Das große Wagnis
Uri Avnery, 10.4.10
ICH TRAF vor zwei Wochen Salam Fayad, den palästinensischen
Ministerpräsidenten, und war wieder beeindruckt von der Ruhe und
Bescheidenheit, die von ihm ausgehen.
Gewöhnlich treffe ich ihn bei Demonstrationen, wie den am
Trennungszaun bei Bilin. Auch dieses Mal gab es nur die
Gelegenheit für ein flüchtiges Händeschütteln und ein paar höfliche
Worte.
Wir erschienen gemeinsam am „Tag des Bodens“ in einem kleinen Dorf
nahe Qalqilya, dessen Name nur wenigen bekannt ist: Izbat-al-Tabib.
Das Dorf entstand 1920, und die Besatzungsbehörden erkennen seine
Existenz nicht an. Sie wollen es zerstören und sein umfangreiches
Land der nahen jüdischen Siedlung Alfei Menasche zuschlagen.
Wir waren umgeben von einer großen Gruppe respektabler
Persönlichkeiten – den Bürgermeistern der benachbarten Dörfer und
Offiziellen der Parteien, die zur PLO gehören, und natürlich auch
von den Dorfbewohnern. Ich konnte nur vom Rednerpult aus zu ihm
reden. Ich bat ihn dringend, die Zusammenarbeit zwischen der
palästinensischen Führung und dem israelischen Friedenslager zu
stärken, eine Zusammenarbeit, die seit den Morden an Yasser Arafat
und Faisal Husseini geschwächt wurde.
ES
IST unmöglich, Fayad nicht zu mögen. Er strahlt Anständigkeit,
Ernsthaftigkeit und ein Gefühl für Verantwortlichkeit aus. Er
fordert Vertrauen heraus. Nicht der geringste Verdacht von
Korruption klebt an ihm. Er ist kein Parteifunktionär. Erst nach
langem Zögern schloss er sich einer kleinen Partei an („der dritte
Weg“). Bei der Konfrontation von Fatah mit der Hamas gehörte er zu
keiner der beiden Rivalen. Er sieht aus wie ein Bankmanager - und
genau das war er tatsächlich: ein ranghoher Beamter der Weltbank.
Der 58jährige Fayad ist genau das Gegenteil von Yasser Arafat, der
ihn zuerst zum Finanzminister ernannte. Der Rais strahlte Autorität
aus, der Ministerpräsident Zurückhaltung. Arafat war extrovertiert,
Fayad ist introvertiert. Arafat war ein Mann dramatischer Gesten.
Fayad weiß nicht, was eine Geste ist.
Aber der größte Unterschied zwischen den beiden liegt in ihren
Methoden. Arafat legte nicht alle seine Eier in einen Korb – er
hatte viele Körbe. Er war bereit - gleichzeitig oder nach einander –
Diplomatie und den bewaffneten Kampf, populäre Aktion und geheime
Kanäle, moderate und radikale Gruppen zu nutzen. Er glaubte, dass
das palästinensische Volk viel zu schwach wäre, auf eines der
Instrumente zu verzichten.
Fayad andrerseits legt alle seine Eier und die der Palästinenser in
einen Korb. Er wählte eine einzige Strategie und hält an ihr fest.
Dies ist ein persönliches und nationales Wagnis - und tatsächlich
kühn und gefährlich.
FAYAD GLAUBT anscheinend, dass die Palästinenser nur durch
gewaltfreie Mittel in enger Zusammenarbeit mit den USA eine Chance
haben, ihr nationales Ziel zu erreichen
Sein Plan ist, die palästinensischen nationalen Institutionen
aufzubauen, eine robuste wirtschaftliche Basis zu schaffen und
Ende 2011, den Staat Palästina auszurufen.
Das erinnert an die klassische zionistische Strategie unter David
Ben-Gurion. In zionistischer Redeweise wurde dies „vor Ort Fakten
schaffen“ genannt.
Fayads Plan gründet sich auf die Voraussetzung, dass die USA den
palästinensischen Staat anerkennen und Israel die wohlbekannten
Friedensbedingungen auferlegen werden: zwei Staaten, zurück zu den
1967er-Grenzen mit kleinem und mit einander abgestimmtem Landtausch,
Ost-Jerusalem wird die Hauptstadt Palästinas, Evakuierung der
Siedlungen, die nicht in den Landtausch mit eingeschlossen sind, die
Rückkehr von einer symbolischen Anzahl von Flüchtlingen in das
israelische Gebiet und die Ansiedlung der anderen in Palästina oder
sonst wo.
DAS SIEHT wie eine vernünftige Strategie aus, aber es stellen sich
viele Fragen.
Die erste Frage: Können sich die Palästinenser wirklich auf die USA
verlassen, dass sie ihren Teil dazu tun?
In
den letzten paar Wochen sind die Chancen dafür besser geworden. Nach
seinem eindrucksvollen Sieg in der Innen- und Außenpolitik zeigte
Präsident Obama neues Selbstvertrauen - auch bei der
israelisch-palästinensischen Frage. Er könnte jetzt bereit sein,
beiden Parteien einen amerikanischen Friedensplan aufzuerlegen, der
diese Elemente einschließt.
Die US haben es deutlich gemacht, dass dies keine Nebenvorstellung,
sondern eine Strategie ist, die sich auf eine nüchterne Einschätzung
der amerikanischen nationalen Interessen gründet, die von der
militärischen Führung unterstützt werden.
Aber die entscheidende Schlacht ist noch nicht ausgefochten. Man
kann eine Schlacht der Titanen zwischen den beiden mächtigsten
Lobbys in Washington erwarten: die militärische und die
Pro-Israel-Lobby. Das Weiße Haus gegen den Kongress. Fayads Wagnis
gründet sich auf die Hoffnung, dass Barack Obama diesen Kampf mit
Hilfe von General David Petraeus gewinnen wird.
Es
ist ein vernünftiges Wagnis - aber ein riskantes.
DIE ZWEITE Frage: ist es möglich, einen palästinensischen „Staat im
Werden“ unter israelischer Besatzung aufzubauen?
Wie es jetzt aussieht, hat Fayad Erfolg. Tatsächlich gibt es einigen
Wohlstand in der Westbank, von dem jedoch hauptsächlich eine
bestimmte Klasse profitiert. Die Netanyahu-Regierung unterstützt
diese Bemühung in der Illusion, dass „wirtschaftlicher Friede“ als
Ersatz für wirklichen Frieden dienen kann.
Aber all diese Bemühungen stehen auf tönernen Füßen. Die
Besatzungsbehörden können sie mit einem Streich auslöschen. Wir
waren im Mai 2002 bei der Operation „Defensive Wall“ Zeugen davon,
als die israelische Armee mit einem Streich alles zerstörte, was die
Palästinenser nach dem Oslo-Abkommen aufgebaut hatten. Ich habe die
zerstörten Büros der Palästinensischen Behörde in Ramallah mit
eigenen Augen gesehen, die zermalmten Computer, die Haufen
zerrissener Dokumente zerstreut auf dem Boden der Bildungs- und
Gesundheits-Ministerien, die zerschlagenen Mauern der Mukata’a.
Wenn die israelische Regierung so entscheidet, gehen alle
geordneten Regierungsbüros von Fayad, all die neuen Unternehmungen
und die wirtschaftlichen Initiativen in Rauch auf.
Fayad verlässt sich auf das amerikanische Sicherheitsnetz. Und
tatsächlich ist es fraglich, ob Nethanyahu 2010 in der Obama –Ära
das tun kann, was Sharon 2002 unter George W. Bush getan hat.
Eine wichtige Komponente der neuen Situation ist „Dayton’s Armee“.
Der US-General Keith Dayton trainiert die palästinensischen
Sicherheitskräfte. Jeder, der sie gesehen hat, versteht, dass dies
in der Praxis eine reguläre Armee ist. (Bei der Demonstration am Tag
des Bodens waren die palästinensischen Soldaten mit ihren Helmen
und in Khaki-Uniformen auf dem Hügel aufgestellt, während die
israelischen Soldaten – ähnlich gekleidet – unten standen. Dies war
in der Zone C, die nach dem Oslo-Abkommen unter israelischer
Kontrolle steht. Beide Armeen verwendeten dieselben amerikanischen
Jeeps – nur in verschiedenen Farben.)
Zweifellos ist sich Fayad bewusst, dass es da mit seiner Strategie
nur einen kleinen Schritt zur Anklage der Kollaboration mit der
Besatzung gibt.
Die DRITTE Frage: Was wird geschehen, falls die Palästinenser ihren
Staat Ende 2011 ausrufen ?
Viele Palästinenser sind skeptisch. Schließlich hat der
Palästinensische Nationalrat schon 1988 einen unabhängigen
palästinensischen Staat ausgerufen. Bei dieser festlichen
Gelegenheit wurde die palästinensische Unabhängigkeitserklärung, die
von dem Dichter Mahmoud Darwish verfasst worden war, vorgelesen.
Dutzende von Staaten erkannten diesen Staat an, und die
PLO-Vertreter erfreuten sich dort des offiziellen Status’ eines
Botschafters. Aber hat dies die Situation der Palästinenser
verbessert?
Die Hauptfrage ist, ob die US den palästinensischen Staat am Tag
seiner Gründung anerkennen werden und ob der UN-Sicherheitsrat
folgen wird.
Im
Mai 1948 erkannten die USA den neuen Staat Israel de facto
an, aber nicht de jure . Stalin kam ihnen zuvor und erkannte
Israel sofort de jure an.
Wenn Fayads Hoffnung sich erfüllt und die USA den Staat Palästina
anerkennt, wird sich die palästinensische Situation dramatisch
ändern. Ziemlich sicher wird die israelische Regierung keine andere
Wahl haben, als das Friedensabkommen zu unterzeichnen, das praktisch
von den Amerikanern diktiert werden wird. Israel wird fast die ganze
Westbank aufgeben müssen.
DIE VIERTE Frage: wird dies auch für Gaza gültig sein?
Wahrscheinlich ja. Im Gegensatz zum dämonischen Image, das von der
israelischen und amerikanischen Propaganda geschaffen wurde, wünscht
Hamas einen palästinensischen Staat, nicht ein islamisches Emirat.
Wie unsere eigenen Orthodoxen, die einen jüdischen Staat wünschen,
der nach dem religiösen Gesetz und von Rabbinern regiert wird,
wissen sie, wie man mit der Realität einen Kompromiss macht. Hamas’
Ziel ist nicht auf ihre kleine Enklave beschränkt. Sie wollen im
zukünftigen Staat Palästina eine größere Rolle spielen.
Die offizielle Position von Hamas ist, dass sie ein Abkommen
akzeptieren wird, das von der palästinensischen Behörde
unterzeichnet wurde, wenn es in einem Referendum vom
palästinensischen Volk oder in einem Akt des Parlamentes
ratifiziert würde. Es sollte sogar jetzt bemerkt werden, dass Hamas
das Fayad-Experiment mit relativer Nachsicht behandelt.
Fayad ist ein Mann des Kompromisses. Er würde mit der Hamas einen
modus vivendi schon längst erreicht haben, wenn die USA nicht
ein totales Veto auferlegt hätten.
Die palästinensische Teilung ist zu einem großen Teil „made in“
den US und Israel. Israel hat dazu beigetragen, dass der physische
Kontakt zwischen der Westbank und dem Gazastreifen völlig
unterbrochen ist – eine grobe Verletzung des Oslo-Abkommens, die die
Westbank und den Gazastreifen als ein zusammengehöriges Gebiet
definiert. Israel verpflichtete sich, vier „sichere Passagen“
zwischen den beiden Gebieten zu eröffnen. Sie waren nicht einen
einzigen Tag geöffnet.
Die Amerikaner haben eine primitive Vorstellung der Welt, die wohl
noch aus der Zeit des wilden Westens stammt: überall gibt es gute
Kerls und böse Kerls. In Palästina sind die Guten die Leute der
Palästinensischen Behörde – die Bösen sind die Hamas. Fayad wird
noch hart arbeiten müssen, Washington davon zu überzeugen, einen
Standpunkt einzunehmen, der etwas nuancierter ist.
WAS WIRD geschehen, wenn sich Fayads Wagnis als historischer
Fehler herausstellt? Wenn die Pro-Israel-Lobby gegen den Staatsmann
und die Generäle gewinnt? Oder wenn irgend eine Weltkrise die
Aufmerksamkeit des Weißen Hauses in eine andere Richtung lenken
wird?
Wenn Fayad scheitert, wird jeder Palästinenser die offensichtliche
Schlussfolgerung ziehen: es gibt keinerlei Chance für eine
friedliche Lösung. Eine blutige Intifada wird folgen, die Hamas wird
die Kontrolle über das palästinensische Volk übernehmen – und auch
diese wird von viel radikaleren Kräften verdrängt werden.
Salam Fayad kann tatsächlich sagen: nach mir die Sintflut.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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