wird durch ein Abkommen erreicht, das auf gerechten, fairen
und praktischen Erwägungen beruht und die Rückkehr auf das Gebiet
des Staates Palästina, auf das Gebiet des Staates Israel und
Entschädigungen einschließt.
g) Die Wasservorkommen werden gemeinsam kontrolliert und in einem
gleichberechtigten und ehrlichen Abkommen zugewiesen.
h) Die Sicherheit beider Staaten wird in einem Sicherheitsabkommen
zwischen ihnen garantiert, das die spezifischen
Sicherheitsinteressen sowohl Israels als Palästinas berücksichtigt.
i) Israel und Palästina werden mit andern Staaten der Region
zusammenarbeiten, um eine Nahost-Gemeinschaft nach dem Modell der
Europäischen Union zu errichten.
80) Die Unterzeichnung eines Friedensabkommens und eine ehrliche
Verwirklichung wird zu einer historischen Versöhnung zwischen den
beiden Nationen führen, die auf Gleichheit, Zusammenarbeit und
gegenseitiger Achtung beruht.
Aus dem Englischen übersetzt: Ernst Herbst und Ellen Rohlfs und vom
Autor Uri Avnery autorisiert
|