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Ein bewaffnetes Ghetto
Uri Avnery,
28.6.14
DIE TERRORISTEN der
einen Seite sind die Freiheitskämpfer der anderen Seite. Das ist
nicht einfach ein Problem der Terminologie. Es ist ein Unterschied
der Wahrnehmung, die weitreichende praktische Konsequenzen hat.
Denken wir z.B. an
die Häftlinge!.
Für den
Freiheitskämpfer ist das Erreichen der Befreiung verhafteter
Kameraden eine heilige Pflicht, für die er sein Leben zu opfern
bereit ist. Eine der gewagtesten Heldentaten des Untergrunds „Irgun“
( der ich als sehr junges Mitglied eine Zeit lang angehörte), war
der gewalttätige Angriff auf das britische Gefängnis in der
Kreuzfahrerburg in Acco und die Befreiung Hunderte Gefangener. Von
unseren Kolonialherren wurde dies als niederträchtiger
terroristischer Akt angesehen.
Dies sollte unserer
gegenwärtigen Regierung klar sein, die sich auf die Likudpartei
gründet, die ursprünglich von früheren Irgun-Kämpfern gegründet
wurde. Jedoch ist das schon lange her, und die gegenwärtigen
Politiker vom rechten Flügel und die Offiziere sind eine schlechte
Kopie unserer früheren britischen Kolonialherrscher. Sie haben
keine Ahnung, wie die Militanten denken.
Dies ist das
Kernstück des Vorfalles, der Israels Leben während der letzten
beiden Wochen beschäftigt hat.
UM ZEHN Uhr abends
standen vor zwei Wochen drei Teenager von einer
Siedlerreligionsschule (Jeshiva) nahe Hebron allein an einer
Straßenkreuzung und versuchten, per Anhalter zu ihren Siedlungen
nach Hause zu kommen. Seitdem sind sie verschwunden.
Sofort wurde ganz
logisch vermutet, dass sie von einer palästinensischen Gruppe
entführt worden seien, um einen Gefangenen –Austausch durchzuführen.
Bis jetzt hat keine bekannte Organisation Verantwortung übernommen,
und keine Forderungen sind vorgebracht worden.
Das ist nicht
dasselbe wie die Gefangennahme des Soldaten Gilad Shalit vor einigen
Jahren. Shalit wurde im Gazastreifen festgehalten, das dicht von
Palästinensern bevölkert und total von der Hamas kontrolliert wird.
Die Westbank auf der anderen Seite ist voll israelischer Siedlungen
und es ist nur eine leichte Übertreibung, wenn man sagt, jeder
zehnte Palästinenser dort sei ein israelischer Informant. 47 Jahre
Besatzung haben dem israelischen Sicherheitsdienst unzählbare
Möglichkeiten gegeben, die Palästinenser in ihren Dienst zu nehmen:
durch Erpressung, Bestechung und andere Mittel
DIE
NETANJAHU-Regierung sah in diesem Vorfall sofort eine günstige
Gelegenheit
Ohne den geringsten
Beweis, (so weit wir es wissen) klagte sie die Hamas an. Am
nächsten Tag ging eine riesige doppelte Operation in Aktion (Es gab
wegen der Inkompetenz der Polizei eine kleine Verzögerung.) Viele
tausend Soldaten wurden beschäftigt, das Gebiet zu durchkämmen und
Hausdurchsuchungen durchzuführen Aber zur selben Zeit begann eine
noch größere Operation, die offensichtlich schon lange im Voraus
vorbereitet war, ein Versuch, die Hamas in der Westbank zu
vernichten.
Nacht für Nacht wurde
jeder, der die geringste Verbindung zu Hamas hatte, verhaftet.
Gruppen von schwer bewaffneten Soldaten brachen nachts in die Häuser
der Leute, stießen die erschrockenen Frauen und Kinder zurück,
zogen die Männer aus ihren Betten, nahmen sie mit, legten
Handschellen um und verbanden ihnen die Augen.
Sie zählten viele
hundert – Sozialarbeiter, Lehrer, Prediger, jeden, der zum großen
sozialen und politischen Netzwerk der Hamas-Bewegung gehört.
Unter den Verhafteten
waren viele, die beim Gefangenentausch von Shalit entlassen worden
waren. Die israelisch politische und Geheimdienst-Führung waren mit
diesem einseitigen Austausch (eine Geisel gegen mehr als tausend
Gefangene) nur unter immensem öffentlichen Druck damit
einverstanden und hatte offensichtlich entschieden, bei der
nächstbesten Gelegenheit sie wieder ins Gefängnis zurückzuholen.
Nicht zufällig gab
man diese Woche bekannt, dass einer dieser entlassenen Gefangenen
angeklagt worden war, vor einigen Monaten einen Israeli getötet zu
haben. Es muss vermutet werden, dass die meisten Gefangenen dankbar
sind, nach Jahrzehnten zu ihren Familien zurückzukehrten, doch
kehrten einige der Entschiedensten zur militanten Aktivität zurück.
Die Bemühung, die
Hamas zu vernichten, ist töricht. Die Hamas ist eine religiöse
Bewegung, die in den Herzen ihrer Anhänger besteht. Wie viele kann
man verhaften?
WÄHREND DIESER zwei
Wochen zeigte sich Israel von der schlechtesten Seite – wie in einem
bewaffneten Ghetto, ohne Mitgefühl für andere und unfähig,
vernünftig zu denken.
Gut, die erste
Reaktion war nicht einheitlich. Ich habe verschiedene Leute auf der
Straße die drei vermissten jungen Siedler verfluchen gehört wegen
ihrer stupiden Arroganz: stehen sie da im Dunkel der Nacht, mitten
in den besetzten Gebieten und klettern in einen fremden Wagen. Aber
solch unfromme Gefühle waren bald von einer riesigen Welle
Gehirnwäsche weggewaschen, die beinahe unvermeidlich war.
Es ist ein
universaler Trend unter Völkern, die sich in einer nationalen
Notlage befinden, sich zu vereinigen. In Israel wird dies durch den
Ghetto-Reflex verstärkt, der sich in Jahrhunderten der Verfolgung
bildete, dass Juden gegen die bösen Goyim (Nichtjuden)
zusammenstehen.
Die sintflutartige
Regierungspropaganda nahm unglaubliche Proportionen an. Fast alle
Zeitungsseiten waren den militärischen Operationen gewidmet. Radio
und Fernsehen brachten die ganze Berichterstattung rund um die Uhr
24 Stunden täglich, Tag für Tag.
Das journalistische
Establishment wurde von „militärischen Korrespondenten“ geführt--
fast alle von ihnen frühere Armeenachrichtendienste, die als
Armeesprecher-Agenten handelten und Armee-Kommunikationen als ihre
eigene Veröffentlichung und Ansichten weitergaben. Kein Unterschied
zwischen den verschiedenen Radio und TV-Stationen und Zeitungen
konnte herausgefunden werden. Wenn einige liberale Kommentatoren
wagten, ein Wort Kritik zu äußern, waren sie zum Verstummen gebracht
und das sehr leise nur kleine Details betreffend.
DURCH ZUFALL kam zur
selben Zeit ein Gesetzentwurf in die Knesset. Er würde jeden
Gefangenenaustausch illegal machen – ein seltener Fall einer
Regierung, die sich selbst die Hände fesselt. Er verbietet der
Regierung, Sicherheitsgefangenen Amnestie zu geben oder um einen
Gefangenenaustausch zu verhandeln.
Dies bedeutet für die
Geiseln den Tod.
In ihrer
unglaublichen Naivität – um nicht Dummheit zu sagen – glauben
Politiker, dass dies vor Geiselnahme abschrecken würde. Jeder mit
nur wenig Verständnis für militante Mentalität weiß, dass die
Wirkung genau das Gegenteil sein würde: noch mehr Geiseln nehmen,
den Druck vermehren, um Gefangene zu befreien.
Das Leben von Geiseln
würde tatsächlich sehr billig werden. Die augenblickliche Bemühung
der Geheimdienste und der Armee, den Ort der drei Entführten zu
entdecken, würde - falls erfolgreich – zu einer Aktion führen, die
sie mit Gewalt befreit. Wie die Erfahrung in solch einer Situation
zeigt, sind die Chancen zum Überleben der Geiseln gering. Im
Kreuzfeuer gefangen, werden sie entweder von ihren Entführern oder
– häufiger von ihren Befreiern getötet. Doch keine einzige Stimme
in Israel nennt diesen wichtigen Punkt.
Die Shalit-Familie,
gewöhnliche säkulare Israelis, waren sich dieser Gefahr, den Sohn
betreffend, akut bewusst. Nicht so die Familien der drei vermissten
Siedlerjungen, von denen alle zur extremen Rechten gehören. Sie
sind willige Agenten der Regierungspropaganda geworden; sie riefen
zu einem Massengebet auf und unterstützten die Siedlerbewegung. Ihr
Rabbiner erklärt ihnen, dass die Gefangennahme der Jugendlichen eine
Strafe Gottes sei, und zwar für die Bemühungen, religiöse
Jugendliche in der Armee dienen zu lassen.
DIE REGIERUNG ist
offensichtlich weit mehr daran interessiert, einen politischen
Propagandasieg zu erringen, als die Freilassung der Geiseln zu
sichern.
Das Hauptziel ist,
Mahmoud Abbas zu zwingen, die palästinensische Versöhnung
aufzugeben und die neue palästinensische Regierung, die nur aus
Experten besteht – zu zerstören.
Abbas widersteht. Er
wird schon weithin in Palästina denunziert, weil die
Zusammenarbeit zwischen seinen Sicherheitskräften und den
israelischen eng weitergeht, während die israelische Operation
weitergeht. Abbas spielt ein sehr gefährliches Spiel; er versucht,
all den Druck auszubalancieren. Was immer auch die politische
Meinung ist – sein Mut verdient Bewunderung.
Die israelische
Führung, die in ihrer Luftblase lebt, ist total unfähig die
Reaktion der Welt oder das Fehlen derselben zu verstehen.
Schon bevor alles
anfing, war die Anzahl der durch scharfe Munition getöteten
Palästinenser, einschließlich der Kinder während der
Demonstrationen, ständig gewachsen. Anscheinend waren Order gegeben
worden, die die Soldaten so verstanden und ihnen das Töten
leichter machte. Seit die gegenwärtige Operation begann, sind mehr
als fünf nicht kämpfende Palästinenser von der Armee getötet worden
– einige von ihnen Kinder.
In der israelischen
Ausgabe der New-York-Times war ein großer Teil der ersten Seite für
ein Bild einer palästinensischen Mutter genommen, die um ihr Kind
trauert – und nicht ein Bild mit den 3 Geiseln.
Aber als den drei
Müttern, die zu Propagandazwecken zur UN-Menschenrechts-Kommission
nach Genf geschickt worden waren, ein kühler Empfang gewährt
wurde, war die israelische Regierung erstaunt. Delegierte waren mehr
an den Menschenrechtsverletzungen durch Israel interessiert als an
den Geiseln – für viele Israelis ein weiteres offensichtliches
Beispiel für Antisemitismus in der UN.
MEHR ALS alles andere
zeigt diese Episode wieder, wie verzweifelt wir den Frieden nötig
haben. Die palästinensische Versöhnung zwischen PLO und Hamas
könnte den Frieden näher bringen – und deshalb wünschen die
israelische Rechte und besonders die Siedler, diese zu zerstören.
Ich bin davon
überzeugt, dass die Siedlungen für Israel ein Unglück sind. Aber
mein Herz blutet für die drei Jungs – zwei von ihnen 15 Jahre alt,
der dritte 19 – unter welchen Umständen sie jetzt gehalten werden,
kann man sich kaum vorstellen, falls sie noch am Leben sind.
Die beste Weise
Geiselhaft zu verhindern, ist, die Häftlinge freiwillig
freizulassen. Selbst der Sicherheitsdienst kann nicht ernsthaft
daran glauben, dass all die vielen Tausenden politischer Gefangener
jetzt in unsern Gefängnissen eine tödliche Gefahr für unsere
Existenz bedeuten.
Ein besserer Weg nach
vorne wäre, die Besatzung durch Friedenzu beenden
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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