Over bottled
Uri Avnery, 7.Februar 2015
JEDER WEISS, worum es
in den israelischen Wahlen geht.
Die Wahl ist heftig:
auf der einen Seite gibt es den Traum von Groß-Israel „vom Meer zum
Fluss“, was in der Praxis ein Apartheidstaat werden würde; auf der
andern Seite, ein Ende der Besatzung und Frieden.
Einige würden eine
soziale Wahl hinzufügen: auf der einen Seite den bestehenden
neo-liberalen Staat mit der größten Rate von Ungleichheit in der
industriellen Welt; auf der andern Seite, ein sozial-demokratischer
Staat mit sozialer Solidarität.
Ist das Land also
voller Plakate über Krieg und Frieden, Besatzung und Siedlungen,
Arbeitslohn und Lebenshaltungskosten? Sind die Fernsehprogramme auch
voll von diesen? Beschäftigen sich die Titelseiten der Zeitungen
damit?
Überhaupt nicht. Noch
fünf Wochen sind es bis zum Wahltag --und all diese Themen sind
praktisch verschwunden.
Krieg, Frieden,
soziale Gerechtigkeit - sie verursachen nur ein kollektives
Gähnen. Es gibt viel interessantere Sachen, die die öffentliche
Meinung mitreißen.
Zum Beispiel
Flaschen.
FLASCHEN, UM Himmels
willen? Wahlen um Flaschen?
Das ganze Land ist
überbeschäftigt mit dem, was Sherlock Holmes das Rätsel der Flaschen
nennen würde.
Israel ist eine
ökologisch denkende Gesellschaft. Sie fühlt sich von weggeworfenen
Plastik- und Glasflaschen bedroht. Es wurde also ein Gesetz
erlassen, das Supermärkte und andere Einzelhandelsläden
verpflichtet, ein Pfand zu verlangen - ein paar Cents – etwa 13
Cents für eine Plastikflasche, etwa 30 Cents für ein Weinflasche.
Das wird zurück gezahlt, wenn die leere Flasche zurückgegeben wird.
Viele Leute, wie ich, kümmern sich nicht darum.
Aber kleine Summen
können zu großen Summen werden. Viele arme ältere Leute verdienen
eine Art Lebensunterhalt, wenn sie leere Flaschen aus
Abfallbehältern auf den Straßen sammeln, meistens für organisierte
Verbrecherfamilien.
Alle zurückgegebenen
Flaschen werden wieder verwendet. Die Umwelt ist gerettet. Jeder ist
damit einverstanden. Wie kommt es, dass dies ein heißes Wahlproblem
wird und alles andere von der nationalen Agenda beiseiteschiebt?
BEFASSEN WIR uns mit
der obersten Familie: mit Benjamin Netanjahu, seiner Frau Sarah und
den beiden erwachsenen Söhnen.
Die Familie wird vom
Staat in der offiziellen Residenz des Ministerpräsidenten im Zentrum
Jerusalems untergebracht. Sie besitzt noch zwei private Wohnsitze –
eine Wohnung in einem guten Jerusalemer Stadtteil und eine prächtige
Villa in Cäsarea, in einer Wohngegend der sehr Reichen.
Nach dem Gesetz
werden all diese Wohnungen vom Staat unterhalten. Aus öffentlichen
Mitteln werden alle Lebenshaltungskosten, wie Lebensmittel und
Getränke bezahlt, auch das Personal, Männer oder Frauen.
Seit Beginn der
Amtszeit von Netanjahu gibt es Gerüchte und Gemunkel über die Dinge,
die sich in den drei Wohnungen abspielen. Es scheint, dass Sarah
Netanjahu, die Möchte-gern Königin, eine schwierige Person ist,
besonders für die Hausangestellten. Einige von ihnen haben sie wegen
Misshandlung verklagt. Häufig findet ein Wechsel bei den
Hausangestellten statt. Das entlassene Personal beklagt sich.
Eine Enthüllung war,
dass Sarah’le (wie sie jeder nennt --nicht immer aus Liebe),
Gartenmöbel vom Regierungssitz zur privaten Villa bringen ließ. Eine
andere war, dass der Chef des Personals mitten in der Nacht in
seiner Wohnung aufgeweckt und ihm befohlen wurde, sofort eine
heiße Suppe ins Schlafzimmer der Herrin zu bringen. Es scheint, dass
sie das Personal wegen kleiner Versäumnisse häufig anschreit. All
dies wurde bei diversen Rechtsfällen vorgebracht - zum großen
Vergnügen der Massen.
Zum Beispiel wurde so
bekannt, dass die Residenz des Ministerpräsidenten während des
Jahres für hunderttausend Dollar Eiskrem bestellt hat. Immer
Pistazieneis.
Klagen über des
Ministerpräsidenten Vorliebe für Luxus sind nicht neu. Seit Jahren
hat der Staatsanwalt Ermittlungen über die „Bibi-Reisen“ gemacht:
die Gewohnheit von Netanjahu und seiner Familie erster Klasse zu
fliegen und in aller Welt in Luxushotels abzusteigen, ohne einen
Schekel zu bezahlen – alle Ausgaben zahlten ausländische
Milliardäre. Seit er Finanzminister war, war dies gegen das Gesetz.
Und nun kommen die
Flaschen.
EINE ENTLASSENE
Angestellte verriet den Medien, dass Sarah’le gewöhnlich zwei
Regierungsangestellte in einem offiziellen Wagen zur
Flaschensammelstelle schickt, um leere Flaschen zurückzugeben und
das Pfandgeld zurück zu bekommen. Statt das Geld der Regierung
zurückzugeben, wie es das Gesetz verlangt, steckt sie es für
privaten Gebrauch in die eigene Tasche.
Ein großes Geschäft?
Es scheint so. Als sie das erste Mal deswegen erwischt wurde, zahlte
die Familie 4000 Schekel an die Regierung – fast 1000Euros -.
zurück. Jetzt scheint es, dass die Summen viel größer sind und
Sarah’le dies seitdem weiter praktiziert.
Dies mag eine
kriminelle Straftat sein. Der Justizminister und der Staatsanwalt
-beide von Netanjahu ernannt – warfen einander die Akte zu. Jetzt
können sie verpflichtet werden, vor den Wahlen diesbezüglich etwas
zu tun.
Wie viele Flaschen?
Es wurde bekannt, dass die Familie im Durchschnitt eine Flasche
teuren Weines pro Tag konsumiert. In einem Land wie Israel, in dem
viele Leute überhaupt keinen Alkohol trinken, ist das eine ganze
Menge. Als man sich danach erkundigte, brachte der Familienanwalt
das Land ins Staunen, denn er behauptete im TV, dass Wein kein
„Alkohol“ sei.
Der Gedanke, dass
unser Ministerpräsident betrunken sein könnte, wenn für das Land
schicksalshafte Entscheidungen schnell gemacht werden müssen – eine
Militäraktion z.B. – ist nicht gerade angenehm.
Ein jiddischer
Ausdruck fällt mir ein. Lange bevor Alois Alzheimer, der deutsche
Arzt, der vor 100 Jahren diese nach ihm benannte Krankheit
entdeckte, wurden die von ihm beschriebenen Symptome auf Jiddisch
„over-bottles“ genannt. Dies ist vom Hebräischen „Over battel“
(Faulenzer) abgeleitet –, ein nutzloser alter Kerl.
Auf Englisch heißen
Flaschen „bottles“ Über die Netanjahus könnte man jetzt im
buchstäblichen Sinn sagen, dass sie over-bottled, nutzlos sind.
SEIT WOCHEN ist dies
das heißeste Thema in Israel.
Bibi-Hasser, von
denen das Land eine Menge hat, sind glücklich. Dies wird sicher
Netanjahu und den Likud ernsthaft verletzen. Geschieht dies?
Wie wir wissen,
überhaupt nicht. Im Gegenteil – nach mehreren Tagen, in denen das
„Zionistische Lager“ (auch als Labor-Partei bekannt) den Likud bei
Umfragen um ein oder zwei Sitze überholte, hat der Likud sich erholt
und den Vorsprung von zwei oder drei Sitzen übernommen. Kein Djinn
ist aus den Flaschen aufgetaucht.
Das Land hat sich
amüsiert. Die Flaschen lieferten den Stoff für grenzenloses
Geschwätz, für Karikaturen und Satire, veränderte jedoch nicht die
politische Einstellung der Wähler.
Und mit dem
„Zionistischen Lager“ ist natürlich etwas falsch gelaufen.
IN MILITÄRSPRACHE:
wenn es einem Feldherrn gelingt, die feindliche Linie zu
durchbrechen, wäre es das Letzte, das er tun sollte, anzuhalten und
sich selbst zu gratulieren. Er sollte alle seine Kräfte sofort in
die Bresche werfen und das Hinterland des Gegners erobern.
Jitzhak Herzog ist
kein Feldherr und hat diese Lektion nicht gelernt.
Er begann seine
Wahlkampagne gut genug. Seine politische „Heirat“ mit Zipi Livni
war ein Meisterstück. Livni bringt zwar keine Mitgift mit – ihre
Partei war eher virtuell als real. Aber die Vereinigung hatte den
Reiz des Neuen, an Bewegung und an Schwung. Zumal Herzog – falls er
Ministerpräsident würde- mit einer Rotation von ihm selbst und
Livni einverstanden wäre. Das wäre eine Geste, die als großzügiger
Akt von Bescheidenheit und Selbstlosigkeit wahrgenommen würde –
ungewöhnlich für einen Politiker in Israel (oder anderswo, vermute
ich). Gewöhnlich sind Politiker Egomanen.
Unmittelbar kam es zu
Erfolgen. Die Labor-Partei, die bis dahin als beinahe erstarrt
angesehen wurde, wurde bei den Meinungsumfragen lebendig. Sie
überholte den Likud. Auf einmal konnten sich die Leute vorstellen,
die Rechte nieder zu stimmen. Herzog, eine anspruchslose Person von
kleiner Statur, erschien plötzlich als plausibler Kandidat für die
Führung.
Und da hielt es an.
Im neuen „zionistischen Lager“ geschah nichts. Bei den internen
Vorwahlen tauchte eine eindrucksvolle Kandidatenliste auf, eine
Liste von neuen, jungen und kompetenten Leuten, die bei weitem
attraktiver sind als die Listen aller anderen Parteien.
Aber das war es dann
auch. Die Partei wurde still. Sie reagierte überhaupt nicht auf all
die himmelschreienden Provokationen Netanjahus an der Nordgrenze.
Sie brachte keine neuen und revolutionären Ideen, sie begann keine
wirkliche Propagandakampagne. Bis jetzt ist die Parteikampagne wie
Herzog selbst, anspruchslos, anständig und still, sehr still.
Der Likud andrerseits
ist zügellos. Seine Anhänger werfen jede Menge Dreck, den sie
erwischen können. Sie sind schrill, skrupellos und vulgär.
Aber die Hauptsache
ist, dass es keinen Schwung mehr gab. Vergeblich schlug ich in zwei
Artikeln in Haaretz eine gemeinsame Wahlliste vor: den
Zusammenschluss aller Mitte-Links-Parteien. Das würde den Eindruck
erwecken, dass alle anti-Netanjahu-Kräfte sich vereinigen, um der
Likud-Herrschaft ein Ende zu bereiten und eine neue
Regierungsmehrheit mit neuer Agenda aufzubauen.
Die Idee rief keine
Reaktion hervor. Herzog will Meretz nicht, aus Angst, dass seine
Liste von Linken kontaminiert würde. Er war auch nicht bereit, Yair
Lapids Zentrumspartei abzuwerben. (Mein Vorschlag war, beide
Parteien einzuschließen, sodass sie in der Öffentlichkeit einander
ausbalancieren).
Herzog fühlte
anscheinend nicht wie ich, dass eine große neue Verbindung
Enthusiasmus schaffen und die linke Öffentlichkeit aus ihrer fatalen
Apathie reißen würde.
Lapids Egomanie
hinderte ihn daran, solch eine Union einzugehen, in der er nicht die
Nummer eins sein würde, obwohl die Meinungsumfragen voraussagten,
dass seine Partei schrumpfen würde und zwar bis zur Hälfte ihrer
jetzigen Stärke. Meretz war nicht bereit, ihre behagliche Isolation
aufzugeben, sie war eher ein Club als eine politische Kraft. Die
gelehrten Professoren, denen es an politischer Einsicht fehlt, wovon
die Linke im Überfluss hat, rieten unerbittlich ab.
Als der letzte Tag
der Angebotsabgabe der Wahllisten kam und vorbeiging, war ich
traurig. Nicht ärgerlich, nur traurig. Ich fühlte in meinen Knochen,
dass eine einzigartige Gelegenheit, die Herrschaft des rechten
Flügels zu beseitigen, verpasst war – mit allem, was sie für Israels
Zukunft zur Folge hat.
Es könnte noch
geschehen. Die Öffentlichkeit kann sich noch entscheiden, dass es
genug ist. Aber die Chancen dafür sind sehr gering.
EINER MEINER Freunde,
der zu verschwörerischen Theorien neigt, hat darauf hingewiesen,
dass die ganze Flaschenangelegenheit vielleicht von Netanjahu selbst
als Trick vorgebracht wurde, um die Öffentlichkeit von den
schicksalshaften Problemen, mit denen Israel fertig werden muss und
für die er keine Lösung hat, abzulenken.
Was auch immer
geschieht, so haben die Flaschen die öffentliche Aufmerksamkeit auf
ihn gelenkt. Seine Bilder füllen die TV-Mattscheibe, sein Name
spielt in den Nachrichten die Hauptrolle. Herzog bleibt ohne
Flaschen und Pistazieneis diskret im Hintergrund. Selbst Zipi kann
nicht mit Sarah’les bunter Persönlichkeit konkurrieren.
Diejenigen von uns,
die fürchten, dass Netanjahu am Vorabend der Wahl einen Krieg
provoziert, könnten sagen: better bottles than battles-- Flaschen
sind besser als Schlachten.
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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