Die Siamesischen Zwillinge
Uri Avnery
16. Juni 2018
ÜBER DIE meisten Folgen von Rawiw Druckers Fernsehserie über die
ersten israelischen Ministerpräsidenten „Die Führer“ (HaKwarnitim)
habe ich schon geschrieben. Jetzt komme ich auf den einen Führer zu
sprechen, über den ich noch nicht geschrieben habe: Jizchak Rabin.
Ich will gleich zu Beginn festhalten: Ich mochte ihn.
Er war ein Mann nach meinem Herzen: ehrlich, logisch, geradlinig,
ohne Umschweife.
Kein Unsinn, kein Gerede. Wenn man in sein Zimmer kam, goss er einem
einen unverdünnten Whisky ein (er schien Wasser zu verabscheuen),
bot einem einen Platz an und stellte eine Frage, die einen zwang,
unmittelbar auf den Punkt zu kommen.
Wie erfrischend – im Vergleich zu anderen Politikern. Aber Rabin war
kein wirklicher Politiker. Er war Soldat durch und durch. Dazu war
er der Mann, der die Geschichte Israels hätte verändern können.
Darum wurde er ermordet.
DER HERAUSRAGENDE Tatbestand seines Lebens war, dass er noch im
Alter von 70 Jahren seine Grundeinstellung vollkommen änderte.
Er war keiner, der für den Frieden geboren war. Durchaus nicht.
Er war ein so orthodoxer Zionist, wie es nur einer sein kann. Er
führte Israels gerechtfertigte und ungerechtfertigte Kriege, ohne
Fragen zu stellen. Einige seiner Handlungen waren brutal, einige
sehr brutal. Während der ersten intifada im Gazastreifen
sagte er: „Brecht ihnen die Knochen“, und einige Soldaten nahmen das
wörtlich.
Wie kam nun also dieser Mann dazu, das palästinensische Volk (dessen
bloße Identität bis dahin noch geleugnet worden war) anzuerkennen,
mit der „terroristischen“ palästinensischen Führung zu verhandeln
und das Oslo-Abkommen zu unterzeichnen?
Ich habe das einzigartige Glück, vielleicht der einzige Mensch auf
der Welt zu sein, der von den beiden Haupt-Protagonisten im
Oslo-Drama persönlich gehört hat, wie sie diesen Wendepunkt in ihrem
Leben – und dem Leben ihrer Nationen - erreicht haben. Sie haben es
mir selbst erzählt – natürlich bei unterschiedlichen Gelegenheiten.
Rabins Bericht war mehr oder weniger dieser: „Nach dem Krieg von
1967 glaubte ich wie fast alle an die jordanische Option. Da damals
niemand glaubte, dass wir die eroberten Gebiete würden behalten
dürfen, wollten wir sie König Hussein zurückgeben, wenn er uns dafür
Ostjerusalem überlassen würde.
Eines Tages verkündete der König, er wolle nichts mehr mit dem
Westjordanland zu tun haben. Deshalb galt die Option nicht mehr.
Einer unserer Expertem befürwortete die Errichtung von
‚Dorf-Bündnissen‘ im Westjordanland und das Verhandeln mit ihnen.
Die Bündnisse brachen bald darauf auseinander.
1993 wurde eine israelisch-arabische Friedenskonferenz in Madrid
einberufen. Israel erkannte die Palästinenser nicht an und deshalb
gehörten die palästinensischen Vertreter aus den besetzten Gebieten
zur jordanischen Delegation. Als man auf das Thema Palästinenser zu
sprechen kam, standen die Jordanier auf und verließen den Raum,
sodass die Israelis den Palästinensern gegenübersaßen.
An jedem Abend sagten die Palästinenser zu den Israelis: ‚Jetzt
müssen wir in Tunis anrufen, um uns von Arafat weitere Instruktionen
geben zu lassen.‘ Das war lächerlich. Als ich dann wieder
Ministerpräsident war, beschloss ich, es sei besser, direkt mit
Arafat sprechen.“
(Arafats Geschichte lautet ähnlich: „Wir begannen den bewaffneten
Kampf. Darin besiegten wir Israel nicht. Dann brachten wir die
arabischen Armeen dazu anzugreifen. Zu Beginn des Oktober-Krieges
errangen die Araber tatsächlich einen glänzenden Sieg, aber dennoch
verloren sie den Krieg. Mir wurde klar, dass wir Israel nicht
militärisch besiegen würden, deshalb beschloss ich, mit Israel
Frieden zu schließen.“)
IN DER Folge über Rabin zeichnet Drucker ein Bild, das, so glaube
ich, nicht richtig ist.
Nach seiner Auffassung war Rabin ein schwacher Mensch, den der
Außenminister Schimon Peres fast an den Haaren nach Oslo zerren
musste. Als Augenzeuge muss ich bezeugen, dass das ganz falsch ist.
Ich traf Rabin zum ersten Mal in einem Schwimmbad. Ich sprach mit
dem Befehlshaber der Luftwaffe Eser Weizmann, der Ben-Gurion mit
seinen höchst aggressiven Scherzen geärgert hatte. Auch Rabin war
wie wir alle in der Badehose. Er ignorierte mich und wandte sich
direkt an Eser: „Hast du nicht schon genug Ärger, auch ohne dass du
dich in der Öffentlichkeit mit Uri Avnery zeigst?“
Das nächste Mal traf ich ihn 1969, als er Botschafter in Washington
war. Wir hatten ein langes Gespräch, in dem ich behauptete, der
einzige Weg zur Rettung der Zukunft Israels sei es, mit dem
palästinensischen Volk unter der Führung Arafats Frieden zu
schließen. Rabin war völlig entgegengesetzter Meinung.
Danach trafen wir uns oft. Eine meiner Freundinnen, die Bildhauerin
Ilana Gur, war von dem Gedanken besessen, uns dazu zu bringen,
miteinander zu sprechen. Daher gab sie häufig Partys in ihrer
Werkstatt in Jaffa, deren wahrer Zweck es war, Rabin und mich
zusammenzubringen. Gewöhnlich trafen wir uns an der Bar, und wenn
alle anderen schon nach Hause gegangen waren, saßen wir noch
beisammen und sprachen, oft auch mit Ariel Scharon. Worüber?
Natürlich über die palästinensische Frage.
Als ich meine Geheimgespräche mit den Delegierten Arafats aufnahm -
zuerst mit Said Hamami und später mit Isssam Sartawi -, ging ich den
Ministerpräsidenten Rabin in seinem Büro besuchen und erzählte ihm
davon. Rabins Reaktion war typisch für ihn: „Ich bin nicht deiner
Meinung, aber ich verbiete dir diese Treffen nicht. Und wenn du
irgendetwas hörst, von dem du glaubst, das sollte der
Ministerpräsident Israels wissen: meine Tür steht offen.“
Danach brachte ich ihm einige Mitteilungen von Arafat, die er samt
und sonders ignorierte. Sie betrafen kleine Initiativen, aber Rabin
sagte: „Wenn wir uns auf diesen Weg begeben, führt das unvermeidlich
zu einem palästinensischen Staat und den will ich nicht.“
Arafat wünschte offensichtlich, Kontakt zu Rabin herzustellen. Ich
glaube, das war Arafats Hauptzweck, als er mich zum ersten Mal, es
war im belagerten Westbeirut, empfing. (Ich war der erste Israeli,
dem er jemals begegnet war.)
Ich wünschte, ich könnte ehrlich sagen, dass ich glaube, ich sei es
gewesen, der Rabin überzeugte, er solle seine Ansichten vollkommen
ändern und mit den Palästinensern verhandeln, aber ich glaube nicht,
dass ich es war. Rabin wurde von Rabin überzeugt, von seiner eigenen
Logik.
Rabins historischer Fehler war, dass er, nachdem er den Durchbruch
in Oslo erreicht hatte, nicht vorwärts drang und Frieden schloss. Er
war zu langsam und zu vorsichtig. Ich habe ihn oft mit einem General
verglichen, der zwar die feindlichen Linien durchbrochen hat, der
aber, statt alle seine Truppen in die Bresche zu werfen, zögert und
haltmacht. Das kostet ihn das Leben.
Dieser Fehler wiederholte sich. Am Vorabend des Sechstagekrieges,
als er Stabschef war, brachte ihm das zu lange Abwarten – oder sein
zwanghaftes Rauchen – einen Zusammenbruch ein. Auf dem Höhepunkt der
Spannung konnte er sich 24 Stunden lang nicht bewegen und sein
Stellvertreter Eser Weizmann übernahm das Kommando.
Das hielt jedoch Rabin nicht davon ab, mithilfe des besten
Generalstabs, den die israelische Armee jemals hatte, in dem Krieg
einen historischen Sieg davonzutragen. Diesen Generalstab hatte
Rabin sorgfältig für den Krieg zusammengestellt.
Jahre später, als Rabin zum Ministerpräsidenten gewählt worden war,
warnte Eser die Öffentlichkeit und sagte, Rabin sei der Aufgabe
nicht gewachsen. In einer denkwürdigen Szene schloss sich Ariel
Scharon in eine öffentliche Telefonzelle ein. Vor ihm lag ein Haufen
Telefonmünzen und er rief die Chefredakteure aller Zeitungen im Land
an, um ihnen zu versichern, dass Rabin der Aufgabe sehr wohl
gewachsen sei.
Ich glaube, dass Rabin auf seine schwerfällige Weise schließlich
Frieden mit dem palästinensischen Volk geschlossen und dazu
beigetragen hätte, einen palästinensischen Staat zu errichten. Seine
anfängliche Abneigung gegen Arafat wich der Hochachtung vor ihm, die
dieser erwiderte. Arafat besuchte ihn heimlich bei sich zu Hause.
DAS HAUPTTHEMA in Druckers Film war die sprichwörtliche Feindschaft
zwischen Rabin und Peres. Sie hassten einander abgrundtief, aber
konnten einander doch nicht loswerden. Ich verglich sie mit
siamesischen Zwillingen, die einander verabscheuen.
So war es von Anfang an. Rabin gab sein Studium der Landwirtschaft
auf, um sich der Kampftruppe unserer Untergrundarmee, dem Palmach,
anzuschließen. Als 1948 der Krieg ausbrach, wurde er Feldkommandeur.
Peres war niemals in der Armee. Ben-Gurion schickte ihn ins Ausland,
um dort Waffen zu kaufen. Das war sicherlich eine wichtige Aufgabe,
aber sie hätte auch von einem 60-jährigen erledigt werden können.
Peres war 24 – er war zwei Wochen älter als ich.
Seitdem hasste ihn meine gesamte Generation. Er wurde das Stigma
nicht wieder los. Es war einer der Gründe dafür, dass Peres in
seinem ganzen Leben nie eine Wahl gewann. Aber er war ein Meister
der Intrige. Rabin nannte ihn, scharfzüngig, wie er war,
bekanntermaßen „den unermüdlichen Intriganten“.
Der wichtige Zankapfel war der Durchbruch in Oslo. Außenminister
Peres erhob den Anspruch, das Zustandekommen des Abkommens sei sein
Verdienst.
Eines Tages hatte ich ein seltsames Erlebnis. Ich bekam einen
Telefonanruf, in dem mir mitgeteilt wurde, Peres wolle mich
sprechen. Da wir geschworene Feinde waren, war das seltsam. Als ich
eintraf, hielt Peres mir eine einstündige konzentrierte Vorlesung
darüber, warum es wichtig sei, mit den Palästinensern Frieden zu
schließen. Da das viele Jahrzehnte lang das zentrale Thema meines
Lebens gewesen war, während Peres sich immer hartnäckig
dagegengestellt hatte, war das eine reichlich unwirkliche Szene. Ich
hörte zu und fragte mich, worum es ihm eigentlich gehe.
Kurz darauf, als das Oslo-Abkommen öffentlich bekannt wurde,
verstand ich die Szene: Sie war Teil der Bemühung Peres’, das
Verdienst daran für sich zu reklamieren.
Aber es war der Ministerpräsident Rabin gewesen, der die
Entscheidung getroffen und die Verantwortung übernommen hatte. Dafür
wurde er ermordet.
Die Schlussszene: Der Mörder steht mit der Pistole in der Hand am
Fuße der Treppe und wartet, dass Rabin die Treppe runterkommt. Aber
zuerst kommt Peres. Der Mörder lässt ihn unversehrt vorübergehen:
die ultimative Beleidigung.
Übersetzt von Ingrid von Heiseler