Alle Eier in einen Korb
Uri Avnery,
2.10. 2004
Vor etwa hundert
Jahren erfand der Geheimdienst des russischen Zaren die „Protokolle
der Weisen von Zion“. Die Autoren waren nicht einmal besonders
originell – sie nahmen eine Satire, die Jahrzehnte früher gegen
Napoleons III. Bestrebungen nach Weltmacht geschrieben worden war.
An die Stelle des französischen Kaisers wurden jüdische Rabbiner
gesetzt. Nach dem umgeschriebenen Dokument hätten sich die Juden
heimlich zusammengetan und ein Komplott geschmiedet. Die Tentakeln
dieser Verschwörung reichten überall hin.
Als diese
Fälschung verfasst wurde, hatte dies nichts mit der Wirklichkeit zu
tun. Im mächtigen Russland, das damals noch einen großen Teil Polens
mit einschloss, hatten Juden kaum Einfluss. Im Deutschen Reich (
zwischen 1870 und 1918) waren Juden tatsächlich auf verschiedenen
Gebieten herausragend: wie im Bankwesen, Handel und in der Presse –
aber sie waren von den wirklichen Machtzentren weit entfernt. Der
Kaiser hielt sie vom renommierten Offizierskorps und von der höheren
Ebene der Regierungsbürokratie fern. Wissenschaftlich herausragende
Juden konnten nicht damit rechnen, eine Dozentur an der Universität
zu erlangen.
In den USA
wurden einige Juden reich, aber sie konnten nicht in die höchsten
Ränge der Wirtschaft oder Gesellschaft aufsteigen.
Wie hohl die
Legende der jüdischen Macht wirklich war, wurde deutlich, als die
Nazis auf den Schwingen des Antisemitismus zur Macht kamen und die
europäische Judenheit auslöschten. US-amerikanischen und britischen
Juden gelang es nicht – und sie haben es tatsächlich auch nicht
ernsthaft versucht – ihre Regierungen dahin zu bringen, um ihre
Brüder in den KZs zu retten. Beide Regierungen fürchteten, der
Nazipropaganda Munition zu liefern, die behauptete, dass Roosevelt
und Churchill Handlanger der internationalen Judenheit seien.
Nach einem
Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erleben die „Weisen von Zion“ nun
auf der Weltbühne ein Comeback. Das Internet ist voll von
antisemitischen Botschaften, die das alte gefälschte Dokument den
gegenwärtigen Realitäten anpassen. Aber die ekelhaften alten Slogans
haben sich nicht im geringsten verändert.
Oberflächlich
betrachtet, haben es die Antisemiten mit ihrem Job jetzt sogar
leichter. Seitdem die „Protokolle“ ausgedacht waren, hat sich vieles
in der Welt verändert. Es stimmt, der Holocaust hat fast das ganze
europäische Judentum vernichtet, aber in seiner Folge entstand der
Staat Israel, der sich selbst als jüdischen Staat definiert. Und was
besonders wichtig ist, die jüdische Gemeinde in den USA hat ein
Ansehen erreicht, das nur mit dem Goldenen Zeitalter der Juden im
mittelalterlichen muslimischen Spanien vergleichbar ist.
In gewisser
Weise haben sich die Lügen der Protokolle von selbst erfüllt.
„Amerika kontrolliert die Welt“, sagen jetzt die Antisemiten, „und
die Juden kontrollieren Amerika.“
Um dies zu
belegen, weisen sie auf den Krieg im Irak hin. Es ist bekannt, dass
eine Gruppe von „Neo-Konservativen“ – fast alle sind Juden –
zentrale Machtpositionen in Washington besetzt halten und die
Invasion in den Irak vorangetrieben haben. Ein paar Jahre vorher
(1996) haben Mitglieder dieser Gruppe sich dem damaligen
Ministerpräsidenten von Israel Benyamin Netanyahu ( mit Erfolg) als
Ratgeber angeboten.
Den
Antisemiten zufolge haben diese Juden den USA den Krieg mit
erlogenen Argumenten aufgezwungen, um Israels gefährlichsten Feind
im Nahen Osten, den Irak, zu vernichten. Nun verabreden sie im
Geheimen, wie die beiden übrigen Feinde Israels, Syrien und der
Iran, zerstört werden können.
Auf den ersten
Blick – aber wirklich nur auf den ersten Blick – steckt in dieser
Behauptung einige Wahrheit. Die Neo-Konservativen glauben
tatsächlich, dass die Interessen der USA und die Israels
übereinstimmen, und sie drängen in der Tat zu diesem Krieg. Aber ein
Tausend Neo-Konservativer - wie Wolfowitz und Perle - würden dies
ohne den Einfluss einer anderen Gruppe in Washington nicht
gelingen, die viel mächtiger und weniger sichtbar ist: die
Öl-Magnaten.
Die
Bush-Familie und der Vizepräsident Dick Cheney vertreten die
Interessen dieser Gruppe. Hinter ihnen ragt die gewaltige Macht der
Öl-Gesellschaften, in denen Juden kaum eine Rolle spielen. Das Ziel
dieser Gesellschaften war es, nicht nur die großen Ölreserven des
Irak selbst zu übernehmen, sondern eine permanente US-militärische
und politische Basis zwischen den gewaltigen Ölreserven des
Kaspischen Meeres im Norden und dem persisch-arabischen Golf im
Süden einzurichten. Sie behaupten, dies sei notwendig, um die
US-amerikanische Vorherrschaft in einer Welt abzusichern, in der Öl,
eine schwindende Ressource, von fundamentaler Bedeutung für die
ganze industrialisierte Wirtschaft ist.
Die
Neo-Konservativen lieferten nur die Ideologie und die moralische
Rechtfertigung für den Krieg. Man könnte fast sagen, dass dies der
traditionelle Job ist, der den Juden zugewiesen wird.
Es ist für
Antisemiten einfach, jüdische Namen in der US-amerikanischen
Regierung aufzulisten. Wie in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg,
während der Weimarer Republik, sind amerikanische Juden führend in
der Regierung, Wirtschaft, in den Medien, der Justiz und in den
Naturwissenschaften vertreten. Die jüdische Lobby prahlt offen (
vielleicht zu offen), sie sei in der Lage, jeden Senator,
Kongressmann oder jede Kongressfrau zu stürzen, der/ die Israel
kritisiert. Sie hat dazu genügend Beweise gegeben. Jemand sagte,
wenn AIPAC, die pro-israelisch jüdische Lobby, dem Kongress eine
Resolution unterbreiten würde, die die 10 Gebote für ungültig
erklärt, dann würden 80 Senatoren und 400 Kongressleute diese am
ersten Tag unterschreiben.
Die Situation
ist besonders eklatant, so weit es den israelisch-palästinensischen
Konflikt betrifft. Während der Amtszeit von Präsident Bill Clinton
war fast das ganze Team, das sich mit diesem Problem befasste, mit
Juden besetzt. Ihre Konferenzen mit israelischen Politikern hätten
leicht auf jiddisch geführt werden können. Mit dem Antritt von
George Bush fand ein fundamentaler Wechsel statt: die liberalen
Juden im Team wurden durch konservative ausgetauscht. Auch jetzt
sind fast alle in der amerikanischen Regierung, die sich mit dem
Nahen Osten beschäftigen, Juden.
Antisemitische
Veröffentlichungen betonen diese Fakten, die als solche wahr sind,
um zu beweisen, die Juden kontrollieren die Welt. Aber die Realität
ist bei weitem komplexer.
Es stimmt, die
jüdische Lobby ist groß und stark, aber da gibt es andere, die
gleich stark oder stärker sind. Man kann die American Rifle
Association ( die Waffenbesitzer) nennen, die Lobbys der Ärzte und
Gerichtsanwälte und andere; und auf der politischen Ebene die noch
mächtigeren evangelikalen Christen. Sehr zum Verdruss der
Antisemiten, hat diese Lobby sich Israel vollkommen verschrieben.
Die evangelikalen Christen, besonders in den USA und England, haben
den modernen Zionismus, lange bevor Theodor Herzl und seine
Kollegen diese Idee aufgriffen, erfunden.
Die
amerikanisch jüdische Gemeinschaft ist stolz auf ihren großen
Einfluss. Das ist verständlich, wenn man daran denkt, dass vor nur
zwei Generationen Juden zu bedeutenden Clubs nicht zugelassen
wurden. ( Worauf der jüdische Schauspieler Groucho Marx witzelte:
„Ich werden keinem Club beitreten, der bereit ist, mich
aufzunehmen!“) Ihr erstaunlicher Aufstieg kam durch harte Arbeit,
Organisationstalent und die Bereitschaft, Geld zu spenden.
Aber jeder,
der über jüdische Geschichte nachdenkt, hält es für möglich, dass –
wie ein jiddisches Sprichwort es ausdrückt: („Die Kalle ist zu shein!“)
– „die Braut zu schön ist!“ Nach dem Goldenen Zeitalter wurden alle
Juden aus Spanien vertrieben. Nach einem glänzenden Erfolg der Juden
in Deutschland kamen die Nazis an die Macht. Heute sind die
Antisemiten in den USA zwar eine lautstarke, aber verachtete
Randgruppe – aber es wäre ein Fehler, die Gefahr zu ignorieren.
Was könnte
z.B. geschehen, wenn die USA immer tiefer in den mörderischen Sumpf
des Irak versänke und in die Situation einer nationalen Katastrophe
gerate. Dann beginnt die Suche nach dem Sündenbock – und die
jüdischen Neo-Konservativen bieten sich direkt an.
Was wird
geschehen, wenn die Amerikaner anfangen, nach den Ursachen des
Terrorismus islamischer Fanatiker zu fragen. Wird es dann vielleicht
einige geben, die behaupten, die Amerikaner seien nur wegen Israel
in den „Zusammenprall der Zivilisationen“ mit der islamischen Welt
geraten?
Und wenn die
USA in eine wirklich tiefe wirtschaftliche Depression fällt, werden
dann nicht jüdische Namen – wie die des Chefs der Federal Reserve –
genannt werden?
Man sollte
diese Gefahren nicht übertreiben. Im Augenblick sind sie kaum am
Horizont auszumachen. Aber ich würde den Führern jüdischer
Organisationen in den USA raten, etwas mehr Zurückhaltung zu üben.
Machtrausch kann leicht zu gefährlichen Exzessen führen. Und ich
würde auch der israelischen Regierung raten, nicht alle ihre Eier
in einen Korb zu legen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |