Schurke mit Genehmigung
Uri Avnery, 14.11.09
WENN DIE Tagesschau im Fernsehen mit einem Mord beginnt, atmen die
Menschen hier erleichtert auf.
Weil dann kein Krieg ausgebrochen ist, kein Selbstmordattentat
stattfand und keine Qassamrakete nach Sderot abgefeuert worden ist.
Ahmadinejad hatte keine neue Rakete getestet, die Tel Aviv erreichen
kann. Es ist nur ein Mord.
Das heißt nicht, dass Israel die Hauptstadt des Mordes ist. Wir
müssten uns viel mehr bemühen, die hohe Mordrate von New York oder
Moskau zu erreichen, geschweige denn die von Johannisburg.
Statistiken zeigen sogar, dass die Mordrate bei uns sinkt.
Aber in letzter Zeit ist Israel von einer Serie außergewöhnlich
brutaler Morde geschockt worden. Ein Ehemann nahm Rache an seiner
Frau, tötete seine kleine Tochter und begrub sie in einem Wald. Ein
Mann, der mit der Frau seines Sohnes zusammenlebte, tötete ihre
Tochter, seine eigene kleine Enkeltochter, legte ihren Körper in
einen Koffer und warf diesen in Tel Avivs Yarkonfluss. Ein Sohn, der
sich mit seiner Frau stritt, tötete sie und ihre Mutter, zerteilte
die Leichen und entsorgte sie in Müllbehältern. Ein junger Mann,
der mit seiner Mutter einen Streit hatte, tötete sie und ging dann
hin, um auch seinen Bruder zu töten. Ein alter Mann tötete nachts
mit einem Hammer seine Frau im Schlaf.
In
den letzten Wochen gab es zwei Fälle, die sogar diese
Scheußlichkeiten übertrafen.
Damian Karlik, ein Immigrant aus Russland, arbeitete als Oberkellner
in einem russischen Lokal, wurde wegen Diebstahls entlassen und
entschloss sich, sich an den Besitzern, russischen Immigranten wie
er, zu rächen. Er ging zu ihrer Wohnung und erstach sechs Personen,
eine nach der anderen, den Besitzer und seine Frau, ihren Sohn,
seine Frau und ihre zwei kleinen Enkelkinder.
Ein Immigrant aus den USA mit Namen Jack Teitel, Bewohner einer der
extremsten Siedlerkolonien in der Westbank, hat jetzt gestanden,
dass er vor Jahren aufs Geratewohl zwei Palästinenser umgebracht
hat. Er kehrte kurz in die USA zurück. Nachdem er zurückgekommen
war, legte er Bomben in Polizeiwagen. Warum? Weil die Polizei
Schwule und Lesben schütze. Er wird auch verdächtigt, aus dem selben
Grund zwei Verkehrspolizisten getötet zu haben. Er rühmte sich auch
des Massenmordes an Homosexuellen in einem Tel Aviver Club (das mag
aber nur Prahlerei gewesen sein). Er legte eine Bombe in die Wohnung
von messianischen Juden (Juden, die Jesus als Messias ansehen) und
verletzte dabei einen 15Jährigen schwer. Er versuchte, den linken
Professor Ze’ev Sternhell mit einer weiteren Bombe umzubringen, und
verletzte ihn.
DAS BESONDERE an diesen beiden Fällen ist, dass neue
Immigranten, die nach Israel einwandern dürfen, darin verwickelt
sind, obwohl gegen sie schon in ihrem Herkunftsland wegen
Verbrechen ermittelt wurde.
Das Rückkehrgesetz gesteht jedem Juden das Recht der Einwanderung („Aliya
machen“) nach Israel zu , wo sie automatisch bei der Ankunft die
israelische Staatsbürgerschaft erhalten. Aber selbst nach diesem
Gesetz könnte der Innenminister diese Leute zurückweisen, die
schwerwiegender Verbrechen bezichtigt werden.
Dies macht den Fall Karlik so besonders interessant. Er war in
Russland des bewaffneten Raubüberfalls verdächtigt worden, aber die
Organisation, die in Russland Einwanderungs-genehmigungen vergibt,
behauptete, sie hätte davon nichts gewusst.
Diese Organisation Nativ („Pfad“) war in der Vergangenheit in
Sowjetrussland als eine der israelischen Geheimdienste tätig wie der
Mossad und der Shin Beth. Ihr besonderer Job war es, die jüdischen
Gemeinden zu unterwandern und Juden dazu zu überreden, nach Israel
zu kommen.
Abgesehen davon, war Nativ natürlich auch mit Spionage befasst. Es
ist kein Geheimnis, dass jahrzehntelang Immigranten aus der
Sowjetunion bei ihrer Ankunft vom Shin Beth ausgefragt wurden, was
sie über das Militär, die Wirtschaft und andere Einrichtungen in
ihrer früheren Heimat wussten. Die so gesammelten wertvollen
Informationen gaben Israel bei den westlichen Nachrichtendiensten
einen hohen Rang.
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes sollte Nativ
aufgelöst werden, aber wie jede bedrohte Organisation kämpfte sie
um ihr Leben. Man entschied, sie intakt zu lassen und sie in allen
früheren Sowjetrepubliken mit der Einwanderung nach Israel zu
beauftragen. Sie sollten jetzt absichern, dass die Immigranten nach
dem religiösen Gesetz koschere Juden seien.
Die religiösen Referenzen der Immigranten interessiert dagegen
Nativ viel mehr als kriminelle Strafregister, über das sie
womöglich selbst verfügen. Es scheint, dass Nativ keine Kontakte mit
der russischen Polizei hat, die sie wahrscheinlich wiederum anderer
Aktivitäten verdächtigt.
So
geschieht es, dass man eine Person wie Karlik, jemand, gegen den
wegen gewalttätigen Raubes ermittelt wurde, für die Einwanderung
geeignet fand. Sein ethnischer Stammbaum war tadellos. Nach seiner
Ankunft in Israel beantragten die russischen Behörden offiziell
seine Auslieferung wegen Raubes; aber die Forderung wurde
zurückgewiesen. Dem entkommenen Räuber wurde sogar eine
Waffenlizenz erteilt und ihm erlaubt, als Wächter zu arbeiten.
Teitels Fall ist ähnlich. In den USA gibt es zwar keine Nativ, aber
die Logik derer, die dort den Auftrag haben, zur Einwanderung nach
Israel zu ermuntern, ist dieselbe: Immigranten zu bringen, ohne
unnötige Fragen zu stellen. Nach dem religiösen Gesetz bleibt ein
Jude ein Jude, auch wenn er sündigt.
DIESE AFFÄREN werfen ein Licht auf eines der leitenden Prinzipien
des zionistischen Establishments: Juden nach Israel zu bringen –
unter allen Umständen und zu jedem Preis. Die Statistiken müssen in
diesem Jahr – wie in jedem anderen Jahr - eine Rekordzahl von Juden
zeigen, die „Aliyah gemacht“ haben. In vielen Gemeinden wird der
Bodensatz zusammen gekratzt, um noch mehr Juden zu bringen. Emissäre
finden „verlorene Stämme“ von Juden in Peru und Äthiopien, in Indien
und China.
In
solch einer Situation besteht eine verständliche Versuchung, die
kriminelle Vergangenheit von möglichen Immigranten zu übersehen.
Was sollte also mit einem koscheren Juden geschehen, der eine Bank
überfallen oder Kinder missbraucht hat? In Israel wird er seine
Lebensweise vielleicht ändern. Oder wenn jemand im Ausland wegen
illegalen Waffenhandels, wegen Geldwäsche oder Verkaufs von Blut
befleckten Diamanten vor Gericht gestellt wurde – er wird willkommen
geheißen. Und wenn er seine Millionen mitbringt, werden die Führer
des Staates glücklich sein, sich in seiner Gesellschaft
photographieren zu lassen.
Das stimmt natürlich nur, wenn ein Immigrant Jude nach der Halacha
( religiöses Gesetz) ist.
Wenn er ein Goy ist, dann ist die Geschichte ganz anders. Das ist
der Bereich des Führers der Shas- Partei Eli Yishai.
IN
DER gegenwärtigen israelischen Regierung gibt es mehrere Kandidaten
für den Titel Oberrassist. Eine objektive Jury hätte einige
Schwierigkeiten, unter ihnen den richtigen auszuwählen.
Favorit ist der Außenminister Avigdor Lieberman, ein „beglaubigter“
Rassist, dessen ganze politische Karriere in Israel auf Hass gegen
Araber und Ausländer aufgebaut ist. Er war es , der den Kipa
tragenden Anwalt Ya’acov Ne’eman zum Justizminister ernannte, der
jetzt eifrig damit beschäftigt ist, die außerordentlich wichtige
Position des Rechtsberaters für die Regierung (was der Funktion
eines Staatsanwaltes entspricht) abzusichern, einem Richter zu
übertragen, der in einer Yeshiva (orthodoxe Schule) erzogen wurde,
und in einer der extremsten Siedlungskolonien lebt und der wegen
einiger rechtsradikaler Urteile berüchtigt wurde. Binyamin Netanyahu
selbst ist natürlich auch ein exzellenter Kandidat.
Aber der König der Rassisten ist der Innenminister. Er ist
gefährlicher als seine Kollegen, weil er die absolute Macht über
den zivilen Status jeder Person in Israel hat, über die Ein- und
Auswanderung, das Einwohnerregister und die Vertreibung von
Ausländern. In dieser Position tut er gegenüber Ausländern genau
das, was andere in andern Ländern gegenüber Juden praktiziert haben.
Er ist unermüdlich beim Bewahren des wirklichen Israels – nicht des
„jüdischen und demokratischen Staates“ , wie er offiziell definiert
wird, sondern des „jüdischen und demographischen Staates“. Für
diesen Zweck hat er kürzlich eine spezielle Para-Polizeitruppe
geschaffen, um Ausländer ausfindig zu machen und sie zu deportieren.
Es
ist nicht einfach zu entscheiden, ob Yishai ein extremer Fanatiker
oder ein kompletter Zyniker ist oder eine seltene Kombination von
beidem. Als Shas noch eine moderate Partei war, als vor langer
Zeit ihr Guru Rabbiner Ovadya Josef entschied, es sei erlaubt, die
besetzten Gebiete zurückzugeben und ihr vorheriger Führer Aryieh
Deri der Liebling der Linken war, erklärte auch Yishai sein „Ja zu
Oslo, Ja zur Evakuierung (der Juden) aus Hebron, Ja zu Arafat!“
Aber seitdem ist viel schmutziges Wasser unsere verdreckten Flüsse
hinabgeflossen. Shas ist eine radikale Partei des rechten Flügels
geworden, und Yishai ist jetzt der extremste Rechte in der
Regierung.
Seine unerschütterliche Neigung zur Reinheit der Rasse lässt fast
Bewunderung hochkommen. Es vergeht kaum ein Tag ohne einige
schockierende Nachrichten über seine Aktivitäten. Er kämpft wie ein
Tiger für die Ausweisung von 1500 Kindern ausländischer Arbeiter,
die hier in Israel geboren wurden, Hebräisch sprechen, israelische
Schulen besucht und die keine andere Heimat haben. Yishai ist
bereit, sein Leben für ihre Ausweisung zu geben.
Der Innenminister verhindert die Einreise amerikanischer und
europäischer Bürger mit einem arabischen Namen. Offizielle der UN
und der EU, die die Verantwortung für palästinensische Projekte
haben, können normalerweise nicht von Jordanien ( oder anderswo) ins
Land einreisen, und wenn sie dann irgendwie doch den Passierschein
erhalten – ist es ihnen verboten, die Grüne Linie nach Israel zu
überqueren. Ausländische Frauen, die mit Israelis verheiratet sind,
werden gnadenlos ausgewiesen. Es gibt unzählige Beispiele dafür.
Nach Ansicht von Yishai ist jeder Sohn eines Thailänders ein Feind
des jüdischen Staates, jede Tochter eines kolumbianischen Arbeiters
eine Bedrohung für die Reinheit des jüdischen Volkes. Er erklärte,
dass die ausländischen Arbeiter eine „Infektion“ seien und warnte
davor, dass Tel Aviv „Afrika wird“. Er hat bekannt gegeben, dass
Ausländer schreckliche Krankheiten mit sich bringen wie AIDs,
Tuberkulose und ähnliches .(Und in dieser Hinsicht gleichen sie
Schwulen und Lesben, die nach Yishai, „Kranke“ seien.)
Solch eine Person würde im Kabinett der USA oder in den meisten
europäischen Ländern nicht Minister bleiben. Im Land der Nürnberger
Gesetze würde sie nicht einmal in die Nähe einer Regierungsposition
kommen.
Vor nicht langer Zeit – während der „Operation Cast Lead“ –
verlangte Yishai, dass wir „Tausende von Häusern bombardieren, um
Gaza auszuradieren“ – was ihn nicht daran hinderte, den Richter
Richard Goldstone als abscheulichen Antisemiten zu denunzieren. Er
selbst riskierte übrigens nie seine Haut als kämpfender Soldat -
dieser Nationalheld diente als Unteroffizier für religiösen Dienst
in einer Transporteinheit.
Vor 800 Jahren prägte Rabbi Moshe Ben-Nahman, Nahmanides genannt,
den Ausdruck „Von der Tora genehmigte Schurken“ – gemeint war damit
eine Person, die verabscheuungswürdige Dinge tut, die aber nicht
ausdrücklich in der Bibel verboten sind. Ich bin mir nicht sicher,
ob diese Bezeichnung für Yishai passt, da die Bibel mehr als einmal
die Misshandlung von Fremden verbietet – „ … dass ihr keine Gewalt
übt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen“ (Jer. 7,6), „ ..und hat die
Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt“ (5.Mos. 18)
und viele andere Gebote in diesem Sinne.
ABER NOCH wichtiger als Yishai selbst ist das Phänomen, das er
vertritt: die Beschwörung des demographischen Dämon, der das Land
heimsucht.
62
Jahre nach der Gründung lebt der Staat Israel noch immer in Furcht
vor der „demographischen Gefahr“. Er hat Angst vor seinen arabischen
Bürgern, und deshalb diskriminiert er sie auf jedem Gebiet. Er hat
Angst vor den vierhunderttausend Russen, die mit ihren jüdischen
Verwandten in Übereinstimmung mit dem Rückkehrgesetz ins Land kamen,
deren Mütter aber nicht jüdisch waren. Hier gibt es einen inneren
Widerspruch: während die Nativ-Agenten daran interessiert waren, die
Anzahl der Immigranten zu erhöhen, verweigern Yishai und seine
Leute genau diesen Immigranten das Recht, Juden zu heiraten oder auf
einem jüdischen Friedhof beerdigt zu werden. Sie dienen in der
Armee, aber wenn sie im Kampf gefallen sind, können sie nicht neben
ihren Kameraden beerdigt werden.
Beinahe alle jüdischen Israelis wünschen einen Staat mit einer
hebräischen Mehrheit, wo die hebräische Sprache, Kultur und
Tradition gepflegt wird. Aber viele von uns wünschen keinen Männer-
Frauen- und Kinder-jagenden Staat, abgesperrt für Asylsuchende und
wo ausländische Arbeiter, die die Gastfreundschaft länger in
Anspruch nehmen, in ständiger Angst leben wie unsere Vorfahren in
den Ghettos.
Um
diesen Dämon auszutreiben, haben wir, meine Freunde und ich – eine
Gruppe von Bürgern - vor dem Gerichtshof Anträge gestellt und darum
gebeten, dass die Angabe unter „Nation: Jüdisch“ im
Einwohnerregister des Ministeriums ersetzt werden möge durch
„Nation: Israelisch“. Unsere Anträge wurden vom Richter Noam Solberg
zurückgewiesen – also von genau jenem Richter für dessen Ernennung
zum Generalstaatsanwalt der Justizminister Berge bewegen würde.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
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