Von Tripoli bis
Sderot
Uri Avnery, 26.5.07
DIE BLUTIGEN Schlachten, die rund
um das Flüchtlingslager Nahr-al-Bared in der Nähe von Tripoli im
Libanon ausgebrochen sind, erinnern uns daran, dass das
Flüchtlingsproblem nicht verschwunden ist. Im Gegenteil: 60 Jahre
nach der „Nakba“, der palästinensischen Katastrophe von 1948, liegt
es wieder weltweit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Es ist eine offene Wunde. Jeder,
der glaubt, dass eine Lösung des israelisch-arabischen Konfliktes
möglich ist, ohne diese Wunde zu heilen, betrügt sich selbst.
Von Tripoli nach Sderot, von Riad
nach Jerusalem wirft das palästinensische Flüchtlingsproblem
weiterhin seine Schatten über die ganze Region. In dieser Woche
waren die Medien wieder voller Fotos mit israelischen und
palästinensischen Flüchtlingen, die aus ihren Häusern flohen, und
von Müttern, die um ihre Lieben – auf hebräisch und arabisch –
trauerten, als wäre seit 1948 nichts geschehen.
DER NORMALE Israeli zuckt mit den
Achseln, wenn er mit dem Leiden der palästinensischen Flüchtlinge
konfrontiert wird, und begleitet dies mit den sechs Worten: „Sie
haben ihr Unglück selbst verschuldet .“
Gebildete Professoren und auch
Hausierer wiederholen, die Palästinenser seien an ihrer
Niederlage selbst schuld, als sie 1947 den Teilungsplan der UN zu
akzeptieren sich weigerten und einen Krieg begannen, um die jüdische
Gemeinschaft im Lande zu vernichten.
Das ist ein tief sitzender Mythos,
einer der grundlegenden Mythen im israelischen Bewusstsein.
Aber es war nicht so.
Zunächst einmal gab es in jener
Zeit keine palästinensische nationale Führung, die eine Entscheidung
hätte treffen können.
Während des arabischen Aufstandes
von 1936 bis 1939 (in Israel pflegt man von „Scherereien“ zu
sprechen), tötete der Großmufti Haj Amin al-Husseini, der damalige
Führer der palästinensischen Araber, die meisten prominenten
Palästinenser, die seine Autorität nicht akzeptierten. Dann floh er
aus dem Land, und die übrigen palästinensischen Führer wurden von
den Briten auf eine entfernte Insel verbannt.
Als die Stunde des Schicksals kam
und die Vereinten Nationen den Teilungsplan annahmen, gab es keine
palästinensische Führung, die in der Lage war, in der einen oder
anderen Weise eine Entscheidung zu treffen. Stattdessen entschieden
die Führer der benachbarten arabischen Staaten, ihre Armeen ins Land
zu schicken, sobald das britische Mandat beendet sein würde.
Es stimmt, dass der größte Teil des
palästinensischen Volkes gegen den Teilungsplan war. Es war davon
überzeugt, dass ganz Palästina sein Erbteil sei und dass die erst
vor kurzem ins Land gekommenen Juden gar kein Recht auf das Land
hatten. Dies um so mehr, als die UN den Juden, die nur ein Drittel
der Bevölkerung darstellten, 55% des Landes zuteilten. Selbst in
diesem Gebiet stellten die Araber 40% der Bevölkerung dar.
(Um der Fairness willen sollte
erwähnt werden, dass das den Juden zugesprochene Land den Negev mit
einschloss – eine große Wüste, die damals so öde und trostlos war,
wie sie bis heute größtenteils geblieben ist.)
Die jüdische Seite akzeptierte die
Entscheidung der UN – aber nur scheinbar. Bei geheimen Treffen
verbarg David Ben Gurion seine Absicht nicht, die erste sich
bietende Gelegenheit zu nutzen, das Gebiet, das für den jüdischen
Staat gedacht war, zu vergrößern und eine überwältigende jüdische
Mehrheit in ihm sicher zu stellen. Der Krieg von 1948, der von
arabischer Seite begonnen wurde, schaffte eine Gelegenheit, beide
Ziele zu erlangen: Israel kam von 55% auf 78% des Landes, und dieses
Gebiet wurde vom größten Teil der arabischen Einwohner „frei“
gemacht. Viele flohen vor den Schrecken des Krieges, viele andere
wurden von uns vertrieben. Fast niemandem wurde erlaubt, nach dem
Krieg zurückzukehren.
Im Laufe des Krieges wurden etwa
750,000 Palästinenser zu Flüchtlingen. Die natürliche Vermehrung
verdoppelt ihre Zahl alle 18 Jahre und so nähert sich ihre Zahl
jetzt den fünf Millionen.
Dies ist eine ungeheure menschliche
Tragödie, eine humanitäre Angelegenheit und ein politisches Problem.
Manchmal sah es so aus, als würde
das Problem mit der Zeit von alleine verschwinden – aber immer
wieder reckt es seinen Kopf in die Höhe.
VIELE SEITEN haben dieses Problem
für ihre eigenen Ziele ausgenützt. Verschiedene arabische
Regierungen versuchten dies auch verschiedentlich für ihre Zwecke
zu instrumentalisieren.
Das Schicksal der Flüchtlinge ist
von Land zu Land verschieden. Jordanien hat ihnen die
Staatsbürgerschaft verliehen, hält
aber viele in elenden Lagern fest. Die Libanesen haben ihnen
überhaupt keine zivilen Rechte zugestanden und begingen einige
Massaker. Fast alle palästinensischen Führer fordern die
Verwirklichung der UN-Resolution 194, die vor 59 Jahren angenommen
wurde und die den Flüchtlingen eine Rückkehr zu ihren Häusern als
friedliche Bürger zugestand.
Nur wenigen fiel auf, dass das
Rückkehrrecht den Regierungen Israels als Vorwand diente, alle
Friedensinitiativen ( von arabischer Seite) zurückzuweisen. Die
Rückkehr von fünf Millionen Flüchtlingen würde das Ende Israels als
ein Staat mit solider hebräischer Mehrheit beenden und ihn zu einem
bi-nationalen Staat werden lassen – was mindestens 99,99% der
israelisch-jüdischen Bevölkerung vehement ablehnt.
Dies muss einem klar sein, wenn man
verstehen will, wie Israelis den Frieden sehen. Ein normaler
Israeli, selbst eine anständige Person, die sich ernsthaft den
Frieden wünscht, sagt sich: Die Araber werden nie das Rückkehrrecht
aufgeben, deshalb gibt es keine Chance für einen Frieden. Und
deshalb ist es sinnlos, in dieser Richtung überhaupt etwas zu tun.
DESHALB WURDE das
Flüchtlingsproblem – paradoxerweise - zu einem Instrument für jene
Israelis, die gegen jeden Frieden sind, der sich auf einen
Kompromiss gründet. Sie beziehen sich auf die Tatsache, dass fast
kein arabischer Führer es wagen würde, offen auf das Rückkehrrecht
zu verzichten. In privaten Gesprächen erkennen viele arabische
Führer an, dass die Rückkehr unmöglich sei, aber sie bestätigen es
nicht offen. Wenn sie es täten, würde dies für sie politischer
Selbstmord bedeuten – es wäre genau so selbstmörderisch für einen
israelischen Politiker, der es wagen würde, seine Bereitschaft zu
verkünden, Flüchtlinge zurückkehren zu lassen.
Trotz alle dem hat sich in den
letzten Jahren auf der arabischen Seite eine noch kaum wahrnehmbare
Bewegung bemerkbar gemacht. Es hat Hinweise gegeben, dass Israels
demographisches Problem nicht ignoriert werden könne. Hier und dort
sind kreative Lösungen vorgeschlagen worden. (Bei einer öffentlichen
Versammlung von Gush Shalom sagte ein palästinensischer Redner
einmal: „Heute beträgt die arabische Minderheit 20% der israelischen
Bürger. Lasst uns also darin übereinkommen, dass für jeweils 80
jüdische Immigranten 20 palästinensischen Flüchtlingen erlaubt wird,
zurück zu kommen. Auf diese Weise würde das gegenwärtige Verhältnis
beibehalten.“ Das Publikum reagierte begeistert.)
NUN
HAT eine revolutionäre Entwicklung stattgefunden. Die Arabische Liga
hat Israel einen Friedensplan angeboten: alle 22 arabischen Staaten
würden Israel anerkennen und diplomatische und wirtschaftliche
Beziehungen mit ihm aufnehmen, wenn sich Israel dafür aus den
besetzten Gebieten zurückziehe und die Errichtung eines
palästinensischen Staates möglich mache.
Das Angebot ignorierte das
Flüchtlingsproblem nicht. Es erwähnte wieder die UN-Resolution 194,
fügte aber ein Wort von fundamentaler Bedeutung hinzu: dass die
Lösung durch ein „Übereinkommen“ zwischen beiden Parteien erreicht
werden sollte. In andern Worten: Israel würde das Recht des Vetos
über die Rückkehr der Flüchtlinge in israelisches Territorium haben.
Dies bringt die israelische
Regierung in ein Dilemma. Wenn die israelische Öffentlichkeit
verstehen würde, dass die ganze arabische Welt ein Friedenabkommen
anbietet, ohne auf der tatsächlichen Realisierung des Rückkehrrechts
zu bestehen, dann würde sie dieses Angebot mit Freude aufnehmen.
Deshalb wird alles getan, um dieses entscheidende Wort undeutlich zu
machen. Die gesteuerten (und irre geleiteten) israelischen Medien
betonen die Tatsache, dass der Plan die Resolution 194 erwähnt, aber
sie spielen die Tatsache herunter, dass es sich um eine Lösung mit
Übereinkunft handelt.
Die Regierung behandelt das
arabische Angebot mit offenkundiger Verachtung, versucht aber
trotzdem Vorteile daraus zu ziehen. Ehud Olmert verkündigt seine
Bereitschaft, mit einer arabischen Delegation zu reden –
vorausgesetzt, sie besteht nicht nur aus Ägyptern und Jordaniern.
Auf diese Weise hoffen Olmert und Zipi Livni, ein bedeutsames
politisches Ziel zu erreichen, ohne dafür etwas zahlen zu müssen.
Sie wollen Saudi Arabien und andere Staaten zwingen, anzufangen, mit
Israel Beziehungen zu knüpfen. Da es aber nichts umsonst gibt,
weigern sich die Araber. Also kam bei der ganzen Affäre nichts
heraus.
WENN IRGENDWER Israel am 4. Juni
1967 diesen arabischen Friedensplan angeboten hätte – also einen Tag
vor dem Sechs-Tage-Krieg – dann hätten wir gedacht, die Tage des
Messias seien angebrochen. Jetzt betrachtet unsere Regierung dieses
Angebot wie einen listigen Trick. Die Araber sind tatsächlich
bereit, auf die Rückkehr der Flüchtlinge zu verzichten, wollen uns
aber zwingen, die besetzten Gebiete aufzugeben und die Siedlungen
aufzulösen.
Historisch gesehen, ist die Arabische Liga dabei, einen vor 40
Jahren begangenen Fehler zu korrigieren, was weitreichende
Konsequenzen hätte. Bald nach dem Sechs-Tage-Krieg, am 1. September
1967, versammelten sich die Herrscher der arabischen Staaten in
Khartum und beschlossen die „drei Neins“: Nein zum Frieden mit
Israel, Nein zur Anerkennung Israels, Nein zu Verhandlungen mit
Israel.
Man kann verstehen, warum solch
eine in die Irre führende Resolution angenommen wurde. Die
arabischen Länder hatten gerade eine demütigende militärische
Niederlage hinnehmen müssen. Sie wollten ihren Völkern und der Welt
aber beweisen, dass sie nicht auf die Knie
gezwungen worden sind. Sie wollten ihre nationale Würde
aufrecht halten. Für die israelische Regierung wiederum war es ein
Geschenk des Himmels.
Diese Resolution befreite sie
davon, Verhandlungen führen zu müssen, die sie möglicherweise
gezwungen hätte, die Gebiete zurückzugeben, die sie gerade erobert
hatte. Diese Resolution gab ihnen grünes Licht zum Bau der
Siedlungen, ein Unternehmen, das unbehindert bis zum heutigen Tag
weitergeht und so den Palästinensern den Boden untern den Füßen
wegzieht. Und natürlich fegt sie auch das Flüchtlingsproblem vom
Tisch.
Der neue Vorschlag der Arabischen
Liga könnte den der palästinensischen Sache zugefügten Schaden von
Khartum wieder gut machen. Die ganze arabische Welt hat nun eine
realistische Resolution angenommen. Von jetzt an ist es die
Aufgabe, die israelische Öffentlichkeit zu gewinnen, die volle
Bedeutung dieses Vorschlages zu begreifen, besonders seine Bedeutung
hinsichtlich der Rückkehr der Flüchtlinge. Diese Aufgaben ruhen
nicht nur auf den Schultern der israelischen Friedenskräfte, sondern
auch auf der arabischen Führung.
UM DIESES Ziel zu erreichen, muss
das Flüchtlingsproblem in die Realität geholt werden. Es muss einen
Prozess der Entmythologisierung durch machen.
Im
Augenblick sieht sich ein Israeli nur einem Alptraum gegenüber: Fünf
Millionen Flüchtlinge warten nur darauf, Israel zu überfluten. Sie
werden ihren Landbesitz zurückfordern, auf dem jetzt israelische
Städte und Dörfer stehen. Sie werden ihre Häuser zurückfordern, die
entweder schon vor langer Zeit zerstört wurden oder von Israelis
bewohnt sind. Israel als ein Staat mit hebräischer Mehrheit wird
verschwinden.
Diese Angst muss neutralisiert,
und diese Wunde muss geheilt werden. Auf psychologischer Ebene
müssen wir unsere Verantwortung für jenen Teil des Problems
anerkennen, der wirklich von uns verursacht worden ist. Eine
„Komitee für Wahrheit und Versöhnung“ könnte vielleicht die
Dimensionen dieses Teiles bestimmen. Wir müssen uns ehrlich
entschuldigen, wie sich andere Nationen für die von ihnen
begangenen Ungerechtigkeiten entschuldigt haben.
Auf der praktischen Ebene muss das
reale Problem von fünf Millionen Menschen gelöst werden. Alle haben
ein Recht großzügiger Wiedergutmachung, die sie in die Lage
versetzt, irgendwie ein neues Leben zu beginnen. Diejenigen, die mit
dem Einverständnis der Regierung dort bleiben wollen, wo sie sind,
werden die Möglichkeit haben, für ihre Familien ein neues Leben
aufzubauen. Diejenigen, die im zukünftigen Staat Palästinas leben
wollen – vielleicht in den Gebieten, in denen die Siedlungen
aufgelöst würden - müssen die notwendige internationale Hilfe
bekommen. Ich persönlich glaube, dass es für uns gut sein würde,
wenn eine gewisse mit einander abgestimmte Anzahl von Flüchtlingen
nach Israel selbst zurückkommen würde – als symbolischer Beitrag zur
Beendigung der Tragödie.
Das ist weder ein Traum noch ein
Alptraum. Wir sind schon mit schwierigeren Aufgaben fertig
geworden. Es würde viel leichter und billiger sein, als einen Krieg
fortzuführen, für den es keine militärische Lösung und kein Ende
gibt.
Vor 60 Jahren wurde ein tiefe Wunde
geschlagen. Seitdem ist sie nicht geheilt. Sie infiziert unser Leben
und gefährdet unsere Zukunft. Es wird höchste Zeit, sie zu heilen.
Das ist die Lektion von Tripoli im Norden und Sderot im Süden.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)