Bestechung der Siedler
Uri Avnery, 28.5.05
Es mag Länder geben, in denen
die in Staus geratenen Autofahrer sich nicht aus der Ruhe
bringen lassen. Sie wissen, sie können nichts tun und warten
darum geduldig. Sie denken ihre eigenen Gedanken, lauschen der
Musik im Radio oder lesen Zeitung, bis sich der Stau aufgelöst
hat.
Wir Israelis sind nicht so. Wir
sind eine nervöse Gesellschaft. Wir haben keine Geduld. Wenn wir
in einem Stau stecken, verfluchen wir die Welt und die
Regierung, verlangen eine Lösung, vielleicht auch eine
unbefestigte Straße, über die wir entwischen können.
Deshalb kann ich die Taktik der
Siedler so schwer verstehen, die den Verkehrsstau als ihre
Hauptwaffe benützen. Wenn sie glauben, dass sie mit dem
Blockieren der Hauptverkehrsadern , mit dem Verbrennen von
Autoreifen und dem Schaffen von Verkehrsstaus überall im Lande,
die Sympathie der Öffentlichkeit gewinnen – dann haben sie sich
sogar noch mehr von der Realität entfernt, als es sowie so schon
schien.
Tatsächlich ist das Blockieren
der Straßen eine Kriegserklärung an die israelische
Öffentlichkeit. Eine klare Front wird so markiert: die Siedler
und ihre Anhänger auf der einen Seite und die Mehrheit der
Bevölkerung auf der anderen Seite.
Das ist in der Tat die wirkliche
Frontlinie. Ihre dumme Taktik bestätigt dies. Sie spüren, dass
die große Mehrheit gegen sie ist, und sagen im Wesentlichen:
wenn ihr uns nicht liebt, dann fürchtet uns wenigstens. Wenn ihr
uns nicht unterstützt, dann machen wir euer Leben zur Hölle.
Sogar das Ausland, das die
Ereignisse auf dem Fernsehschirm verfolgt, kann zwischen den
Verursachern dieses Chaos und den normalen Israelis
unterscheiden: fast alle Aufständischen sind gestrickte Kippas
tragende, religiöse Jugendliche, die Früchte der
religiös-messianisch-nationalistisch-fanatisch erzieherischen
Treibhäuser.
Dies ist eine Minderheit etwa
zwischen 15-25 % der Bevölkerung. Aber eine gut organisierte
Minderheit. Ihr harter Kern ist in den Siedlungen und den
Yeshivot ( religiöse Seminare) konzentriert und ist leicht zu
mobilisieren. Sie haben Führer von absoluter Autorität, die im
Grunde über dem Gesetz stehen. Ihre totale Disziplin findet in
Wahlzeiten ihren besonderen Ausdruck, wenn 99% der Stimmen in
religiösen Stadtteilen an den Kandidaten gehen, den der
Rabbiner ausgewählt hat .
Solche Leute verleihen dieser
Minderheit eine Macht, die ihrer Zahl keineswegs entspricht –
besonders dann, wenn sie einer charakterschwachen, diffusen,
apathischen, unorganisierten Mehrheit ohne klare Ideologie
gegenüber steht. Das ist eine klassische Situation, die
schon in vielen Ländern zu einer faschistischen Diktatur auf den
Ruinen einer Demokratie geführt hat, für die niemand einzutreten
bereit war.
In dem
ausgezeichneten, deutschen Film „Der Untergang“, der Israel
erreicht hat, sieht man, dass Adolf Hitler selbst in den
letzten Stunden seines Lebens nichts als Verachtung für die
„degenerierten Demokratien“ zum Ausdruck brachte. Aber die
historische Wahrheit ist, dass sich ihm die „degenerierten
Demokratien“ mutig entgegenstellten. Es mag stimmen, dass
England und die USA vor 60 Jahren Hitler nicht ohne die
totalitäre Sowjet Union an ihrer Seite besiegt hätten. Aber sie
bewiesen, dass man sich in der Stunde der Wahrheit auf das
demokratische Regime verlassen kann, es sich selbst mobilisiert
und sogar härter kämpft als die totalitären Staaten. Der Dritte
Weltkrieg ( der sog, „Kalte Krieg ) hat dies wieder bewiesen.
Ist die israelische Demokratie
auf der Höhe?
Ein alter israelischer Witz
erzählt von einem von Kannibalen gefangenen Israeli. Sie
steckten ihn in einen Topf und begannen damit, das Feuer
darunter zu entfachen. „Wartet noch!“ schrie er, „zunächst mal
müsst ihr mich verprügeln!“ Als sie das machten, sprang er aus
dem Topf, ergriff seine Waffe und erschoss sie alle. „ Aber wenn
du eine Waffe hast, warum hast du sie nicht vorher benützt?“
wird er gefragt. „Ich kann nur schießen, wenn ich wütend bin,“
antwortete er.
Vielleicht stimmt das für alle
gewöhnlichen Israelis. Um gegen die Siedler anzutreten, müssen
sie erst wütend sein. Und die Siedler tun in ihrer für Fanatiker
typischen Blindheit alles nur Mögliche, um sie wütend zu machen.
Ihre Erfahrung aus den vergangenen 37 Jahren hat sie glauben
lassen, dass es für die Feigheit, die Gleichgültigkeit und die
Geduld der Mehrheit keine Grenzen gibt.
Sie haben eine Menge Beweise
für diesen Glauben, da sich alle Medien in willige
Propagandaorgane für diese diktatorische Minderheit verwandelt
haben, die einen Krieg gegenüber der Regierung,, der Knesset und
dem ganzen demokratischen System erklärt hat.
Wir haben dies erstaunliche
Phänomen schon einmal erläutert: in jedem Nachrichtenprogramm,
in allen Fernsehkanälen füllen die Siedler wenigstens 50% der
Zeit mit einer unendlichen Reihe von Tricks und Knüllern. In der
absoluten Mehrheit der Fälle wird keine gegenteilige Stimme
gehört, nicht einmal um der „Balance“ willen. Der so entstandene
Eindruck ist, es handle sich um einen privaten Krieg zwischen
den Siedlern und dem Ministerpräsiden ( „Der Nachfolger von
Hitler“, wie es auf einigen Graffiti heißt) und nicht die
Allgemeinheit beträfe.
Die Höhe der Absurdität leistet
sich das Staatsfernsehen, das jeder Bürger nach dem Gesetz
finanziell unterstützen muss: das ganze Volk zahlt für etwas,
das praktisch Anti-Staats-Propaganda ist.
Während der letzten Jahre der
deutschen Weimarer Republik war einer der bemerkenswerten Züge
die tolerante Haltung der Gerichthöfe gegenüber den
Nazi-Schlägern, die Krawalle begannen, Passanten verprügelten,
wenn sie „jüdisch aussahen“, sich Straßenschlachten mit
Kommunisten lieferten, verwundeten und töteten. Sie kamen immer
nur mit leichten Strafen davon. Die Richter behandelten sie wie
fehl geleitete, gute Jungs, wirkliche Patrioten, die ein
bisschen übertreiben. Anti-Nazis dagegen, wenn sie wegen der
gleichen Taten angeklagt wurden, erhielten harte Strafen. Gibt
es hier womöglich Ähnlichkeiten ?
Wie die Richter - so die
Polizisten. Auch das erinnert einen an die Situation hier. Wenn
die Polizei mit Aufständischen vom rechten Flügel konfrontiert
wird, verwendet sie nie Tränengas, gummi-ummantelte Kugeln,
Salzkugeln oder Wasserkanonen – die routinemäßig gegen jüdische
Friedensdemonstranten eingesetzt werden, ganz zu schweigen gegen
Araber, gegen die sogar scharf geschossen wird.
All dies ist für den normalen
Israeli - wenigstens bis jetzt - nicht zu viel. Es ist aber
sehr gut möglich, dass das Geld hier eine Grenze setzt.
Die Siedler spielen ein sehr
raffiniertes, doppeltes Spiel. Ihre Führer drohen mit einem
Bürgerkrieg. Auf den Mauern erscheinen Graffiti, die ankünden:
„Wir haben Rabin getötet, wir werden auch Sharon töten!“ (Rabins
Mörder kam tatsächlich aus diesem Lager; aber seit Jahren wurden
wir ermahnt, dies nicht zu erwähnen, weil sonst die „Nation
gespalten wird“) Jeden Tag benützen Siedler-Sprecher die Medien,
um grauenhafte Szenarien zu malen: Massen von Sympathisanten
werden nach Gush Kativ marschieren; im ganzen Land wird der
Verkehr lahm gelegt; die Dinge werden außer Kontrolle geraten;
Blut wird fließen.
Zur selben
Zeit verhandeln die Vertreter der Siedler um die Kompensation,
die für ihr „Herausreißen“ gezahlt werden soll. Es beginnt bei
400 000 Dollar und mag bis zu mehreren Millionen pro Familie
reichen. Sie werden zur vorübergehenden Versorgung auch eine
luxuriöse, „mobile Villa“ erhalten, die eine halbe Million
Schekel wert ist. Und es soll ihre bleiben, selbst wenn die
Regierung ihnen ein dauerhaftes Heim gebaut haben wird. Es gibt
auch Pläne dafür, den Siedlern nördlich von Aschkalon einen
Streifen Land zu geben, wo sie sich einer Art lokaler Autonomie
erfreuen dürfen. Es wird vorgeschlagen, ihnen 2 Dunum Land zu
geben, das von Kibbuzim und Moschavim genommen wird. Eine der
Siedlerinnen rühmte sich vor dem Fernsehen ihrer 35
Gewächshäuser, von denen jedes 200 000 Dollar wert sei – sie
erwarte für diese volle Kompensation.
Die Fanatiker erklären, sie
nähmen nicht das Geld, sie kämpften bis zum letzten
Blutstropfen.
In Wirklichkeit lässt jede
Drohung den Preis steigen. Je extremer die Sprache der
Siedler ist, um so mehr bringt sie die Regierung
schreckenshalber dazu, mehr Geld anzubieten. Hundert Tausende
wollen nach Gush Kativ marschieren? 50 Tausend Dollar mehr pro
Familie? Tausende Soldaten wollen den Dienst verweigern? Noch
mal 100 000 Dollar. Blut wird fließen? Zweihundert Tausend mehr.
Der Himmel ist die Grenze.
Aber diese Oper haben wir schon
einmal gesehen. Wir erinnern uns an die Evakuierung der
Yamit-Region im Norden des Sinai, 1982. Die Siedler drohten mit
Selbstmord in einem Bunker. Tzahi Hanegbi (jetzt ein Minister)
und seine Kameraden kletterten auf einen hohen Turm, Zeloten
versprachen gewalttätigen Widerstand. Er endete mit einer Farce
von weißem Schaum auf den Dächern. Und wie war es mit dem Geld?
Am Ende weigerte sich nicht ein einziger Siedler, die fette
Kompensation anzunehmen. Einige von ihnen siedelten sich im
Gush Kativ zum 2. Mal an und werden nun eine 2. Kompensation
erhalten. Wenn sie schlau genug sind und in eine
Westbanksiedlung umziehen, könnten sie tatsächlich als sehr
reiche Leute enden.
All dies geschieht während
Tausende von Lehrern aus Mangel an Geld entlassen,
lebensnotwendige Wohlfahrtsinstitutionen geschlossen werden,
Krebspatienten und andere zum Tode verurteilt sind, weil ihre
Medikamente aus dem „Gesundheitspaket“ herausfallen, das vom
Staat subventioniert wird.
Und das mag am Ende selbst die
apathische Mehrheit zu einem Aufstand bringen. Der Augenblick
wird kommen, dass sie aufsteht und sagen wird: Genug! Wenn man
genau hinsieht, kann man schon jetzt Anzeichen wachsenden
Unmutes erkennen.
Das könnte
im Zusammenhang mit dem Abzugsplan noch das Positivste sein. Die
Kluft zwischen den Siedlern und der allgemeinen Bevölkerung
wird immer breiter. In ihrer grenzenlosen Habgier und in ihrem
Rowdytum helfen sie selbst dazu. Nichts symbolisiert dies
besser, als das Blockieren von Straßen.
Am Dienstag beginnt Israels
populärste TV-Sendung (2. Programm) eine fünfteilige Serie mit
Israels beliebtestem Moderator Haim Yavin, einem wirklichen
„Mister Konsens“, der die Siedler mit Worten eines prominenten
Kritikers „als fanatische, verrückte, rassistische, widerliche
und gewalttätige Sekte beschreibt“.
Der Konsens scheint sich zu
verändern.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |