Eine Herzensangelegenheit
Uri Avnery, 11.7.09
JEDES DEUTSCHE Kind kennt die Geschichte vom Hauptmann von Köpenick.
Diese ereignet sich 1906 in Deutschland, als das Zweite Reich seinen
Höhepunkt der Macht erlebt und von einem Kaiser regiert wird, der
fast immer mit einer herrlichen Militäruniform in Erscheinung tritt.
Ein Schumacher mit Namen Wilhelm Voigt wurde aus dem Gefängnis
entlassen, wo er wegen Betrugs einsaß. Er braucht einen Pass, um
Arbeit zu bekommen, aber Verbrecher können keinen Ausweis erlangen.
Der Schumacher geht in einen Maskeradeladen und zieht sich die
Uniform eines Hauptmanns an. Er kommandiert eine Gruppe Soldaten,
die zufällig gerade die Straße entlang kommt. Diese bemerken zwar
einiges Ungewöhnliche an seiner Uniform, sie wagen aber nicht, einem
Offizier nicht zu gehorchen.
Der „Hauptmann“ lässt die Soldaten in die kleine Stadt Köpenick,
einen Vorort von Berlin, marschieren, verhaftet den Bürgermeister
und konfisziert die Stadtkasse, die voller Blanko-Pässe war. Für die
Polizei ist es nicht schwierig, herauszufinden, wer die Untat
begangen hat. Er ist bald danach wieder verhaftet.
Als ein Adjutant diese Nachricht dem Kaiser überbringt, hält der Hof
erst einmal den Atem an. Nach einem spannenden Moment oder zweien,
bricht der Kaiser in Gelächter aus. Ganz Deutschland lacht mit und
mit ihm bald das übrige Europa.
Der Hauptmann von Köpenick wurde zur Legende, weil sein Streich ein
Schlaglicht auf das Wesen des Regimes warf: Im militaristischen
Deutschland jener Zeit – kurz vor dem Ersten Weltkrieg - bedeutete
der militärische Rang Autorität, die nicht hinterfragt wurde.
VIELLEICHT stimmt es, dass jedes Land eine solche Episode hat, die
mit einem Schlag die Hauptschwächen seines Regimes aufzeigt. In
Israel war es bis letzte Woche die Affäre mit der
Ramat-Gan-Lichtbirne.
Im
März 1982 verkündete der Wirtschaftsminister Yaakov Meridor, ein
führendes Mitglied des Likud, dass ein Wissenschaftler mit Namen
Danny Berman eine Erfindung gemacht habe, die weltweit revolutionär
sein werde. Mit einem einfachen chemischen Prozess sei er in der
Lage, genügend Energie zu schaffen, um ganz Ramat Gan mit einer
einzigen Birne zu erleuchten. Ramat Gan ist eine Schwesterstadt Tel
Avivs und fast genau so groß.
Yaacov Meridor (kein Verwandter des augenblicklichen Ministers Dan
Meridor) war nicht irgendwer. Er war der Kommandeur des Irgun, bevor
Menachem Begin kam; und später hat er ein größeres wirtschaftliches
Unternehmen in Afrika aufgebaut. Er war die Nummer Zwei als
Likudführer, und es war kein Geheimnis, dass Begin ihn als seinen
Erben und Nachfolger betrachtete.
Vor Meridors Verkündigung kam ein Reporter meines
Nachrichtenmagazins Haolam Hazeh zu mir und erzählte mir atemlos von
der wunderbaren Erfindung. Ich antwortete mit einem Wort: Unsinn.
Meine Zeit als Herausgeber eines Enthüllungsmagazins hat meine Nase
sensibilisiert. Ich kann falsche Geschichten von ferne riechen. Aber
das ganze Land war wie aus dem Häuschen.
In
den folgenden Tagen stellte sich die Erfindung als einfacher Betrug
heraus. Berman, das Genie, der als früherer Luftwaffenoffizier
posierte, wurde als Betrüger mit krimineller Vorgeschichte entlarvt.
Meridor verlor seine politische Zukunft. Aber eine kleine Gruppe von
„wahren Gläubigen“ einschließlich meines Reporters, schworen weiter,
Berman sei tatsächlich ein missverstandenes Genie.
Wie konnte nur eine so völlig unsinnige Geschichte ohne irgendeine
Grundlage das Interesse eines ganzen Landes erregen und allgemeine
Akzeptanz gewinnen – wenigstens anfangs? Sehr einfach: es drückt
eine tiefsitzende Überzeugung der israelischen Öffentlichkeit aus:
dass Juden das intelligenteste Volk der Erde sei.
Übrigens ist dies eine gemeinsame Überzeugung von Juden und
Antisemiten. Das berüchtigte Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von
Zion“, die eine jüdische Verschwörung zur Übernahme der
Weltherrschaft enthüllten, gründet sich auf diesen Glauben.
Es
gibt viele Theorien, die vorgeben, die angebliche Überlegenheit des
„jüdischen Gehirns“ erklären zu können. Die einen behaupten, dass in
den zweitausend Jahren der Verfolgung die Juden gezwungen waren,
ihre Intelligenz zu entwickeln, um zu überleben. Eine andere Theorie
lautet: im mittelalterlichen katholischen Europa wurden die
intelligentesten Männer Priester oder Mönche, deren Zölibat sie
hinderte, ihre Gene an Nachkommen weiterzugeben, während es in
jüdischen Gemeinden üblich war, dass reiche Eltern ihre Töchter mit
den hervorragendsten jungen Schriftgelehrten verheirateten.
IN
DIESER Woche wurde die Ramat Gan-Lichtbirne von einer noch
großartigeren Erfindung übertrumpft: dem Herzaufkleber.
Die Wirtschaftsbeilage von Haaretz veröffentlichte einen Knüller:
eine praktisch unbekannte israelische Firma hat ein Drittel ihrer
Anteile an eine Taiwanisch-Britische Gesellschaft für 370 Millionen
Dollar verkauft, was bedeutete, dass sie eine Milliarde wert ist.
All dies dank einer revolutionären Erfindung: ein kleiner Sticker,
der auf die Brust geklebt wird, kann eine entscheidende halbe Stunde
im voraus eine Herzattacke anzeigen. Der Sticker sendet über ein
Handy und einen Satelliten Warnungen. Dies würde die Möglichkeit
geben, unzähligen Menschen das Leben zu retten.
Am
Abend erschien einer der Chefs dieser glücklichen Firma im Fernsehen
und enthüllte, dass der Wundersticker noch viel mehr kann: er könnte
z.B. den Blutzucker messen, ohne in den Körper zu dringen.
Meine Nase begann sofort zu zucken.
Und tatsächlich begannen die Medien einen Tag später, der Sache auf
den Grund zu gehen, und enthüllten eine seltsame Sache nach der
anderen. Keiner hatte bis jetzt den Wundersticker gesehen. Kein
Patent war registriert worden. Kein Kardiologe oder ein anderer
Experte hatte ihn geprüft. Keine wissenschaftliche Zeitschrift
erwähnte dies. Und anscheinend war noch kein wissenschaftliches
Experiment durchgeführt worden.
Die Taiwanisch-Britische Gesellschaft hatte keinen Vertreter nach
Israel geschickt, um die Erfindung zu prüfen, für die sie angeblich
eine Riesensumme gezahlt hatte. Die Verhandlungen waren alle mit
E-Mails erfolgt, ohne persönlichen Kontakt. Die beteiligten Anwälte
weigerten sich, das unterzeichnete Abkommen zu zeigen.
Als Reporter die ausländische Gesellschaft kontaktierten, wussten
sie überhaupt nichts von der Sache. Es sieht so aus, als habe der
„Erfinder“ eine PC-Domäne mit einem ähnlichen Namen registriert und
so die Aktien an sich selbst verkauft.
In
dieser Phase fiel das Kartenhaus in sich zusammen. Es kam heraus,
dass der „Erfinder“ schon zweimal wegen Betrugs im Gefängnis saß.
Aber seine Partner bestehen darauf, dass es eine ernst zu nehmende
Sache sei und dass innerhalb von Tagen oder gar Stunden der geniale
Erfinder alles aufdecken würde. Die Kritiker müssten dann einen
Besen fressen.
Die Besen wurden nicht gefressen, und die Partner verließen einer
nach dem anderen das Schiff.
WAS DIE Affäre von einer amüsanten „Betrugsaffäre in eine bedeutende
nationale Angelegenheit verwandelte, war die Bereitschaft des ganzen
Landes, einen ganzen Tag lang die Geschichte als weiteren Beweis des
‚jüdischen Genius’ zu akzeptieren.
Nicht weniger typisch war die Identität ihrer Helden. Nummer eins
war der Erfinder selbst, der weiter protestierte, dass er gerade
dieses Mal kein Betrüger sei. Nummer zwei war sein Partner, der
Geschäftsmann, der ein Komplize des Betruges war oder auch nicht
war. Aber die interessanten Charaktere sind die beiden anderen
Protagonisten.
Nummer drei ist lange Zeit der engste Freund von Binyamin Netanyahu
gewesen, besonders von seiner Frau Sarah (die jedem mit dem
kindlichen Diminutiv Sara’le bekannt ist). Auf der Höhe des Skandals
trat er vom Job als Generaldirektor zurück, nachdem es ihm nicht
gelungen war, eine Kopie des berühmten Kontraktes zu bekommen.
Vorausgesetzt, dass dieser Freund Netanyahus tatsächlich unschuldig
ist, lässt sein Intelligenzgrad ernsthafte Zweifel aufkommen. Doch
mag es nicht die Intelligenz sein, nach der die Netanyahufamilie
ihre engen Freunde aussucht.
Dies trifft noch mehr bei Nr.4 zu: Haggai Hadas. Welch genauen
Anteil er an der Sache hatte, ist nicht ganz klar. Anfangs
verteidigte er die Erfindung rigoros und schien vom Kopf bis Fuß
darin verwickelt zu sein; aber als die Sache aufflog, versuchte er
verzweifelt, davon wegzukommen.
Warum ist dies außerhalb des allgemeinen Tagesgeschwätzes so
wichtig? Haggai Hadas hat, abgesehen davon, dass er Netanyahus
Vertrauen genoss und - wie berichtet, - ein persönlicher Freund
seiner Frau war, in der Vergangenheit als Chef der
Operationsabteilung des Mossad gedient, des dritt- wichtigsten
Posten bei der Spionageagentur. Er könnte jetzt der Mossad-Chef
gewesen sein, wenn der Amtsinhaber nicht jeden anderen aktiv daran
gehindert hätte, dem Job zu nahe zu kommen.
Vor ein paar Wochen berief Netanyahu Hadas für einen sehr sensiblen
Posten im Sicherheitsestablishment: die Bemühungen zu koordinieren,
um den „gekidnappten“ Soldaten Gilad Shalit frei zu bekommen.
Wenn wir nicht annehmen wollen, dass dieser Mann, ein Vertrauter des
Ministerpräsidenten und ein ranghoher Offizier des Mossad ist, der
verantwortlich für Entscheidungen über Leben und Tod ist, ein
Komplize eines gemeinen Betrugs war, dann kommt man nicht um die
Schlussfolgerung herum, dass sein Urteilsvermögen schwer
beeinträchtigt ist und dass er in eine Falle getappt ist, die jede
Person mit gesundem Menschenverstand von weitem hätte erkennen
können.
Wie kann solch eine Person mit solch sensibler Aufgabe wie den
Verhandlungen um einen Gefangenenaustausch mit der Hamas betraut
werden, an der raffinierte ägyptische Vermittler beteiligt sind?
Und was sagt dies über das Urteilsvermögen von Netanyahu selbst aus,
der ihn für diese Aufgabe berief, besonders, wenn seine Frau ihn
darum gebeten haben sollte ?
DIESE WOCHE war noch durch einen anderen Meilenstein gezeichnet: das
Ende der ersten hundert Tage von Netanyahus zweiter Amtsperiode als
Ministerpräsident.
Die Kadimaleute erfanden einen eingängigen Slogan: „Hundert Tage,
Null Errungenschaften“.
Als erstes ernannte Netanyahu eine aufgeblähte Regierung, in der ein
Drittel aller Knessetmitglieder als Minister oder stellvertretende
Minister dienen, viele von ihnen ohne ersichtliche Aufgaben. Zwei
der drei wichtigsten Ministerien wurden total ungeeigneten Personen
zugewiesen: das Finanzministerium an einen ökonomisch Unbedarften
und das Außenministerium an einen Rassisten, der von vielen der
prominentesten Regierenden offen gemieden wird.
Dann kam eine Reihe von Gesetzen und Maßnahmen, die mit großen
Fanfaren verkündigt wurden, um dann still fallen gelassen zu werden.
Das letzte Beispiel: das Belegen von Mehrwertsteuer auf Früchte und
Gemüse, was im letzten Augenblick auch fallen gelassen wurde.
Aber der Inbegriff von Ineffektivität war die Unfähigkeit, den Stab
des Ministerpräsidenten zusammen zu stellen. Der Berater für
nationale Sicherheit, Usi Arad ist nicht an Frieden interessiert -
weder mit den Palästinensern noch mit den Syrern und will sich nur
mit dem Iran-Problem beschäftigen. ( In dieser Woche verkündete
Präsident Barack Obama ein offizielles und eindeutiges Verbot für
jeden israelischen Angriff auf den Iran). Der Kabinettschef; der
Generaldirektor des Büros des Ministerpräsidenten, der politische
Berater und andere Mitglieder des Stabs verachten einander und
machen sich nicht einmal die Mühe, dies zu verbergen. Der
Presse-Berater ist in dieser Woche schon ausgetauscht worden und
eine Freundin von Sarah Netanyahu wurde als Beraterin für
„Staatsmarkierung“ (Weiß jemand, was dies bedeutet ?) ernannt.
Unterdessen ist Sara’le wieder ins Rampenlicht zurückgekehrt. Eine
frühere Stewardess der Luftlinie, die Netanyahu in einem Flughafen
im Duty-free-Laden traf, als er noch mit seiner zweiten Frau
verheiratet war. Sie war allgemein unbeliebt und diente während der
ersten Amtszeit ihres Mannes als Zielscheibe vieler Witze. Dieses
Mal bemühte man sich, sie im Hintergrund zu halten. Als der
Ministerpräsident trotzdem darauf bestand, sie mit nach Washington
zu nehmen, vermied Michelle Obama, sie zu treffen. Als er
verpflichtet war, einige europäische Länder zu besuchen, wurde sie
im letzten Augenblick von der Liste gestrichen. Aber anscheinend ist
sie im Hintergrund sehr aktiv, besonders so weit es wichtige
ranghohe Ernennungen betrifft.
Vielleicht braucht dieses Land wirklich einen Wunderaufkleber.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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