Eine Wolke über Jerusalem
Uri Avnery, 1.Mai
2010
JEDER HAT das Recht, seine Meinung zu ändern. Sogar Danny Tirze.
Oberst Tirze ist verantwortlich für den Bauplan der Mauer, die
Jerusalem „umschlingt“ – die Mauer, die die Stadt von der Westbank
abschneidet, damit es die „Hauptstadt Israels für alle Ewigkeiten“
wird.
Und jetzt auf einmal taucht Tirze als Hauptgegner der Mauer auf,
die er selbst geplant hat. Er möchte sie verändern, um das Land von
Al-Wallaja auf „israelischer“ Seite zu lassen.
Der Oberst hat aufgehört, im Namen der Armee zu handeln und handelt
nun im Namen privater Unternehmer, die dort 14 000 Wohneinheiten für
45000 Juden bauen wollen. All dies natürlich zum Wohl des Zionismus,
des jüdischen Volkes, für Israels ewige Hauptstadt und für zig
Millionen Schekel.
OBERST TIRZE ist nicht irgendjemand. Er ist ein Symbol.
Seit Jahren treffe ich ihn in den Räumen des Obersten Gerichts. Er
gehört fast zum Inventar: der Starzeuge, der Experte und der
bewegende Geist bei vielen Sitzungen, in denen es um die Trennungs-
und Annexionsmauer geht.
Er
kennt alles. Jeden Kilometer der Mauer und des Zaunes. Jeden Hügel,
jeden Stein. Er trägt immer ein dickes Bündel von Karten mit sich,
die er vor den Richtern ausbreitet, während er ernsthaft erklärt,
warum die Mauer hier und nicht dort entlang laufen muss, warum die
Sicherheit des Staates verlangt, dass die palästinensischen Dörfer
von ihrem Land getrennt werden müssen, dass ein Olivenhain, den man
in den Händen seines Besitzers lässt, eine tödliche Gefahr für die
israelischen Soldaten bedeutet.
Gewöhnlich werden die Richter überzeugt. Schließlich ist er der
Experte. Er ist der Mann, der alles kennt. Wie könnten sie die
Verantwortung übernehmen, die Route der Mauer zu verändern, wenn
dadurch Juden getötet werden könnten?
Es
gibt Ausnahmen. Beim Dorf Bilin wurde das Gericht überzeugt, dass
der Zaun ein paar hundert Meter verschoben werden kann, ohne dass
die Sicherheit des Staates zusammenbrechen und die Landschaft von
jüdischen Leichen übersät sein würde.
Deshalb akzeptierte der Oberste Gerichtshof das Plädoyer der
Dorfbewohner und entschied, den Zaun zu verschieben und --- nichts
geschah. Der Zaun blieb, wo er war. Die Regierung und das Militär
ignorierten die Gerichtsanordnung.
Vergeblich ermahnte sie die Gerichtspräsidentin, dass ihre
Entscheidungen „keine Empfehlungen seien“. Wie Dutzende andere
Gerichtsentscheidungen, die die Siedler betreffen, verstauben sie.
Der Fall Bilin ist besonders auffällig, und nicht nur wegen der
Demonstranten – Palästinenser, Israelis und andere – die dort
getötet und verletzt wurden. Es ist auffällig, weil man das Motiv,
das sich hinter dem Zaun zu verbergen versucht, leicht erkennt.
Nicht Zionismus. Nicht Sicherheit oder Verteidigung gegen
Terroristen. Nicht die Träume von Generationen. Nicht die Vision
Theodor Herzls, dessen 150. Geburtstag jetzt gefeiert wird.
Es
ist nur Geld, eine Menge Geld.
Das Gebiet, dass zwischen dem jetzigen Zaun und der alternativen
Route liegt, ist bestimmt für die orthodoxe Siedlung Modiin-Illit.
Riesige Unternehmen sollen dort viele Hunderte von „Wohneinheiten“
bauen, ein Geschäft das viele Millionen wert ist.
Überall werden die den Palästinensern gestohlenen Ländereien sofort
zu Immobilien. Sie gelangen durch mysteriöse Kanäle in die Rachen
von Grundstückshaien. Diese Haie bauen dort riesige Hausprojekte und
verkaufen die „Wohneinheiten“ für ein Vermögen.
WIE GESCHIEHT das? Die Öffentlichkeit erhält gerade eine Lektion in
Form der Holyland-Affäre – eine Lektion in Fortsetzungen. Jeden
Tag tauchen neue Details und neue Verdächtige auf.
Anstelle eines alten und bescheidenen Hotels mit diesem Namen
schießt ein gigantisches Hausprojekt aus dem Boden - eine Reihe
Hochhäuser und ein Wolkenkratzer. Das hässliche Monster beherrscht
die Landschaft – aber der Teil des Projektes, der von Ferne gesehen
werden kann, ist nur ein Teil des ganzen. Die anderen Teile des
Projektes haben schon den Segen aller relevanten Gemeinde- und
Regierungsbehörden erhalten.
Wie? Die gerichtlichen Untersuchungen gehen weiter. Fast jeden Tag
werden Verdächtige verhaftet. Fast jeder, der etwas mit der
Genehmigung des Projektes zu tun hat, bis zu den höchsten Rängen ist
verdächtigt – Minister, ranghohe Regierungsvertreter, der frühere
Bürgermeister, Mitglieder des Stadtrates, Gemeindevertreter. Im
Augenblick laufen die Ermittler dem Bestechungsgeld in aller Welt
hinterher.
Holyland liegt in West-Jerusalem, das vor 1948 ein arabischer
Stadtteil war.
Die Frage stellt sich von selbst: wenn sich Dinge in dieser Weise im
Westen der Stadt ereignen, was geschieht dann erst im Osten? Wenn
diese Politiker und Offiziellen zu stehlen wagen und
Bestechungsgelder in West-Jerusalem nehmen, was erlauben sie sich
dann in Ost-Jerusalem, deren Bewohner keine Vertretung haben, weder
im Stadtrat noch in der Regierung?
NUR EIN paar Minuten Autofahrt liegen zwischen Holyland und dem Dorf
von Wallaja.
Man könnte Bände über dieses kleine Dorf schreiben, das seit mehr
als 60 Jahren als Missbrauchobjekt gedient hat.
Kurz: das ursprüngliche Dorf wurde im 1948er-Krieg besetzt und von
Israel annektiert. Die Bewohner wurden vertrieben und gründeten ein
neues Dorf auf einem Teil ihres Landes, das auf der anderen Seite
der Grünen Grenze blieb. Das neue Dorf wurde im 1967er Krieg besetzt
und Jerusalem angeschlossen, das wiederum Israel angeschlossen
wurde. Nach israelischem Gesetz waren die Häuser illegal. Die
Bewohner leben in ihren eigenen Häusern, auf ihrem eigenen Land –
werden aber offiziell als illegale Bewohner angesehen, die jederzeit
vertrieben werden können.
Jetzt schielen die Grundstückshaie auf dieses Stück Land, das einen
hohen Geldwert hat. Sie folgen der bewährten zionistischen Routine.
Zunächst wurde der arabische Name des Ortes in einen rein
hebräischen verwandelt, am liebsten in einen biblischen. So wie der
nahe Djebel-Abu-Ghneim zu Har Homa wurde, bevor der Schandfleck des
Monsterhausprojektes dort errichtet wurde, so wird Al-Walaha jetzt
zu Givat Yael. Ein Ort mit dem Namen Yael-Hügel muss natürlich dem
jüdischen Volk gehören, und es ist eine heilige Pflicht, dort eine
neue Siedlung zu bauen.
Und wenn dies nun eine Änderung des Mauerverlaufs nötig macht? Dann
kann man immer einen ausrangierten Armeeoffizier finden, der dies
aus Sicherheitsgründen rechtfertigt.
SEIT JAHREN habe ich vorgeschlagen, diese Seite des
Siedlungsunternehmens unter die Lupe zu nehmen.
In
der öffentlichen Debatte ging es immer um hohe Ideale. Das
göttliche Versprechen gegenüber der menschlichen Vision. Großisrael
gegenüber der Zwei-Staatenlösung. Zionistische Werte gegenüber den
Werten des Friedens. Faschismus gegenüber Humanismus.
Und inzwischen stecken Bodenspekulanten Milliarden ein.
Die Siedlungen wachsen die ganze Zeit über schnell. Überall auf der
Westbank und in Ost-Jerusalem schießen Siedlungen wie giftige Pilze
aus dem Boden und vergiften die Chancen des Friedens. In dieser
Angelegenheit gab es nie Unterschiede zwischen Golda Meier und
Menachem Begin, Ehud Barak und Ariel Sharon, Shimon Peres und
Binyamin Netanyahu.
Unter den Siedlern gibt es einen harten Kern ideologischer Zeloten.
Aber viele der Bauherren sind nur raffinierte Geschäftsleute, deren
einziger Gott der Mammon ist. Sie schließen schnell Freundschaften
mit Likud- und Laborführern, und natürlich auch mit der
Kadima-Mannschaft.
Die massiven Siedlungen in Ost-Jerusalem – die schon existierenden
und die geplanten - schreiten auf derselben Linie voran wie das
Monster auf dem Holyland-Hügel, und sie benötigen dieselben
Genehmigungen von denselben Gemeinde- und Regierungsbehörden.
Jerusalem ist schließlich vereinigt worden. Deshalb schwebt dieselbe
dunkle Wolke über ihnen.
Was notwendig wäre, ist eine juristische Untersuchungskommission, um
alle Genehmigungen zu prüfen, die in Jerusalem während der letzten
Jahre vergeben wurden, sicher von Beginn der Amtszeit Ehud Olmerts
als Bürgermeister. Olmert kämpfte wie ein Tiger für die Errichtung
von Har Homa und die anderen Siedlungen in Ost-Jerusalem. Alles dem
Zionismus zuliebe und der jüdischen Herrschaft über die Heilige
Stadt. Jetzt ist er der Verdächtige Nr.1.
Alles muss untersucht werden von Anfang an. Und jedes neue Projekt
muss gestoppt werden, bis seine Korrektheit ohne jeden Zweifel
hergestellt ist.
DIESE DINGE sind an sich schon gravierend genug, und sie werden
noch gravierender, wenn sie im Zentrum des
israelisch-palästinensischen Konfliktes und der Israel-USA-Krise
liegen.
Um
der israelischen Hausprojekte willen gefährdet die
Netanyahu-Regierung unsere Rettungsleine zu den USA. Der
extrem-rechte Bürgermeister erklärt, dass ihm die Regierungsorder
piepegal sei, er würde überall weiterbauen, ob Netanyahu dies mag
oder nicht. Die Palästinenser weigern sich natürlich, mit der
israelischen Regierung zu verhandeln, während die Bauaktivitäten in
Ost-Jerusalem weitergehen.
Werden wir die Zukunft Israels für Generationen gefährden, nur
damit Landhaie Milliarden einnehmen können? Sind unter den
„Patrioten“, die in Ost-Jerusalem bauen, gewählte und ernannte
Offizielle, die sich von den Bauherren hohe Bestechungsgelder
erhoffen?
Gibt es da eine direkte Verbindung zwischen der wildwuchernden
Korruption, von der die Holyland-Affäre nur die Spitze des Eisberges
ist, und historischen nationalen Entscheidungen?
Kurz gesagt: wird die Zukunft des heiligen Landes auf dem unheiligen
Altar korrupter Profite geopfert?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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