Der
Starke und das Süße
Uri Avnery, 1.Dezember 2012
ES WAR ein Tag der Freude.
Freude für das palästinensische Volk.
Freude für all die, die auf Frieden zwischen Israel
und der arabischen Welt hoffen.
Und – auf bescheidene Weise - auch für mich
persönlich.
Die UN-Vollversammlung, das höchste Forum der Welt,
hat mit überwältigender Mehrheit für die Anerkennung des Staates
Palästina gestimmt, wenn auch in begrenzter Weise.
Die Resolution, die auf den Tag genau vom selben
Forum vor 65 Jahren angenommen wurde, die historische Teilung
Palästinas zwischen einem jüdischen und einem arabischen Staat, ist
endlich bestätigt worden.
ICH HOFFE, ich werde für ein paar Augenblicke einer
persönlichen Feier entschuldigt.
Während des Krieges von 1948, der der ersten
Resolution folgte, kam ich zu der Schlussfolgerung, dass ein
palästinensisches Volk existiert und dass die Errichtung eines
palästinensischen Staates neben dem neuen Staat Israel eine
Vorbedingung für Frieden ist.
Als einfacher Soldat kämpfte ich in Dutzenden
Gefechten gegen die arabischen Einwohner Palästinas. Ich sah wie
Dutzende arabischer Städte und Dörfer zerstört und unbewohnt zurück
gelassen wurden. Lange bevor ich den ersten ägyptischen Soldaten
sah, sah ich, wie das palästinensische Volk,( das den Krieg begonnen
hatte), für seine Heimat kämpfte.
Vor dem Krieg hoffte ich, die Einheit des Landes, das
beiden Völkern so teuer war, könnte bewahrt werden. Der Krieg
überzeugte mich, dass dieser Traum für alle Zeiten zerstört ist.
Ich war noch in Uniform, als ich anfangs 1949
versuchte, eine Initiative für die Realisierung dessen zu gründen,
was jetzt die Zweistaaten-Lösung genannt wird. Ich traf mich zu
diesem Zweck in Haifa mit zwei jungen Arabern. Der eine war ein
Muslim, der andere ein drusischer Scheich. (Beide wurden vor mir
Knessetmitglieder.)
In jener Zeit sah dies wie eine unmögliche Mission
aus, „Palästina“ war von der Karte gewischt. 78% des Landes war
Israel geworden, die restlichen 22% zwischen Jordanien und Ägypten
aufgeteilt. Die reine Existenz eines palästinensischen Volkes wurde
vehement vom israelischen Establishment geleugnet, tatsächlich wurde
die Leugnung ein Glaubensartikel. Viel später erklärte Golda Meir
berüchtigter Weise: „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es
nicht“. Geachtete Scharlatane schrieben volkstümliche Bücher, die
„bewiesen“, dass die Palästinenser Prätendenten sind, die erst vor
kurzen angekommen seien. Die israelische Führung war überzeugt, das
„palästinensische Problem“ sei verschwunden – ein für alle Mal.
1949 gab es keine hundert Personen in der ganzen
Welt, die an diese Lösung dachten. Kein einziges Land unterstützte
diese Lösung. Die arabischen Länder glaubten noch immer, Israel
werde verschwinden. Groß-Britannien unterstützte seinen
Klientel-Staat, das haschemitische Königreich Jordanien. Die USA
hatte ihre eigenen lokalen starken Diktatoren. Stalins Sowjetunion
unterstütze Israel.
Mein Kampf war ein einsamer Kampf. Während der
nächsten 40 Jahre brachte ich als Herausgeber eines Wochenmagazins
dieses Thema fast jede Woche zur Sprache. Als ich in die Knesset
gewählt wurde, tat ich dort dasselbe.
1968 flog ich nach Washington DC, um dort für diese
Idee Propaganda zu machen. Ich wurde höflich von den zuständigen
Offiziellen im Außenministerium ( Joseph Sisko) empfangen, im
Weißen Haus (Harold Saunders), der amerikanischen Vertretung der UN
(Charles Yost), von führenden Senatoren und Kongressleuten wie auch
vom britischen Verfasser der Resolution 242 (Lord Caradon). Die
gleichbleibende Antwort aller ohne Ausnahme war: ein
palästinensischer Staat kommt nicht in Frage.
Als ich ein Buch veröffentlichte, das sich der Lösung
widmete, griff mich die PLO in Beirut 1979 mit einem Buch an, das
den Titel trägt „Uri Avnery und der Neo-Zionismus“.
Heute besteht ein Weltkonsens, dass eine Lösung des
Konfliktes ohne einen palästinensischen Staat nicht in Frage
kommt.
Warum sollte ich jetzt nicht feiern?
WARUM JETZT? Warum geschah es nicht vorher oder
später?
Wegen der Operation Wolkensäule, dem historischen
Meisterstück von Binjamin Netanjahu, Ehud Barak und Avigdor
Lieberman.
Die Bibel erzählt uns von Simson, dem Helden, der
mit bloßen Händen einen Löwen zerriss.
Als er zu diesem nach einiger Zeit zurück kam, hatte
ein Bienenschwarm den Kadaver des Löwen zu einem Bienenkorb gemacht,
in dem sie Honig produzierten. So stellte Samson den Philistern ein
Rätsel: „Aus dem Starken kommt Süßes“. Dies ist ein hebräisches
Sprichwort.
Nun kam aus der „starken“ israelischen Operation
gegen den Gazastreifen Süßes . Es ist eine weitere Bestätigung der
Regel, dass man bei Beginn eines Krieges oder einer Revolution nie
weiß, was dabei herauskommt.
Eine der Resultate der Operation war, dass das
Prestige und die Popularität von Hamas himmelhoch wuchs, während die
palästinensische Behörde von Mahmoud Abbas in neue Tiefen sank. Das
war ein Ergebnis, das der Westen unmöglich dulden konnte. Eine
Niederlage der „Moderaten“ und ein Sieg der islamistischen
„Extremisten“ war eine Katastrophe für Präsident Barack Obama und
das ganze westliche Lager. Es musste etwas gefunden werden - und
zwar dringend – um Abbas zu einem haushohen Erfolg zu verhelfen.
Zum Glück war Abbas schon auf dem Weg, eine
UN-Zustimmung für die Anerkennung Palästinas als einem „Staat“ (doch
noch nicht als volles Mitglied der Weltorganisation) zu bekommen.
Für Abbas war es ein Schritt der Verzweiflung, Plötzlich wurde er
eine Siegesfackel.
DER WETTBEWERB zwischen der Hamas- und der
Fatah-Bewegung wird als Katastrophe für die palästinensische Sache
gesehen. Aber es gibt auch eine andere Weise, dies zu sehen.
Gehen wir in unsere eigene Geschichte zurück. Während
der 30er und 40er-Jahre war unser Befreiungskampf (wie wir ihn
nannten) in zwei Lager gespalten, die einander mit wachsender
Intensität hassten.
Auf der einen Seite war die „offizielle“ Führung, von
David Ben Gurion geleitet, vertreten durch die „Jüdische Agentur“,
die mit der britischen Verwaltung kooperierte. Ihr militärischer Arm
war die Haganah, eine sehr große halb-offizielle Miliz, die von den
Briten toleriert wurde.
Auf der andern Seite war die Irgun ( „Nationale
militärische Organisation) , der bei weitem radikalere bewaffnete
Flügel der nationalistischen „revisionistischen“ Partei von Vladimir
Jabotinsky. Und diese teilte sich und eine noch radikalere
Organisation entstand. Die Britten nannten sie „Sternbande“.
Die Feindseligkeit zwischen diesen Organisationen war
intensiv. Eine Zeit lang kidnappten Haganah-Mitglieder Irgunkämpfer
und lieferten sie der britischen Polizei aus, die sie folterte und
in Lager nach Afrika schickte. Ein blutiger Bruderkrieg wurde nur
durch den Irgun-Führer Menachem Begin vermieden, der alle Racheakte
verbot. Im Gegensatz dazu sagten die Sternleute zur Haganah gerade
heraus, sie würden jeden erschießen, der ihre Mitglieder anzugreifen
versucht.
In der Rückschau können die beiden Seiten gesehen
werden, als wären sie die beiden Arme desselben Körpers. Der
„Terrorismus“ des Irgun und Stern unterstützte die Diplomatie der
zionistischen Führung. Die Diplomaten nützten die Errungenschaften
der Kämpfer aus. Um die wachsende Popularität der „Terroristen“
auszubalancieren , machten die Briten gegenüber Ben Gurion
Konzessionen. Einer meine Freunde nannte den Irgun „Die
Schießagentur der jüdischen Agentur“.
In gewisser Weise ist dies heute die Situation im
palästinensischen Lager.
SEIT JAHREN hat die israelische Regierung Abbas mit
den schlimmsten Konsequenzen gedroht, wenn er es wagen würde, zur UN
zu gehen: Das Oslo-Abkommen ungültig zu erklären und die
palästinensische Behörde zu zerstören, wäre das Minimum. Lieberman
nannte den Schritt „diplomatischen Terrorismus“.
Und nun? Nichts. Kein Paukenschlag und kaum ein
Zwinkern. Sogar Netanjahu versteht, dass die Operation Wolkensäule
eine Situation geschaffen hat, in der die Unterstützung der Welt für
Abbas unvermeidbar geworden ist.
Was tun? Nichts. Vorgeben, dass die ganze Sache ein
Scherz sei. Wer kümmert sich schon darum? Was ist die UN
eigentlich? Welchen Unterschied macht es?
Netanjahu ist mit etwas ganz anderem, das ihm in
dieser Woche widerfuhr, beschäftigt. Bei den Likud-Vorwahlen
wurden alle „Moderaten“ seiner Partei ohne Umstände hinausgeworfen.
Kein liberales demokratisches Alibi wurde zurückgelassen. Die
Likud-Beitenu-Fraktion wird in der nächsten Knesset ganz von
Extremisten des rechten Flügels zusammen gesetzt sein, unter ihnen
mehrere komplette Faschisten, Leute, die die Unabhängigkeit des
Obersten Gerichtshofes zerstören, die Westbank dicht mit Siedlungen
bedecken und den Frieden und einen palästinensischen Staat mit
allen nur möglichen Mitteln verhindern wollen.
Während Netanjahu sicher ist, die bevorstehenden
Wahlen zu gewinnen und weiter als Ministerpräsident zu dienen, ist
er klug genug , um nicht zu realisieren, wo er sich jetzt befindet:
als Geisel der Extremisten, die ihn wahrscheinlich aus seiner
eigenen Knessetfraktion hinauswerfen, wenn er nur etwas in Richtung
Frieden erwähnt, und ihn zu jeder Zeit durch Lieberman ersetzen.
AUF DEN ersten Blick hat sich nicht viel verändert.
Aber nur auf den ersten Blick.
Was ist geschehen: die Gründung des Staates
Palästina ist nun offiziell als Ziel der Weltgemeinschaft anerkannt
worden. Die „Zwei-Staatenlösung“ ist jetzt die einzig mögliche
Lösung. Die Ein-Staaten-Lösung, falls es sie je gegeben hat, ist
mausetot.
Natürlich ist der Apartheid-Staat Realität. Falls
sich von Grund auf nichts ändert, wird er tiefer und stärker
werden. Fast jeden Tag gibt es neue Nachrichten, dass er sich immer
weiter etabliert ( Das Bus-Monopol hat gerade angekündigt, von jetzt
an gebe es in Israel getrennte Busse für Westbank-Palästinenser.)
Aber das Streben nach Frieden, das sich auf die
Ko-Existenz Israels und Palästinas gründet, hat einen großen
Schritt gemacht. Einigkeit zwischen den Palästinensern sollte das
Nächste sein. Die US-Unterstützung für die aktuelle Errichtung des
Staates Palästina sollte bald danach kommen.
Das Starke muss zum Süßen führen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser …)