Als Napoleon bei Waterloo siegte
Uri Avnery, 2.9.06
NAPOLEON GEWANN die Schlacht bei Waterloo. Die deutsche
Wehrmacht siegte im 2.Weltkrieg. Die USA gewann den
Vietnamkrieg und die Sowjets in Afghanistan. Die
jüdischen Zeloten besiegten die Römer, und Ehud Olmert
gewann den 2. Libanonkrieg.
Das
ist nicht bekannt? Nun, während der letzten paar Tage
stolzierte in den israelischen Medien eine lange Reihe
von Experten, die keinen Raum für Zweifel ließen: der
Krieg brachte uns große Errungenschaften, die Hisbollah
war vernichtend geschlagen worden, Olmert ist der große
Sieger.
Die
Gastgeber und Moderatoren der Fernseh-Talkshows
stellten ihre Mikrophone in den Dienst von Professoren,
Öffentlichkeitsexperten, „Sicherheitsleuten“ und
„Strategen“ (ein Titel, der nicht Generäle bezeichnet,
sondern Berater von Politikern). Alle stimmen darin
überein: es war ein wirklicher Sieg.
Als
ich gestern den Fernseher anschaltete, sah ich eine
Person, die mit großer Selbstsicherheit erklärte, dass
unser Sieg im Libanon den Weg für einen unvermeidlichen
Krieg mit dem Iran ebnet. Die Analyse, die fast
vollständig aus Klischees zusammengesetzt war, entsprach
der eines Gymnasialschülers. Ich war erschrocken, als
ich erfuhr, dass der Mann ein früherer Chef des Mossad
war. Auf jeden Fall haben wir den Krieg gewonnen, und
wir sind dabei, den nächsten Krieg zu gewinnen.
Deshalb ist eine Untersuchungskommission gar nicht
nötig. Was gibt es denn zu untersuchen? Alles, was wir
brauchen, sind ein paar Komitees, die kleine, hier und
dort geschehene Schnitzer klären sollen.
Rücktritte sind absolut unnötig. Warum auch? Was ist
denn geschehen? Sieger treten nicht zurück. Ist Napoleon
nach Waterloo zurückgetreten? Traten die Präsidenten
Johnson und Nixon nach dem, was in Vietnam geschehen
war, zurück? Sind die Zeloten nach der Zerstörung des
Tempels zurückgetreten?
SPASS BEISEITE, die Parade von Olmerts Handlangern beim
Fernsehen, dem Radio und den Printmedien erzählen uns
einiges. Nicht über die Errungenschaften von Olmert als
dem Staatsmann und Strategen, sondern über die
Integrität der Medien.
Als
der Krieg ausbrach, ordneten sich alle Medienleute auf
ein und dieselbe Linie ein und wurden über Nacht zu
einem Propaganda-Bataillon. Alle Medien – ohne Ausnahme
– wurden Teile der Kriegsmaschine; sie scharwenzelten um
Olmert, Peretz und Halutz, wurden beim Anblick der
Zerstörungen im Libanon immer enthusiastischer und
sangen Loblieder über die „Standhaftigkeit der zivilen
Bevölkerung“ im Norden Israels. Die Öffentlichkeit wurde
ständigen Siegesnachrichten ausgesetzt, die buchstäblich
vom frühen Morgen bis spät in die Nacht liefen.
Die
Regierung und die Armeesprecher bestimmten gemeinsam mit
Olmerts Propagandateam, wann was veröffentlicht werden
durfte – und was noch wichtiger ist, worüber zu
schweigen war.
Das
fand im Wort „Wortwäsche“ seinen Ausdruck. Anstelle von
präzisen Wörtern kamen missverständliche Ausdrücke: Als
im Libanon schwere Kämpfe wüteten, sprachen die Medien
von „Schusswechsel“. Der feige Hassan Nasrallah
versteckte sich in seinem Bunker, während unser
tapferer Generalstabschef von seinem
Untergrundkommandoposten aus (mit dem Spitznamen „die
Höhle“) die Operationen leitete.
Die
feigen „Terroristen“ der Hisbollah versteckten sich
hinter Frauen und Kindern und operierten mitten aus den
Dörfern - völlig anders als unser
Verteidigungsministerium und Generalstab, die mitten im
bevölkertsten Teil Israels angesiedelt sind. Unsere
Soldaten waren nicht bei einer Militäraktion gefangen
genommen, sondern „entführt“ worden wie Opfer von
Gangstern, während unsere Armee die Führer von Hamas
„verhafteten“. Die Hisbollah wird – wie wir alle wissen
- vom Iran und von Syrien „finanziert“, anders als
Israel, das „ großzügige Unterstützung“ von unserm
großen Freund und Verbündeten, der USA, erhält.
Da
gab es natürlich einen Unterschied wie Tag und Nacht
zwischen der Hisbollah und uns. Wie kann man nur
vergleichen? Hisbollah schoss Granaten auf uns, um ganz
bewusst Zivilisten zu töten, und tötete tatsächlich etwa
dreißig von ihnen. Während unser Militär, „die
moralischste Armee der Welt“, sich große Mühe gab, keine
Zivilisten zu treffen und deshalb nur etwa 800
libanesische Zivilisten, die Hälfte davon Kinder, ihr
Leben bei den Bombardements, die alle nur auf
militärische Ziele gerichtet waren, verloren haben.
Kein
General konnte mit den Militärkorrespondenten und
-Kommentatoren verglichen werden, die täglich im
Fernsehen in eindrucksvollen militärischen Posen
erschienen und über den Kampf berichteten, und
verlangten, tiefer in den Libanon vorzudringen. Nur sehr
aufmerksame Beobachter bemerkten, dass sie die Kämpfer
gar nicht begleiteten und auch nicht die Gefahren und
Schmerzen der Schlacht teilten – etwas sehr Wesentliches
bei einer ehrlichen Kriegsberichterstattung. Während des
ganzen Krieges sah ich nur zwei Reportagen, die wirklich
den Geist der Soldaten reflektierten – die eine von Itay
Angel und die andere von Nahum Barnea.
Der
Tod von Soldaten wurde im Allgemeinen erst nach
Mitternacht mitgeteilt, wenn die meisten schon
schliefen. Während des Tages meldeten die Medien nur
von „verletzten“ Soldaten. Der offizielle Vorwand war
der, dass man erst die Familien verständigen müsse. Das
stimmt zwar – aber es betraf nur die Namen der
gefallenen Soldaten. Es betraf keinesfalls die Zahl der
Toten. (Die Öffentlichkeit hat allerdings schnell
begriffen und verstanden, dass „verwundet“ „getötet“
bedeutet.)
NATÜRLICH WAREN unter den fast tausend Leuten, die
während des Krieges von den Fernsehstudios eingeladen
waren, um ihre Ansichten zu äußern, keine Stimmen, die
den Krieg selbst kritisierten. Zwei oder drei, die aus
Alibi-Gründen eingeladen worden waren, wurden als
lächerliche und irre Typen hingestellt. Zwei oder drei
arabische Bürger waren auch eingeladen worden, aber die
Talkmeister fielen über sie wie Jagdhunde über ihre
Beute her.
Wochenlang unterdrückten die Medien die Tatsache, dass
Hunderttausende Israelis den bombardierten Norden
verlassen hatten und nur die Ärmsten zurück gelassen
wurden. Das hätte die Legende von der „Standhaftigkeit
des Hinterlandes“ erschüttert.
Alle
Medien (mit Ausnahme des Internets) unterdrückten
vollkommen die Nachrichten über die Demonstrationen
gegen den Krieg, die fast täglich stattfanden und die
schnell größer wurden: von einigen Dutzenden am
Anfang zu Hunderten und Tausenden später widmete nur
Kanal 1 ein paar Sekunden der kleinen Demo von Meretz
und Peace Now, die kurz vor Kriegsende stattfand. (Beide
Gruppen hatten den Krieg fast bis zum Ende begeistert
unterstützt.)
Ich
sage dies nicht als Dozent für Kommunikationswesen
oder als verärgerter Politiker. Ich bin von Kopf bis
Fuß eine Medienperson. Seit meinem 17. Lebensjahr habe
ich als Journalist und Reporter, Kolumnist und
Redakteur gearbeitet. Ich weiß sehr wohl, wie Medien von
moralischer Integrität arbeiten sollten. (Den einzigen
Preis, den ich jemals in meinem eigenen Land erhielt,
wurde mir von der Journalisten-Gesellschaft für das
„Lebenswerk im Journalismus“ verliehen.)
Übrigens denke ich nicht, dass das Verhalten unserer
Medien schlechter war als das der amerikanischen
Kollegen zu Beginn des Irakkrieges oder der britischen
Medien während des Falkland-Malvinaskrieges. Aber die
Skandale der anderen können kein Trost für die eigenen
sein.
Auf
dem Hintergrund dieser massiven Gehirnwäsche muss man
auf die wenigen hinweisen, die man mit den Fingern
beider Hände zählen kann, die sich nicht dem
allgemeinen Chor angeschlossen haben und die in den
Printmedien ihre Kritik äußerten, so weit es ihnen
erlaubt war. Die Namen sind wohl bekannt – und ich werde
sie nicht aufzählen, aus Sorge, jemanden zu übersehen
und damit eine unverzeihliche Sünde zu begehen. Sie
können erhobenen Hauptes gehen. Das Problem liegt bloß
darin, dass ihre Kommentare nur auf den
Meinungsseiten stehen, die einen begrenzten Einfluss auf
die Öffentlichkeit haben und auf den Nachrichtenseiten
und in den Nachrichtenprogrammen völlig fehlen , die die
tägliche öffentliche Meinung gestalten.
Wenn
die Medienleute jetzt leidenschaftlich über die
Notwendigkeit aller möglichen Untersuchungskommissionen
–und Komitees debattieren, sollten sie vielleicht ein
persönliches Beispiel geben und eine
Untersuchungskommission aufstellen, die die Aktionen der
Medien selbst zu einem Zeitpunkt der höchsten
Bewährungsprüfung untersucht
IN
GOETHES „Faust“ stellt sich der Teufel selbst dar als
die „Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute
schafft“. Nun ich will – Gott bewahre! – die Medien
nicht mit dem Teufel vergleichen – aber das Resultat ist
dasselbe: durch die begeisterte Unterstützung des
Krieges verschlimmerten die Medien das Gefühl des
Fehlschlages, das danach folgte und das womöglich am
Ende sogar noch einen positiven Einfluss hat.
Die
Medien nannten die Hisbollah eine „Terrororganisation“
und erweckten so den Eindruck einer kleinen Gruppe von
„Terroristen“ mit Fähigkeiten, die man übersehen könnte.
Als es sich herausstellte, dass es sich um eine
effiziente und gut ausgebildete militärische Kraft mit
entschlossenen Kämpfern, effektiven Raketen und anderen
Waffen handelt, die gegen unsere riesige Militärmaschine
33 Tage ohne Unterbrechung durchhalten konnte, wurde die
Enttäuschung sogar noch größer.
Nachdem die Medien unsere Militärkommandeure als
Supermänner gerühmt hatten und auf jede einzelne ihrer
Prahlereien mit Lobhudelei reagiert hatten, als ob sie
fast göttliche Offenbarungen wären, wurde die
Enttäuschung natürlich größer, als sich ernsthafte
Fehler in der Strategie, der Taktik, im
Nachrichtendienst und der Logistik auf allen Ebenen des
ranghohen Kommandos gezeigt hatten.
Das
half mit zum gründlichen Wechsel der öffentlichen
Meinung, der schon vor Kriegsende einsetzte. So groß,
wie das Selbstvertrauen war, so bedrückend war nun das
Gefühl des Fehlschlags. Die Götter hatten versagt. Dem
Kriegsrausch folgte am nächsten Morgen der
Katzenjammer.
Und
wer rannte auf dem Weg zum Platz der Guillotine an der
Spitze des Mobs, der nach Rache schrie? Natürlich die
Medien.
Ich
kann mich nicht an einen einzigen Talkshowmeister,
Moderator, Reporter oder Redakteur erinnern, der seine
Schuld bekannt und um Vergebung für seinen Teil der
Gehirnwäsche gebeten hat. Alles was gesagt, geschrieben
oder fotografiert worden war, ist wie weggewischt. Es
ist so, als hätte es sich nicht ereignet.
Jetzt, wo der Schaden nicht mehr repariert werden kann,
setzen sich die Medien an die Spitze derjenigen, die die
Wahrheit verlangen und nach Strafe für all die
skandalösen Entscheidungen schreien, die von der
Regierung und dem Generalstab getroffen wurden: die
unnötige Verlängerung des Krieges nach den ersten 6
Tagen, das Im-Stich-lassen des Hinterlands, die
Vernachlässigung der Reserve, die Zurückhaltung der
Landarmee, dass sie nicht am Tag X, sondern erst am Tag
Y in den Libanon geschickt wurde, die Ignorierung des
Aufrufs der G8-Staaten zur Feuerpause und vieles mehr.
Aber
Moment mal –
Während der letzten paar Tage wendete sich das Rad noch
einmal. Wie bitte? Wir haben den Krieg nicht verloren?
Moment mal – wir haben gewonnen? Nasrallah hat sich
entschuldigt? (Nach strengen Befehlen von oben wurde das
volle Interview nicht ausgestrahlt, aber die eine
Passage, in der er einen Fehler zugegeben hat, wurde
immer wieder ausgestrahlt.)
Die
sensiblen Nasen der Medienleute spürten eine Veränderung
der Windrichtung. Einige haben nun auch schon den Kurs
verändert. Wenn es eine neue Woge in der öffentlichen
Meinung gibt, warum sollte man nicht auf ihr reiten?
Oder ?
WIR
NENNEN dies den „Altalena-Effekt“.
Für
die, die es nicht wissen oder es schon vergessen haben:
Die Altalena war ein kleines Schiff, das in der Mitte
des Krieges von 1948 an der Küste Israels ankam, eine
Gruppe der Irgunleute und eine Menge Waffen an Bord
hatte, deren Bestimmung nicht klar war. David Ben
Gurion fürchtete einen Putsch und befahl, das Schiff
vor der Küste Tel Avivs zu bombardieren. Einige Leute
kamen dabei um; Menachem Begin, der an Bord gegangen
war, wurde ins Wasser gestoßen und so gerettet. Das
Schiff sank. Die Irgun zerstreute sich, und seine
Mitglieder schlossen sich der israelischen Armee an.
29
Jahre später kam Begin an die Macht. Alle
Karrieremacher schlossen sich ihm eilig an. Und im
Rückblick sah es so aus, als wäre praktisch jeder an
Bord der Altalena gewesen. Das kleine Boot war zu einem
riesigen Flugzeugträger geworden, bis der Likud seine
Macht verloren hatte - und die Altalena wieder zur
Größe eines Fischerbootes zusammenschrumpfte.
Der
2.Libanonkrieg war wie eine mächtige Altalena . Alle
Medien versammelten sich auf dem Deck. Aber einen Tag,
nachdem der Krieg vorüber war, erfuhren wir, dass es
sich um eine optische Täuschung gehandelt hatte: absolut
niemand war dort gewesen, außer dem Kapitän Olmert, dem
1. Offizier Peretz und dem Steuermann Halutz. Das kann
sich jetzt jeden Augenblick ändern, wenn das
vertrauende Publikum überzeugt werden kann, dass wir den
Krieg trotz allem gewonnen haben.
Wie
schon früher einmal gesagt wurde: in Israel verändert
sich nichts, außer der Vergangenheit.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |