„Gib mir Kredit!“
Uri Avnery, 27.11.04
„Gib mir Kredit!“ rief der neue
israelische Ministerpräsident Levi Eshkol in die
Labourparteiversammlung im Februar 1965 und wandte sich dabei an
David Ben Gurion.
Vom ersten
Augenblick an, in dem Ben Gurion sein Amt niederlegte, begann er
gegen seinen Nachfolger zu arbeiten. Eshkol, der sich bis dahin nur
mit Finanzen befasst hatte, sah, verglichen mit seinem monumentalen
Vorgänger, dem Vater des Staates und dem Anführer in zwei Kriegen,
blass und untauglich aus.
Eshkol meinte seine
Worte ganz buchstäblich: „Ben Gurion, ich werde die Sprache des
Finanzmannes gebrauchen: Gib mir Kredit! Das ist es, worum ich
bitte, wenigstens für die vier Jahre einer Amtszeit.“
Der dramatische
Aufschrei half ihm nicht. Ben Gurion verließ die Partei und fuhr
fort, über Eshkol Feuer und Schwefel zu schütten.
Abu Mazen befindet
sich heute in einer ähnlichen Situation. Auch er könnte ausrufen:
„Gebt mir Kredit!“
Natürlich kann ihn
sein großer Vorgänger nicht angreifen – es sei denn indirekt – durch
sein Vermächtnis. Aber Abu Mazen hat in seiner eigenen Fatahpartei
genug Gegner.
Das Fernsehen zeigt
dies als persönlichen Kampf zwischen ihm und der nächsten
Generation, besonders mit Marwan Barghouti. Das liegt in der Natur
der Television. Da der kleine Fernsehschirm immer dann am besten
ist, wenn er ein menschliches Gesicht zeigt, doch unfähig ist, Ideen
zu zeigen, wird jede Kontroverse zur Angelegenheit einer
menschlichen Gestalt ( und bestätigt so nebenbei den berühmten
Ausspruch des kanadischen Denkers Marshall McLuhan: „Das Medium ist
die Botschaft“ und meint damit, dass die Realität so umgestaltet
wird, dass sie zum Wesen der Medien passt.)
Natürlich
reflektiert die Abu Mazen-Bargouti Kontroverse teilweise eine
Konfrontation, die persönlich und generationsbedingt ist. Abu Mazen
repräsentiert die alte Fatah-Garde, während sein Opponent die
Kämpfer der ersten und zweiten Intifada vertritt. Die wirkliche
Konfrontation geschieht jedoch zwischen zwei Weltanschauungen und
zwei Haupt-Strategien für den palästinensischen nationalen
Befreiungskampf.
Den Namen Abu Mazen
hörte ich 1974 zum ersten Mal, als ich den Kontakt mit der
PLO-Führung aufnahm. Ich fragte meinen ersten Gesprächspartner Said
Hamami, den Märtyrer für den Frieden, wer hinter ihm stehe. Im
Vertrauen sagte er mir, dass die Fatah ein Drei-Mann-Komitee
aufgestellt habe, um die Kontakte mit Israelis zu dirigieren. Ich
nannte es „Die drei Abus“ – Abu Ammar (Yasser Arafat), Abu Mazen (
Mahmud Abbas) und Abu Iyyad (Salah Khalaf).
Unter den dreien
war Abu Mazen derjenige, der sich direkt mit israelischen
Angelegenheiten befasste. Seine Doktorarbeit an der Moskauer
Universität beschäftigte sich mit den Aktivitäten der zionistischen
Bewegung während des Holocaust. Und einmal wurde ich sogar darum
gebeten, ihm Bücher über die Kastner-Affäre zu bringen (
Verhandlungen zwischen dem zionistischen Rettungskomitee und Adolf
Eichmann, 1944.)
Persönlich traf ich
Abu Mazen das erste Mal, als eine Delegation des Israelischen Rats
für israelisch-palästinensischen Frieden (General Peled, der
frühere Generaldirektor des Finanzministers Ya’acov Arnon und ich)
eingeladen war, um Arafat im Januar 1983 in Tunis zu treffen. Vor
dem Treffen sprachen wir mit Abu Mazen – wie es auch bei allen
folgenden Treffen in Tunis war: wir diskutierten unsere Ideen
zunächst mit Abu Mazen und brachten unsere Vorschläge zu Arafat,
der dann entschied.
Diese Erfahrungen
helfen mir, heute Abu Mazens Einstellung zu verstehen. Seine
Strategie sieht folgendermaßen aus: die Hauptbemühungen der
Palästinenser müssen auf die USA und die israelische Öffentlichkeit
gerichtet sein. Jetzt gibt es eine Möglichkeit, die einseitige
Politik von Präsident Bush zu ändern. Während seiner zweiten
Amtszeit kann er die mächtige jüdische Lobby ignorieren, da er nicht
noch einmal gewählt werden kann.
Auch die
öffentliche Meinung in Israel könnte verändert werden. Darum muss
die bewaffnete Intifada beendet werden. Nach Abu Mazens Ansicht hat
diese für die Palästinenser keine Vorteile gebracht, sondern ihrer
Sache nur geschadet.
Der größte Teil der
jungen Fatahgeneration verwirft kurzerhand diese Ansicht. Sie ist
davon überzeugt, dass sie auf Illusionen beruht. Bush steht unter
dem Einfluss von Sharon und gehört auf jeden Fall zu den
christlichen Fundamentalisten, die den extrem rechten Flügel in
Israel unterstützen.
Es hat auch nicht
viel Sinn, sich auf das israelische Friedenslager zu verlassen, das
die Palästinenser in der Stunde ihrer größten Not alleine gelassen
hat. Außer einigen kleinen Gruppen hat es nichts getan, um die
brutale Besatzung, das Töten, die Zerstörung, das Aushungern, die
abwürgende Trennungsmauer und die Enteignung von Land und Wasser
zu beenden. Alles, was dies Lager tut, ist, Papiere herauszugeben,
die überhaupt keine Wirkung haben.
Die bewaffneten
Aktionen - so glauben die jungen Fatah-Aktivisten – haben Erfolg:
sie hätten die israelische Wirtschaft hart getroffen; sie hätten in
Israel eine Atmosphäre der Angst und eine Realität der Armut
geschaffen; sie hätten eine Bereitschaft produziert, die
palästinensischen Gebiete aufzugeben. Die Israelis verstünden nur
die Sprache der Gewalt.
Eine moderatere
Variante dieser Haltung schlägt vor, die Angriffe auf die Siedler
und Soldaten zu intensivieren, aber mit den Angriffen auf Zivilisten
im eigentlichen Israel aufzuhören, also mit den
Selbstmordanschlägen.
So lange Arafat am
Leben war, lief die Kontroverse nicht außer Kontrolle, weil Arafat,
wie er es gewohnt war, eine Synthese zwischen beiden Haltungen
schuf. Er arbeitete – abwechselnd oder gleichzeitig – mit Diplomatie
und Gewalt, je nach der Situation. Die Anhänger beider Strategien
sahen ihn als ihren Führer an. Und tatsächlich war es Arafat, der
die Strategie anführte, Israel anzuerkennen und mit ihm - wie in
Oslo - nach Frieden zu trachten. Doch als er zu dem Schluss kam,
dass diese Bemühungen gegen eine israelische Wand rannten,
gebrauchte er Gewalt. Marwan Barghouti war sein Schüler.
Nun ist Arafat
nicht mehr. Die beiden Strategien stoßen in der palästinensischen
Gesellschaft auf einander – und vielleicht in jeder Familie.
Eines muss klar
sein: die Debatte über Strategien reflektiert keine
Meinungsverschiedenheiten über das Ziel. Alle Fatah-Fraktionen sind
in dem Ziel einig, das Arafat gesetzt hat: ein palästinensischer
Staat, die Grenzen von vor 1967 ( mit möglichem kleinem Landtausch),
Ost-Jerusalem als Hauptstadt von Palästina, die Souveränität über
den Tempelberg, Auflösung der Siedlungen, eine Übereinkunft über das
Flüchtlingsproblem. Darüber gibt es keinen Streit.
Wie werden die
Kontroversen also beigelegt werden?
Es wird für die
Träger von Maßanzügen nicht einfach sein, die Träger der
Kalashnikovs zu überzeugen, die täglich ihr Leben riskieren. Aber
die Palästinenser werden ihre Intelligenz gebrauchen. Sie werden
sich selbst fragen: Abu Mazen wünscht Kredit.
Geben wir sie ihm!
Er glaubt, von Bush und Sharon Konzessionen zu erhalten. Warum ihm
nicht eine Chance geben? Soll er’s versuchen!
Soll er versuchen,
das „gezielte Töten“, das „Bestätigen des Todes“, die Zerstörung der
Häuser, die Demütigung an den Checkpoints zu beenden. Lasst ihn
versuchen, sinnvolle Friedensverhandlungen zu erreichen. Wollen wir
mal sehen, ob Bush ihm mehr als leere Phrasen anbietet.
Als die
Amerikaner die Palästinenser das erste Mal dazu drängten, Abu Mazen
zum Ministerpräsidenten zu ernennen, erhielt er gar nichts. Sharon
stach ihm das Messer in den Rücken . Bush ignorierte ihn.
Wenn er dieses Mal
wirklich etwas erreichen kann, um so besser. Wenn nicht, werden die
Kalaschnikovs wieder reden. Das ist der Hintergrund zu Marwan
Barghoutis Entscheidung, sich diesmal nicht zur Wahl aufstellen zu
lassen.
Jeder Kredit ist
zeitlich begrenzt. Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Sicher nicht länger.
Abu Mazen hat Barghouti schon versprochen, innerhalb der Fatah nach
neun Monaten Wahlen abzuhalten.
Wenn der Kredit
keine Zinsen einbringt, dann wird sicherlich die 3.Intifada folgen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert) |