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Der Siedlerstaat
Uri Avnery 16. April 2011
NEULICH benötigte der allmächtige allgemeine
Sicherheitsdienst (Shaback, früher Shin Bet) einen neuen Boss. Es
ist ein äußerst wichtiger Job, weil kein Minister je wagen würde,
dem Rat des Shabak-Chefs bei einer Kabinettsitzung zu widersprechen.
Es gab einen eindeutigen Kandidaten, nur unter
J. bekannt. Aber im letzten Augenblick wurde die Siedlerlobby
mobilisiert. Als Direktor der „Jüdischen Abteilung“ hat J. ein paar
jüdische Terroristen ins Gefängnis gebracht. Deshalb wurde seine
Kandidatur zurückgenommen, und Yoram Cohen, ein Kippa tragender
Liebling der Siedler, wurde statt dessen ernannt.
Das geschah im letzten Monat. Kurz davor
benötigte auch der Nationalsicherheitsrat einen neuen Chef. Unter
Druck von Seiten der Siedler bekam General Yaacov Amidror, der
ehemalige höchste Kippa tragende Offizier der Armee, den Job – es
ist ein Mann mit offen ultra-ultra nationalistischen Ansichten.
Der stellvertretende Stabschef der Armee ist ein
Kippa tragender Offizier; auch er unter Siedlern sehr beliebt, ist
ein früherer Chef des Kommandos Mitte, der auch für die Westbank
zuständig war.
Vor ein paar Wochen schrieb ich, dass nicht die
Annexion der Westbank an Israel das Problem sei, sondern die
Annexion Israels durch die Westbanksiedler.
Einige Leser reagierten mit einem Lächeln. Es
schien wie ein Scherz..
Das war es nicht.
Nun ist es an der Zeit, diesen Prozess ernsthaft
zu prüfen: Wird Israel zum Opfer einer feindlichen Übernahme durch
die Siedler?
ALS ERSTES muss der Terminus „Siedler“ untersucht
werden.
Offiziell ist das keine Frage. Die „Siedler“ sind
Israelis, die jenseits der Grenze von 1967, der sog, Grünen Linie
leben („Grün“ hat in diesem Fall keine ideologische Bedeutung. Dies
war nur zufällig die Farbe, die gewählt wurde, um sie auf den
Karten zu unterscheiden.)
Die Zahlen werden übertrieben oder untertrieben,
je nach dem, wie die Propaganda dies benötigt. Aber es kann
angenommen werden, dass es in der Westbank 300 000 Siedler gibt
und in Ost-Jerusalem etwa 200 000. Die Israelis nennen die
Jerusalemer Siedler gewöhnlich nicht „Siedler“, sondern rechnen sie
einer anderen Kategorie zu. Aber sie sind natürlich auch Siedler.
Wenn wir aber von Siedlern im politischen Kontext
sprechen, sprechen wir von einer viel größeren Gemeinschaft.
Allerdings sind nicht alle Siedler „Siedler“.
Viele Leute in den Westbank-Siedlungen gingen ohne ideologische
Motive dorthin, und zwar weil sie dort ihre Traumvilla für praktisch
nichts bauen konnten, noch dazu mit einem malerischen Blick auf ein
arabisches Minarett. Es sind jene, die vom Chef des Siedlerrats
Danny Dayan gemeint waren, als er bei einem geheimen Gespräch mit
einem US-Diplomaten, das jetzt durchsickerte, eingestand , dass sie
leicht überzeugt werden könnten, nach Israel zurückzukehren, wenn
die Geldmenge stimmen würde.
Doch haben all diese Leute ein Interesse am
Status quo, und deshalb werden sie die wirklichen Siedler bei
ihrem politischen Kampf unterstützen. Entsprechend einem jüdischen
Sprichwort: Beginnst du ein Gebot aus falschen Motiven zu erfüllen,
wirst du es am Ende mit den richtigen erfüllen.
ABER DAS Lager der „Siedler“ ist viel, viel
größer.
Die ganze „national-religiöse“ Bewegung
unterstützt die Siedler vollkommen, ihre Ideologie und ihre Ziele.
Und kein Wunder – das Siedlungsunternehmen ist ja ihre
Schöpfung.
Das muss erklärt werden. Die National-Religiösen
waren ursprünglich eine winzige Splittergruppe der religiösen
Judenheit. Das große orthodoxe Lager sah im Zionismus eine Ketzerei
und abscheuliche Sünde. Da ja Gott die Juden wegen ihrer Sünden aus
Seinem Land ins Exil geschickt hatte, hatte nur ER das Recht, sie
- durch den Messias – wieder zurückbringen. Die Zionisten setzen
sich über Gott und verhindern das Kommen des Messias. Für die
Orthodoxen ist die zionistische Idee einer säkularen jüdischen
„Nation“ noch immer ein Götzendienst.
Doch ein paar religiöse Juden schlossen sich der
werdenden zionistischen Bewegung an. Sie blieben eine Kuriosität.
Die Zionisten verachteten die jüdische Religion wie alles, das zur
jüdischen Diaspora gehört („Galut“ – Exil, in der zionistischen
Redeweise ein abfälliger Terminus) . Den Kindern, die ( wie ich) in
zionistischen Schulen in Palästina vor dem Holocaust erzogen
wurden, wurde beigebracht, dass sie mitleidig auf die Leute
hinabschauen sollten, die immer „noch“ religiös waren.
Dies beeinflusste auch unsere Haltung gegenüber
religiösen Zionisten im negativen Sinn. Die
wirkliche Aufbauarbeit unseres zukünftigen „hebräischen Staates“(wir
sprachen nie von einem „jüdischen Staat“) wurde von sozialistischen
Atheisten getan. Die Kibbuzim und Moshavim, kommunale und
kooperative Dörfer, wie auch die „Pionier“-Jugendbewegungen, die
die Grundlage des ganzen Unternehmens waren, waren meist Tolstoij’sche
Sozialisten, einige sogar Marxisten. Die wenigen, die religiös
waren, wurden als marginal angesehen.
In jener Zeit – in den 30er und 40er-Jahren
trugen nur wenige junge Leute eine Kippa in der Öffentlichkeit. Ich
kann mich nicht an einen einzigen Kameraden im Irgun , (die geheime
militärische („terroristische“) Organisation, zu der ich gehörte)
erinnern, der eine Kippa trug – obwohl es eine ganze Anzahl
religiöser Mitglieder gab. Sie zogen eine weniger auffallende
Schirmmütze oder Baskenmütze vor.
Die national-religiöse Partei ( ursprünglich
Mizrahi – die „Östliche“ genannt) spielte eine kleine Rolle in der
zionistischen Politik. Sie war in nationalen Angelegenheiten
entschieden moderat. Bei den historischen Konfrontationen zwischen
dem „Aktivisten“ David Ben-Gurion und dem „moderaten“ Moshe Sharett
in den 50er-Jahren waren sie fast immer auf Seiten Sharetts und
ließen Ben-Gurion die Wände hochgehen.
Keiner schenkte dem, was in der
national-religiösen Jugendbewegung – Bnei Akiva und ihren Yeshivot
(Talmudschulen) - jedoch unter der Oberfläche geschah, viel
Aufmerksamkeit. Außer Sichtweite der allgemeinen Öffentlichkeit
braute sich dort ein gefährlicher Cocktail von ultra-nationalem
Zionismus und einer aggressiven „messianischen“ Religion zusammen .
DER UNGLAUBLICHE Sieg der israelischen Armee im
Sechs-Tage-Krieg 1967 wurde nach drei angsterfüllten Wochen zu
einem Wendepunkt für diese Bewegung.
Hier war alles, wovon sie geträumt hatten: ein
von Gott geschenktes Wunder: das Herzstück des historischen Erez
Israel (alias Westbank) war besetzt. „Der Tempelberg ist in unserer
Hand“, wie ein General atemlos damals berichtete.
Als ob jemand einen Korken gezogen hätte, so
entwich die national-religiöse Jugendbewegung aus ihrer Flasche und
wurde eine nationale Kraft. Sie stellte Gush Emunim (den „Block der
Getreuen“) auf, das Zentrum der dynamischen Siedlerbewegung in den
eben „befreiten Gebieten“.
Dies muss richtig verstanden werden: für das
national-religiöse Lager war 1967 auch ein Moment der Befreiung
innerhalb des zionistischen Lagers. Wie es in der Bibel ( Psalm 117)
prophezeit wurde: „Der von den Bauleuten verworfene Stein wurde zum
Eckstein.“ Die verachtete national-religiöse Jugendbewegung und
ihre Kibbuzim sprangen plötzlich in die Mitte der politischen Bühne.
Während die alte sozialistische Kibbuz-Bewegung
wegen ideologischer Erschöpfung im Sterben lag und ihre Mitglieder
durch Verkauf von landwirtschaftlich genütztem Land an
Immobilienhaie reich wurden, war die national-religiöse Bewegung
voll ideologischer Kraft, mit religiösem und nationalem Eifer
erfüllt. Sie predigte einen heidnischen jüdischen Glauben an
heiligen Stätten, heilige Steinen und heiligen Gräbern, vermischt
mit der Überzeugung, dass das ganze Land den Juden gehöre und
„Fremde“ (gemeint sind die Palästinenser, die seit 1300, wenn nicht
gar seit 5000 Jahren hier gewesen sind) hinausgestoßen werden
sollten.
DIE MEISTEN Israelis von heute wurden erst nach
1967 geboren oder sind danach eingewandert. Der Besatzungsstaat ist
die einzige Realität , die sie kennen. Die Überzeugung der Siedler
erscheint ihnen wie eine selbstverständliche Wahrheit. Umfragen
zeigen eine wachsende Anzahl junger Israelis, für die Demokratie und
Menschenrechte leere Worthülsen sind. Ein jüdischer Staat bedeutet
ein Staat, der den Juden gehört und nur den Juden, niemand anders
hat hier irgend etwas verloren.
Dieses Klima hat eine politische Szene
geschaffen, die von einer Gruppe rechter Parteien beherrscht wird:
von Avigdor Liebermans Rassisten bis zu den offen faschistischen
Nachfolgern des verstorbenen Rabbi Meir Kahane – alle sind den
Siedlern total unterwürfig.
Wenn es stimmt, dass der US-Kongress von der
Israel-Lobby kontrolliert wird, dann wird diese Lobby von der
israelischen Regierung kontrolliert, die wiederum von den Siedlern
kontrolliert wird. (Wie der Witz über den Diktator, der sagte: Die
Welt fürchtet sich vor unserm Land, das Land fürchtet sich vor mir,
ich fürchte mich vor meiner Frau, und meine Frau fürchtet sich vor
einer Maus. Wer also beherrscht die Welt?)
So können die Siedler tun, was sie wollen: neue
Siedlungen bauen und die bestehenden vergrößern, den Obersten
Gerichtshof ignorieren, der Knesset und der Regierung Order geben,
ihre „Nachbarn“ angreifen, wann immer sie Lust dazu haben, arabische
Kinder töten, die Steine werfen, Olivenbäume ausreißen, Moscheen in
Brand stecken. Und ihre Macht wächst sprunghaft.
DIE ÜBERNAHME eines zivilisierten Landes durch
härtere Grenzkämpfer ist keineswegs ungewöhnlich. Im Gegenteil, es
ist ein häufiges historisches Phänomen. Der Historiker Arnold
Toynbee lieferte eine lange Liste.
Deutschland war lange Zeit von der Ostmark
beherrscht, die Österreich wurde. Das kulturell fortgeschrittene
deutsche Kernland wurde von den primitiveren, aber robusteren
Preußen unterworfen, deren ursprüngliche Heimat kein Teil
Deutschlands war. Das russische Empire wurde von Moskau geformt,
ursprünglich eine primitive Stadt am Rand.
Die Regel scheint die zu sein, dass, wenn
Menschen eines zivilisierten Landes durch Kultur und Reichtümer
verweichlicht werden, die robustere, weniger verwöhnte und
primitivere Rasse an der Grenze das Land übernimmt, so wie
Griechenland von den Römern übernommen wurde und Rom von den
Barbaren.
Dies kann auch bei uns geschehen, muss aber
nicht. Die israelische säkulare Demokratie hat noch eine Menge
Kraft. Die Siedlungen können beseitigt werden ( In einem zukünftigen
Artikel werde ich dies zu erklären versuchen, ) Die religiöse
Rechte kann noch zurückgeschlagen werden. Die Besatzung, die das
Urübel ist, kann noch beendet werden.
Aber dafür müssen wir die Gefahr erkennen – und
etwas dagegen tun.
( Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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