Guten Morgen, Elijahu!
Uri Avnery, 23.08.06
EINE ANEKDOTE erzählt, dass Oscar Wilde einmal die
Premiere eines Kollegen besuchte und alle paar Minuten
seinen Hut zog. Als er wegen seines seltsamen Betragens
gefragt wurde, antwortete er: „ Ich bin eine höfliche
Person, und ziehe meinen Hut, wenn ich alten Bekannten
begegne.“
Wenn ich einen Hut hätte, würde ich ihn in diesen Tagen
alle paar Minuten ziehen, wenn ich im Fernsehen
Talkshows ansehe, dem Radio lausche oder die Zeitung
lese. Ich stoße da auf Dinge, die ich schon vor Jahren
geschrieben habe und besonders auf Dinge, die ich seit
Beginn des Krieges geschrieben habe.
Zum Beispiel: seit Jahrzehnten habe ich immer wieder
davor gewarnt, dass die Besatzung unsere Armee
korrumpiert. Nun sind die Zeitungen voll kluger
Artikel geachteter Kommentatoren, die - welch eine
Überraschung! – entdecken, dass die Besatzung unsere
Armee korrumpiert hat.
Dazu sagen wir auf Hebräisch: „Guten Morgen, Elijahu!“
Du bist anscheinend endlich aufgewacht.
Sollte in meiner Bemerkung etwas Ironie liegen, so bitte
ich um Entschuldigung. Ich schrieb immer in der
Hoffnung, dass meine Worte die Leser überzeugen – und
zwar vor allem die Leute des israelischen Establishments
– und dass sie sie weitergeben. Wenn dies also jetzt
geschieht, bin ich über die Plagiate glücklich.
Aber nun ist wichtig, auszudrücken, auf welche Weise die
Besatzung „unsere Armee korrumpiert“ hat. Sonst bleibt
dies nur ein inhaltsloser Slogan, und wir lernen gar
nichts davon.
EIN PERSÖNLICHER Rückblick: In der Mitte des Krieges
von 1948 machte ich eine unerfreuliche Erfahrung. Nach
einem schweren Kampftag war ich auf einen Feld in der
Nähe des arabischen Dorfes Suafir (heute Sapir) fest
eingeschlafen. Rund um mich schliefen auch die andern
Soldaten meiner Kompanie, der Samsonfüchse. Plötzlich
wachte ich durch eine fürchterliche Explosion auf. Ein
ägyptisches Flugzeug hatte eine Bombe auf uns fallen
lassen. Niemand wurde getötet, nur einer verwundet.
Wie kam das? Sehr einfach: jeder von uns lag in seiner
persönlichen Fuchshöhle, die jeder trotz der Müdigkeit
vorher gegraben hatte. Zu jener Zeit war es
selbstverständlich, dass wenn wir irgendwo ankamen, dass
wir uns eingruben. Manchmal wechselten wir dreimal am
Tag den Standort und jedes Mal gruben wir uns eine
„Fuchshöhle“. Wir wussten, dass davon unser Leben
abhing.
Nun nicht mehr. Auf einem der Höhepunkte des 2.
Libanonkrieges wurden 12 Mitglieder einer Kompanie in
der Nähe von Kfar Giladi von einer Rakete tödlich
getroffen, während sie auf einem offenen Feld saßen. Die
Soldaten beschwerten sich später, dass sie nicht zu
einem Unterstand geführt worden waren. Hatten die
Soldaten noch nichts von einer „Fuchshöhle“ gehört?
Hatten sie überhaupt eine persönliche Schaufel bei sich?
Warum versammelten sich Soldaten innerhalb des Libanon
statt in Fuchshöhlen in Räumen von Häusern, wo sie von
Panzergranaten getroffen werden konnten?
Es scheint, als hätte sich die Armee diese Gewohnheit
abgewöhnt. Kein Wunder: eine Armee. Die sich nur mit
„Terroristen“ in der Westbank und im Gazastreifen
befasst, muss keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen
beachten: keine Flugzeuge bombardieren sie, keine
Artillerie feuert Granaten auf sie. Sie brauchen keinen
besonderen Schutz.
DAS BETRIFFT alle unsere bewaffneten Kräfte zu Lande,
zu Wasser und in der Luft. Das ist sicherlich wie Luxus,
gegen einen Feind zu kämpfen, der sich nicht selbst
verteidigen kann. Aber es ist gefährlich, wenn man sich
an solch einen Zustand gewöhnt.
Die Marine zum Beispiel. Seit Jahren schipperte sie an
den Küsten des Gazastreifens und des Libanon vorbei,
feuerte nach Lust und Vergnügen, verhaftete Fischer,
kontrollierte Schiffe. Sie dachte gar nicht daran, dass
der Feind zurückschießen könnte. Plötzlich geschah es –
und sogar life im Fernsehen. Die Hisbollah traf sie mit
einer Land-See-Rakete.
Da war die Überraschung groß. Es wurde sogar als
Frechheit empfunden. Was, ein Feind, der zurückschießt?
Was kommt als nächstes? Und warum hat uns der
Armeegeheimdienst nichts von einer Land-See-Rakete
gesagt?
DEN LUFTSTREITKRÄFTEN ging es nicht anders als der
Flotte. Seit Jahren schossen die Piloten, bombardierten
und töteten nach Laune. Sie waren in der Lage, mit
großer Genauigkeit einen fahrenden PKW (natürlich
zusammen mit Passanten) zu treffen. Ihr technisches
Wissen und Können ist ausgezeichnet. Aber keiner schoss
auf sie, während sie ihren Job ausführten.
Die Burschen der britischen Luftwaffe waren während des
Blitzkrieges (2. Weltkrieg) mit den entschlossenen
Piloten der deutschen Luftwaffe konfrontiert – und die
meisten von ihnen wurden getötet. Später mussten die
Briten und Amerikaner, die die deutschen Städte
bombardierten, durch eine mörderische Flackabwehr.
Unsere Piloten dagegen haben keine solchen Probleme.
Wenn sie über der Westbank und über dem Gazastreifen in
Aktion sind, gibt es keine feindlichen Piloten, keine
Land-Luft-Raketen, keine Flack. Der Himmel gehört
ihnen. Sie können sich auf ihren Job konzentrieren: die
Infrastruktur des Lebens zerstören und als fliegende
Henker agieren, die Objekte der „gezielten Liquidationen
eliminieren“, „einen leichten Schlag am Flügel spüren“
während eine ein Tonnen-Bombe über einem Wohnviertel
ausgeklinkt wird.
Schafft dies eine gute Luftwaffe? Bereitet dies für eine
Schlacht mit einem richtigen Feind vor? Im Libanon
trafen die Piloten (noch) nicht auf entsprechenden
Beschuss. Der einzige abgeschossene Helikopter wurde
von einer Anti-Tank-Rakete getroffen, während er
Soldaten absetzte. Aber was geschieht beim nächsten
Krieg, über den schon so viele sprechen?
UND DIE Bodentruppen? Waren sie auf diesen Krieg
vorbereitet?
Seit 39 Jahren waren sie gezwungen, den Job einer
Kolonialpolizei zu machen:
Hinter Steine werfenden Kindern und Molotow Cocktail
werfenden Jugendlichen her zu rennen, Frauen
wegzuziehen, die versuchten, ihre Söhne vor der
Verhaftung zu schützen, zu Hause schlafende Leute
gefangen zu nehmen. Stundenlang an den Kontrollpunkten
zu stehen und zu entscheiden, ob eine Schwangere ein
Krankenhaus erreichen darf oder ob ein alter kranker
Mann zurückgeschickt werden soll. Schlimmstenfalls in
eine Altstadt fallen, wo man untrainierten
„Terroristen“ gegenübersteht, die nichts anderes als
Kalaschnikovs im Kampf gegen Panzer und Flugzeuge der
Besatzer haben und Mut und unglaubliche
Entschlossenheit.
Plötzlich werden diese Soldaten in den Libanon gesandt,
um gut trainierten und hoch motivierten
Guerillakämpfern gegenüber zu treten, die beim
Ausführen ihrer Mission zum Sterben bereit sind;
Kämpfern, die gelernt haben, aus unerwarteten Richtungen
zu kommen, in gut vorbereiteten Bunkern zu verschwinden
und die die moderne und wirksame Waffen anwenden.
„Wir sind nicht auf solch einen Krieg vorbereitet
worden!“ beklagen sich jetzt die Reservesoldaten. Sie
haben Recht. Wo hätten sie trainiert werden können? In
den Gassen des Flüchtlingslagers Jabalja ? In den wohl
einstudierten Szenen mit Umarmungen und Tränen, als die
verwöhnten Siedler mit „Gefühl und fester Absicht“
umgesiedelt wurden? Natürlich war es einfacher, Yassir
Arafat und seine untrainierten Leibwächter in der Mukata
in Ramallah zu blockieren als Bint Gbeil ein übers
andere mal einzunehmen.
Dies trifft noch mehr auf die Panzer zu. Es ist leicht,
einen Panzer auf der Hauptstraße von Gaza oder über
Häuserreihen in einem Flüchtlingslager zu fahren, wenn
er sich nur Steine werfenden Jungen gegenüber sieht,
wenn der Gegner nur aus nicht trainierten Kämpfern
besteht und keine halbwegs modernen Waffen besitzt. Es
ist ein Riesenunterschied, den- selben Panzer durch ein
Wohngebiet im Libanon zu fahren, wenn ausgebildete
Guerillas mit wirksamen Anti-Panzerwaffen hinter jeder
Ecke lauern können. Das ist eine andere Geschichte. Um
so mehr als unsere modernsten Panzer nicht gegen Raketen
immun sind.
Die tiefste Fäulnis kam im logistischen System zum
Vorschein. Es funktionierte nicht. Wie sollte es auch?
Es ist keine schwierige Logistik notwendig, um den
Soldaten am Kalandia-Kontrollpunkt Lebensmittel und
Wasser zu bringen.
ES IST EINE simple Wahrheit: seit Jahrzehnten hat unsere
Armee keinen ernsthaften militärischen Gegner gehabt.
Das letzte Mal vor 24 Jahren während des 1.
Libanonkrieges, als sie gegen die syrische Armee
kämpfte.
Damals sagten wir in meinem Magazin Haolam Hazeh, dass
der Krieg ein vollkommener militärischer Fehlschlag war,
eine Tatsache, die alle Militärkommentatoren unterdrückt
haben. Auch in jenem Krieg erreichte unsere Armee nicht
ihre Ziele nach Plan: sie erreichte sie entweder gar
nicht oder zu spät. Im syrischen Sektor erreichte sie
ihr Ziel, die Straße Beirut-Damaskus, gar nicht. Im
palästinensischen Sektor erreichte sie die Straße zu
spät und nur durch Verletzen der übereingekommenen
Feuerpause.
Der letzte ernst zu nehmende Krieg unserer Armee war der
Yom-Kippur-Krieg. Nach der anfänglich schmachvollen
Niederlage, hat sie tatsächlich noch einen
eindrucksvollen Sieg errungen. Aber das war nach nur 6
Jahren Besatzung. Nach 33 Jahren sehen wir den ganzen
Schaden, der durch das Krebsgeschwür „Besatzung“
angerichtet wurde und der sich durch alle Teile des
militärischen Körpers ausgebreitet hat.
Wie können wir das Krebsgeschwür zum Stillstand
bringen?
Der Militärkommentator Zeev Schiff hat eine Medizin.
Gewöhnlich reflektiert Schiff die Ansichten des
Armeekommandos. (Vielleicht gab es in den mehr als 40
Jahren auch einige Augenblicke, in denen er Meinungen
äußerte, die nicht identisch mit denen des
Generalstabschef waren, wenn ja, dann habe ich sie
vergessen) Er schlägt vor, die Arbeit mit der Besatzung
durch die Grenzpolizei machen zu lassen.
Das klingt ganz vernünftig, ist aber völlig
unrealistisch. Wie kann Israel eine zweite große
Streitkraft als Besatzungskraft außer der Armee
aufrecht erhalten, deren Unkosten schon an die 12
Milliarden Dollars im Jahr betragen?
Aber, Gott sei Dank, gibt es noch eine andere Medizin.
Und zwar eine erstaunlich einfache: sich von der
Besatzung befreien, ein für alle Mal in Absprache und in
Kooperation mit den Palästinensern aus den besetzten
Gebieten hinausgehen; mit dem palästinensischen Volk
Frieden machen, damit es seinen unabhängigen Staat
Seite an Seite mit Israel errichten kann..
Und da wir gerade dabei sind: wir sollten dann auch
Frieden mit Syrien und dem Libanon machen.
So dass die „Verteidigungsarmee Israels“ wie sie
offiziell auf hebräisch genannt wird, zu ihrem
ursprünglichen Zweck zurückgeführt wird: den Staat
Israel in seinen anerkannten
Grenzen zu
verteidigen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |