„Hauptsache
ist, keine Angst zu haben“
Uri Avnery, 24.12.05
ETWAS SCHLIMMES
ist der Wahlkampagne von Amir Peretz geschehen: sie schleppt sich
dahin.
Die begeisternde
Welle, die mit seiner Wahl als Führer der Laborpartei begann, ist
abgeebbt. Ereignisse im Lande jagen einander: der große Paukenschlag
der neuen Kadima-Partei, die prostituierenden Akte von Shimon Peres
und Shaul Mofaz, der kleine Schlaganfall von Ariel Sharon, die
Likud-Vorwahlen , die Kassam-Raketen, die in der Nähe Ashkalons
aufschlugen. Peretz wurde an den Rand gedrängt.
Natürlich hat
die wirkliche Wahlkampagne noch gar nicht begonnen. 1999 wurde über
Barak in diesem Stadium gesagt :“Ehud schafft es nicht!“ und von da
an schwebte er zum Sieg. Trotzdem gibt die Situation Anlass zur
Sorge.
In diesen Tagen
kommen keine aufregenden Initiativen aus dem Peretz-Lager. Am
Fernsehen und am Radio produzieren die müden, alten
Labor-Politiker am laufenden Band dieselben müden, alten
Botschaften. Im Augenblick geben die Meinungsumfragen Peretz 21
Sitze, dagegen 39 Sitze für Sharon und 12 für Netanyahu.
Es bleibt nicht
mehr viel Zeit. Peretz muss kühne strategische Entscheidungen
treffen. Jetzt, sofort. Dies ist ein Test für die
Führungsqualitäten. Ein schicksalhafter Test, weil eine Niederlage
nicht nur eine Katastrophe für die Laborpartei, sondern für das
Friedenslager im ganzen und tatsächlich auch für Israel wäre.
IN DIESER
Schlacht liegt – wie wir schon einmal sagten – der Vorteil auf der
Seite, die entscheidet, wo die Schlacht ausgefochten wird. Es ist
im Interesse von Peretz, dass es in der Kampagne um soziale und
wirtschaftliche Dinge geht, während beide, Sharon und Netanyahu,
wollen, dass man in der nationalen Sicherheitsarena kämpft. Die
Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit glaubt, Peretz sei der
beste Kandidat , um die sozialen Probleme zu lösen, aber eine große
Mehrheit glaubt, nur Sharon sei fähig, für Sicherheit zu sorgen.
Die Experten um
Peretz empfehlen: sprich nur über Soziales. Sprich überhaupt nicht
über Krieg und Frieden, und falls du dies nicht vermeiden kannst,
sei unklar, verschwommen. Du musst Stimmen aus dem Zentrum sammeln
– und die Leute dort glauben nicht an Frieden.
Das klingt
logisch - ist aber trotzdem ein schlechter Rat.
VOR ALLEM erhebt
sich die Frage, ob Peretz überhaupt in der Lage ist, das soziale
Problem ins Zentrum der Kampagne zu stellen und dies seinen Gegnern
aufzuzwingen. Das ist fast unmöglich.
In Israel können
der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister mit Hilfe der
Armeekommandeure zu jeder Zeit und an jedem Ort eine gespannte
Atmosphäre schaffen. Das läuft folgendermaßen: Die Armee tötet einen
palästinensischen Militanten bei einer „gezielten Tötung“ und
erklärt, er sei eine tickende Bombe gewesen, der ein
Selbstmordattentat geplant habe. Seine Kameraden antworten mit einer
Salve Kassam-Raketen und Granaten und behaupten, dies sei die Rache.
Die Armee antwortet auf diesen „kriminellen terroristischen
Anschlag“ nicht nur mit noch mehr Morden, sondern auch mit
Artilleriefeuer und Angriffen aus der Luft. Und siehe da - schon
haben wir eine gespannte Sicherheitslage.
Es gibt mehrere
Variationen dieses Themas. Hisbollah ist immer bereit, mitzumachen
und die Nordgrenze „aufzuheizen“, wenn die israelische Armee die
leiseste Provokation liefert. Und wenn nichts vor Ort geschieht,
dann gibt es immer einen Geheimdienstoffizier, der bereit ist, Alarm
zu schlagen: Iran wird jeden Augenblick eine Atombombe haben und uns
direkt nach Alaska befördern.
Sharon und Mofaz
haben weder ein moralisches noch praktisches Problem, blutige
Schlagzeilen zu liefern. Einer von Peretz’ Beratern sprach dies auch
tatsächlich im Fernsehen aus, wurde aber sofort von seinen Kollegen
zurückgepfiffen. Wie kann man die Armee nur in dieser Weise
verleumden? Während der Wahlkampagne wird dies zu einem Bumerang
werden. Und wie gewöhnlich müssen wir, wenn die Nationalflagge
gehisst wird, stramm stehen und salutieren. ( Es war ausgerechnet
Vladimir Jabotinsky, der geistige Vater des Likud, der einmal
sagte: „Ich werde nicht stramm stehen, wenn jemand die Nationalhymne
singt und gleichzeitig meine Taschen leert!“)
Wenn der
Eindruck sich verbreitet, dass Peretz keine überzeugende Lösung für
die bestehenden Probleme hat oder - was noch schlimmer ist – dass
er eine Lösung weiß, aber sich fürchtet, sie auszusprechen, dann ist
seine Glaubwürdigkeit als Kandidat für das Amt des
Ministerpräsidenten gleich Null.
Es gibt keine
andere Wahl. Er muss die Sache klar aussprechen. Und da gibt es
nichts, wovor man sich fürchten sollte.
NEHMEN WIR das
Jerusalem-Problem.
Seit vielen
Jahren wiederholen alle israelischen Regierungen das Mantra: „Das
vereinigte Jerusalem ist die ewige Hauptstadt Israels“. Netanyahu
hat eine schlechte Gewohnheit, alle seine Gegner – von Shimon Peres
1996 bis Sylvan Shalom vor einer Woche - eines unheimlichen Planes
anzuklagen: „Jerusalem zu teilen“.
Vor zwei Wochen
gab Amir Peretz seinen Beratern nach und wiederholte dieses heilige
Mantra: auch er sei für das vereinigte Jerusalem, Hauptstadt
Israels, in alle Ewigkeit. Amen.
Das ist ein
verlogenes Statement.( Jedes Kind weiß, dass es keinen Frieden
geben wird, wenn Ostjerusalem nicht die Hauptstadt eines
palästinensischen Staates wird. Peretz weiß dies besser als die
meisten anderen.) Ja, schlimmer noch: es ist ein dummes
Statement.
Das wurde am
nächsten Morgen klar, als Israels größtes Massenblatt, Yedioth
Aharonot, eine Meinungsumfrage veröffentlichte, die die Politiker
schockierte: 49% der israelischen Öffentlichkeit ist bereit, die
Teilung Jerusalems zu akzeptieren, 49 % sind dagegen. Da ein
normaler Mensch zögert, eine Antwort zu geben, die gegen den
angenommenen Konsens geht, scheint es, die Mehrheit sei nun mit der
Teilung der Stadt einverstanden.
Ich selbst war
überhaupt nicht überrascht. Nachdem vor acht Jahren Gush Shalom ein
revolutionäres Manifest veröffentlicht hatte: „Das vereinigte
Jerusalem, Hauptstadt von zwei Staaten“, sprach ich mit einem
Taxifahrer darüber. Da die meisten Taxifahrer Super-Patrioten sind,
war ich nicht überrascht, als er „Nein, niemals!“ ausrief. Aber
seine Erklärung überraschte mich: „Ich will kein vereinigtes
Jerusalem! Ich will, dass die Araber aus meinem Blickfeld
verschwinden. Lasst sie doch ihre Stadtteile in Jerusalem zum Teufel
nehmen oder zu einem palästinensischen Staat, es ist mir völlig
egal!“
Schon damals
brachen wir das Tabu, das Jerusalem umgab. Innerhalb weniger Wochen
unterzeichneten 800 Künstler, Schriftsteller, Dichter und Akademiker
das Manifest und Tausende von Bürgern aus allen sozialen Schichten
und Berufen fügten ihre Unterschrift hinzu. Im Jahr 2000, als man
(irrtümlicherweise) annahm, Ehud Barak wäre dabei, in Camp David
Ostjerusalem „aufzugeben“, gab es keinen Aufschrei im Lande. Bill
Clintons Jerusalemformel vom Januar 2001: „Was arabisch ist, soll
palästinensisch werden und was jüdisch ist, soll zu Israel gehören“
– ist von vielen angenommen worden. Dies wurde auch von der Genfer
Initiative übernommen. Wenn Peretz dies offen und laut unterstützt
hätte, hätte er Punkte gewonnen.
Dies gilt auch
für die andern Probleme, die mit dem Frieden zusammenhängen.
Unklarheiten sind für Sharon gut, aber schlecht für Peretz. Seine
Stärke liegt darin, dass seine sozial-wirtschaftliche Botschaft gut
in seiner Botschaft über nationale Sicherheit integriert ist. Es
sind die beiden Seiten derselben Münze. Das ist eine erfrischende
und neue Botschaft für die meisten. Eine richtige und moralische
Botschaft und auch eine gute Wahltaktik.
EINE PERSÖNLICHE
Bemerkung: damit ich nicht verdächtigt werde, wie ein unerfahrener
Kommentator, der niemals tatsächlich Verantwortung trug, meine
Meinung zu äußern, möchte ich darauf hinweisen, dass ich selbst fünf
Wahlkampagnen für die Knesset geleitet habe und bei vieren Erfolg
hatte. Es waren zwar nur kleine Parteien, ohne Geld und Apparat -
aber was die Probleme und den Druck betreffen, war der Unterschied
nicht so groß.
Man fühlt, dass
die Leute jetzt von Täuschungsmanövern die Nase voll haben. Die
Wähler werden immer misstrauischer. Dieses Mal noch mehr als sonst.
Sie wollen klare Botschaften hören. Und tatsächlich, nach all den
Aufregungen der letzten Wochen taucht ein Bild auf, das den Wähler
mit einer klaren Wahl zwischen drei Optionen zeigt:
- Auf dem rechten Flügel hat
sich der Likud - unter Netanyahus Führung – klar zum radikalen Rand
verschoben. Netanyahu wird nun versuchen, eine „moderate“ Maske
aufzusetzen, was ihm aber nichts nützen wird. Die Partei schließt
nicht nur offen faschistische Gruppen ein, sondern es ist klar, dass
der ganze Likud dagegen ist, irgend einen Teil von Eretz Yisrael
„aufzugeben“, womit der Frieden von der Agenda gestrichen ist.
- In der Mitte die neue
Kadima-Partei - unter Sharons Führung - hat den Gedanken von
Groß-Israel im ganzen historischen Land aufgegeben, ist aber gegen
einen wirklichen Kompromiss mit den Palästinensern, der mit
Verhandlungen und Abkommen erreicht wird. Sharon will mit Gewalt
neue bleibende Grenzen für Israel durchsetzen und den größten Teil
der Westbank und ganz Ostjerusalem annektieren.
- Auf dem linken Flügel, Labor –
unter Peretz’ Führung – schlägt Verhandlungen mit den Palästinensern
vor, um einen Frieden durch Kompromiss zu erreichen.
Peretz wird keine Chance haben, wenn er den Eindruck
erweckt, es gäbe keinen wirklichen Unterschied zwischen ihm und
Sharon . Er muss die „Flüchtlinge“ der Laborpartei, die von Sharon
angezogen werden, davon überzeugen, dass es einen Riesenunterschied
zwischen seinem Programm (Verhandlungen und Abkommen) und dem von
Sharon gibt (einseitiges Diktat). Sharon ist daran interessiert,
diesen Unterschied herunterzuspielen, und aus derselben Logik heraus
muss Peretz daran interessiert sein, ihn zu betonen.
Leute, die Zweideutigkeit lieben, werden Sharon
wählen. Aber ein großer Teil der Leute – besonders im Zentrum –
sehnt sich nach einer kühnen Führung mit einer klaren Botschaft.
Hier – und nur hier! – liegt Peretz’ große Chance.
Wie Rabbi Nachmann von Braslav vor vielen Jahren
sagte: „Die ganze Welt ist wie eine schmale Brücke, und die
Hauptsache ist, überhaupt keine Angst zu haben!“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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